Archiv für den Monat: Januar 2017

Das blühende Leben

paladino music, pmr0074; EAN: 9120040730741

Dimitri Ashkenazy spielt Klarinettenwerke von Jean Françaix. Gemeinsam mit dem Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller bietet er das Klarinettenkonzert dar, mit der Pianistin Yvonne Lang Tema con variazioni, und mit Ada Meinich und Bernd Glemser das Trio für Klarinette, Viola und Klavier.

Nach wie vor wird der französische Komponist Jean Françaix (1912-97) vor allem von den Bläsern aktiv wahrgenommen, gerne im Konzert gespielt und aufgenommen. Auch knapp zwanzig Jahre nach seinem Ableben ebbt dies nicht ab, was auch nicht verwundern mag, schließlich ist seine Musik kontinuierlich von überragender Qualität und Inspiration. Diese Musik ist das blühende Leben: Leicht, aufgeweckt, in stetiger Frische und mit aufmerksamer Seele – beinahe ein wenig unbekümmert. Der Hörer kann sich leicht hineinhören in diese bei allen Schwierigkeiten so unkomplexe Musik, die mit ihrer Beschwingtheit bezaubert.

Mit seinem unverkennbarem Klang meistert Dimitri Ashkenazy die Klarinettenwerke, besticht durchweg mit Souveränität, verströmt Ruhe und Gelassenheit. Gerade im Konzert gibt er sich scherzend und verspielt, lässt zugleich allerdings auch nie die innere Kontrolle los. Von Willkür kann hier nicht die Rede sein, alles ist bewusst und reflektiert. Leichtfällig rieseln die Töne und formen eine nicht enden wollende Melodie.

Den gleichen unbeschwerten Gestus macht sich das Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller zu eigen. Die vorliegende Aufnahme erschien übrigens bereits 1995 mit anderen Werken zusammen und wurde vom Komponisten damals sehr positiv aufgenommen – was auch nachvollziehbar ist angesichts der Brillanz und Durchsichtigkeit des Orchesterapparats, in den sich die Klarinette so wunderbar einfügen, mit dem sie zu einer Einheit verschmelzen kann. Was allerdings ein wenig fehlt, sind Kompaktheit, Dichte und Tiefe im Spiels – es wirkt streckenweise etwas dissoziiert.

Im Trio sticht Dimitri Ashkenazy deutlich hervor, seine beiden Mitstreiter haben nicht die selbe Souveränität und nicht die Gegenwärtigkeit im musikalischen Geschehen wie der Klarinettist. Ada Meinich an der Viola wirkt oft hektisch und ohne innere Ruhe, die den Hörer erst teilhaben ließe an den üppig detaillierten Strukturen. Bernd Glemser hat einen angenehm weichen Anschlag, nivelliert leider stellenweise die Wirkung durch monochrome Färbung, durch endlose Gleichförmigkeit und neutrales Notenlesen statt musikalischen Gestaltens. Farbenfroher zeigt sich Yvonne Lang im Duett, wenngleich hier ihre extrem kurzen Staccati stören, wodurch auch die Akkorde nicht wirklich ausgehört sein können. Brillieren kann Lang hingegen an Legato-Stellen, die sehr lebendig phrasiert erklingen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Karl Richter – die Legende lebt weiter

Profil Edition Günter Haenssler 31 CDs PH 16010; EAN: 881488160109

Karl Richter spielt und dirigiert
Schütz: Musikalische Exequien; A. Scarlatti: Su le sponde del Tebro (Stader); J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 1-6, Orchestersuiten Nr. 1-4, Musikalisches Opfer, 4 Cembalokonzerte, Orgelwerke BWV 565, 639, 582, 645, 542, 650, 606, 538 und 548, Sonaten für Flöte und Cembalo BWV 1030 und 1031, Goldberg-Variationen, Partiten Nr. 1-6 für Cembalo, Magnificat, Matthäus-Passion, Messe h-moll, Weihnachts-Oratorium, Kantaten BWV 78, 67, 108, 127, 79, 4, 45, 51, 8, 55 und 147; G. F. Händel: 12 Orgelkonzerte opp. 4 & 7, 5. Cembalo-Suite, Chaconne G-Dur für Cembalo, Arien aus Xerxes, Giulio Cesare und Samson (Haefliger), Arien aus Messias und Josua (Stader); C. P. E. Bach: Sonate g-moll für Flöte und Cembalo; Gluck: Reigen der seligen Geister aus Orfeo ed Euridice; Haydn: Symphonien Nr. 94 und 101, FlötenkonzertD-Dur, Arien aus ‚Die Schöpfung’ und ‚Die Jahreszeiten’ (Stader); Mozart: Requiem, Flötenkonzerte KV 313 & 314, Andante für Flöte und Orchester KV 315, Konzert für Flöte und Harfe KV 299; Mendelssohn: ‚Höre, Israel’ aus ‚Elias’ (Stader)

Der Plauener Karl Richter (1926-81), in Leipzig Schüler von Karl Straube und Günther Ramin und damit Erbe der großen deutschen Bach- und Orgeltradition, wurde bald nach seinem Amtsantritt an der Münchner Markus-Kirche zum vergötterten Bach-Exegeten in der bayerischen Landeshauptstadt. Sein Tod nach einem Herzanfall hinterließ eine trauernde Gemeinde, die lange brauchen sollte, um wieder in andere Bach-Gralshüter einigermaßen vertrauen zu können. Bis heute konnte sein Verlust in München nicht ersetzt werden. Richter was bekannt als kräftig dem Alkohol zusprechender Mann, der seine Gesundheit nicht schonte. Als Musiker schöpfte er stets aus dem Vollen, was ihm posthum den Ruf eintrug, Bach „hoffnungslos romantisiert“ zu haben. Diese üble Nachrede kann nach dem Hören der vorliegenden Anthologie nicht bestätigt werden. Vielmehr wird er hier als natürlicher, leidenschaftlicher Musikant erlebbar, dem spätere ‚Bachisten’ des süddeutschen Raums wie Helmuth Rilling nicht annähernd das Wasser reichen konnten. Richter ging vollkommen in den Partituren auf, auch wenn es übertrieben wäre, ihn als Meister der Verfeinerung der Phrasierung und Transparenz zu bezeichnen. Nein, er war vor allem ein Emphatiker, mit einer Neigung zum Pathetischen, das er mit einer sachlich musikantisch geschulten Ader im Zaum hielt. Als Instrumentalist erscheint er mir insbesondere an der Orgel bedeutend, sowohl in den Bach’schen Solowerken (man höre die c-moll-Passacaglia, die mit gravitätischem Momentum hypnotisiert) als in den Orgelkonzerten Händels, wo wir ihm die vielleicht bis heute glänzendste, würdevollste Gesamteinspielung verdanken. Da konnte er sich anscheinend noch bedingungsloser in die Musik versenken als wenn er am Pult stand. Die Brandenburgischen Konzerte und Orchester-Suiten Bachs sind durchwachsener in der Qualität und manchmal etwas schwerfällig, aber stets blutvoll und glutvoll. In den Cembalokonzerten Bachs muss ich gestehen, dass es einige wunderbare Aufnahmen mit modernem Klavier gibt (vor allem Murray Perahia), die diese rein klanglich authentischere Ausführungsweise nun doch sehr monochrom und gleichförmig erscheinen lassen.

Eine ganz besondere Freude ist es (und ich weise den Vorwurf prophylaktisch ab, dass es sich hier um meinen Landsmann handelt…), den großen Flötisten Aurèle Nicolet wieder zu hören, mit seiner fast etwas nervösen, jedenfalls alles andere als glatten Tongebung und von Leben durchpulsten Phrasierung und Artikulation: in den Flötenkonzerten und dem Doppelkonzert mit Harfe von Mozart, in Haydns D-Dur-Konzert und Glucks idylischem ‚Reigen der seligen Geister’, im Duo mit Richter in Sonaten von Bach Vater und Sohn, im Musikalischen Opfer – da lebt ein feinnerviger Geist wieder auf, wie ihn dieses doch so viel gespielte Instrument nicht wieder erleben durfte. Zeitlos bezaubernd!

Richter ist hier als Dirigent ein besonnener, diskreter, aber auch durchaus kraftvoller, weniger jedoch subtiler Begleiter. Auch seine Haydn-Symphonien sind absolut in Ordnung, echt und mit Wärme, ohne Extravaganzen, aber auch etwas füllig und schwer. Jedoch kennen wir aus jener Zeit viel schwerfälligere und innerlich unbeteiligtere Darbietungen, und „romantischere“ sowieso. Eine ganz besondere Freude ist es, die wunderbare oratorische Sopranistin Maria Stader zu hören, die damals die große Favoritin vieler Dirigenten war – sowohl mit geistlichen Arien von Alessando Scarlatti, Händel, Haydn und Mendelssohn als auch in Mozarts Requiem und der h-moll-Messe und Kantaten Bachs. Eine pure, sternenklare Stimme, unprätentiös und gradlinig schön. Viele weitere übliche Verdächtige jener Epoche tauchen auf: die Sänger Ernst Haefliger, Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Gerd Lutze, Antonia Fahberg, Kieth Engen, Max Proebstl usw., die Geiger Otto Büchner, Friedrich Wührer und Fritz Sonnleitner, der Flötist Paul Meisen, der Obosit Edgar Shann, die Trompeter Adolf Scherbaum und Georg Donderer, die Harfenistin Rose Stein und die Organistin Hedwig Bilgram, und viele weitere. Auch der Heinrich-Schütz-Kreis, den Richter ab 1951 leitete, ist zu hören mit Schütz’ deutscher Totenmesse ‚Musikalische Exequien’, mit welcher Sergiu Celibidache viereinhalb Jahre nach Karl Richters Tod die ungeliebte Münchner Philharmonie am Gasteig höchst unorthodox einweihen sollte . damit nun kann man Richters Schütz gar nicht vergleichen, gegenüber solcher Transzendenz bleibt es so hausbacken, wie es auch sonst üblich ist. Bleiben die großen Bach-Werke: Messe h-moll, Matthäus-Passion, Weihnachts-Oratorium – und hier kann jeder eintauchen in die Welt, die vor einem halben Jahrhundert Gegenwart und für viele Konzertgänger das Höchste war: eine erhebende, erhabene Angelegenheit, nicht allzu differenziert, aber leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen Nüchternheit vorgetragen, immer intensiv und aus dem Vollen geschöpft.

Die einzige betrübliche Sache ist das Booklet der vorliegenden 31-CD-Box. Nicht nur, dass es spartanischer eigentlich nicht geht und ich mich frage, ob man wirklich so schwäbisch sparen musste – vor allem enttäuscht die Lieblosigkeit der Redaktion, die so viele grobe Fehler und Lücken entstehen ließ. So ist die Solistin in Mozarts Doppelkonzert nicht erwähnt (Rose Stein an der Harfe), und es fehlen die Solistennamen in den Brandenburgischen Konzerten (u. a. Meisen, Scherbaum, Wührer und Richter selbst) und sogar in der h-moll-Messe (Stader, Töpper, Fischer-Dieskau und Engen). Auch sind die Aufnahmen nicht datiert, dass man – wüsste man es nicht besser – fast glauben könnte, es handele sich um eine Raubpressung. Immerhin, der kundige Text über Richter (der einzige Text im Beiheft) von Lothar Brandt bessert den Gesamteindruck dann doch noch etwas auf. Mehr Respekt vor der Lebensleistung eines solchen Mannes hätte den Produzenten wohl angestanden. Der Hörer kann sich jedoch auch so erlaben, sollte aber meine Rezension lesen, um zu wissen, wer da singt und spielt, wo nichts vermerkt ist… Die Legende Karl Richter lebt all dessen ungeachtet weiter.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2017]

Die Klarinett’, die Klarinett’…

Paul Hindemith (1895-1963) Klarinetten-Konzert (1947); Jan Van der Roost (*1956) Klarinetten-Konzert ; Richard Strauss (1864-1949) Romanze in Es für Klarinette und Orchester

Eddy Vanoosthuyse, Klarinette; Central Aichi Symphonie Orchester; Sergio Rosales, Dirigent

Naxos 8.579010; 7 47313 90107 4

Von allen Holzblasinstrumenten ist die Klarinette schon seit langem mein Favorit, und das nicht nur wegen Giora Feidman. Das große Konzerte von Hindemith von 1947, zu dem damals Benny Goodman den Auftrag gab, und das  jüngere von Van der Roost, das dem auf vorliegender CD spielenden Solisten gewidmet ist, dazu eine Komposition des 15 Jahre alten Richard Strauss: wahrlich ein volles Programm.

Sowohl Solist als auch Orchester bringen zu Beginn eine Musik zu Gehör, die alle faszinierenden Seiten des Instruments voll Kraft und Spielfreude darstellt. Das viersätzige Werk von Hindemith spart nicht mit polyphonen Strukturen, die an einigen Stellen im Orchester noch klarer artikuliert werden könnten, aber im großen Ganzen ist die Musik auf der Höhe  des damals längst nicht mehr Bürgerschreck sein wollenden Komponisten. Sein Erfindungs-Reichtum in melodischer wie auch harmonischer Hinsicht ist unerschöpflich, und Eddy Vanoosthuyse legt eine herrlich zündende und feinsinnige Aufführung hin..

Das zweisätzige Konzert vom belgischen Komponisten Jan Van der Roost – der vor allem für Blechbläser ein reiches Œuvre vorzuweisen hat – ist dem Solisten gewidmet und beginnt mit einem langsamen Satz, der vor allem die gesanglichen und melancholischen Seiten der Klarinette hervorhebt. Während im zweiten Satz- giocoso e con bravura – alles an Möglichkeiten dieses singen, lachen und weinen könnenden Instruments effektvoll zur Geltung kommt. Der Solist ist in allen Registern gefordert. Das Orchester ist ihm adäquater Begleiter, farbig und rhythmisch breitet es dem Solisten das nötige „Silbertablett“ aus. Die  durchaus freitonale, aber nicht atonale Musik überzeugt in ihrer Klangsinnlichkeit nicht nur des Soloparts sondern auch im Orchestersatz.

Natürlich ist dem damals erst 15 Jahre alten Richard Strauss mit „seiner“ Romanze für Klarinette und Orchester bereits ein Meisterstück gelungen, das anzuhören einfach schön ist. Sowohl die dankbare Behandlung der Solostimme, die auch ein wenig an Weber erinnert, als auch der farbige Orchestersatz lassen den künftigen Meister-Komponisten erkennen.

Fazit: Eine gelungene Neuerscheinung mit einer überzeugenden Zusammenstellung und einem vortrefflichen Solisten aus dem Hause NAXOS.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Authentizität eines ganzen Kontinents

Entre Mundos in der Münchner Unterfahrt

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Copyright Bruno Hilz

Am Samstag, den 21. Januar, gastierte das Quartett des Entre Mundos Projekts in der Unterfahrt, der tradierten Münchner Jazz-Location im Einstein Kulturzentrum, mit feinsinnigen und exzellent ausgeführten Arrangements von Folklore aus Chile, Peru, Brasilien, Argentinien, Cuba und Kolumbien – also einer Reise durch die vier Hauptströmungen der lateinamerikanischen Musik: brasilianisch, karibisch, Tango und Andenmusik.

Copyright: YCM

 

Unter den vielen lateinamerikanischen Bands in Deutschland, die einen authentischen Bezug zur heimischen Folklore haben, nehmen Entre Mundos seit einigen Jahren eine Sonderstellung ein, die sie nicht nur ihrem exquisiten Niveau verdanken, sondern auch der Vielseitigkeit der Stile, in denen sie zuhause sind. Bisher kannten wir Entre Mundos als Trio, bestehend aus der chilenischen Sängerin Cristina Gálvez, die in ihrer Heimat zu den führenden Jazzsängerinnen zählt und heute in Oberbayern lebt; dem peruanischen Pianisten Juan José Chuquisengo, der geradezu als Synonym für musikalische Grenzenlosigkeit gelten darf – Chuquisengo hat zwei legendäre CDs für Sony Classical aufgenommen (Ravel und ‚Transcendent Journey’), die ihn, in vieler Hinsicht Dinu Lipatti und Murray Perahia verwandt, als einen der großen einsamen Meister der Verinnerlichung ausweisen, und sein Stilspektrum in der Weltmusik reicht weit über Lateinamerika und Europa hinaus; und sein Landsmann Augusto Aguilar, ein vor Vitalität, Freude und Humor überbordender Allround-Musiker, der uns mit Oboe, Cajón, Saxophon, Gitarre und Gesang gleichermaßen zu fesseln versteht und bei Bedarf stets im Handumdrehen die Stimmung aus dem Meditativen auf den Siedepunkt zu treiben versteht. Nun ist in der Unterfahrt erstmals ein weiterer Musiker hinzugetreten: der Grieche Christos Asonitis, der sich in den letzten Jahren als einer der besten Münchner Jazz-Schlagzeuger etablieren konnte und auch immer nach stilistischer Erweiterung bestrebt ist.

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Copyright Bruno Hilz

Asonitis hatte also einen erheblich vergrößerten Perkussions-Apparat um sich herum aufgebaut, ergänzt um das Latin-Spektrum, und es ist wirklich respekteinflößend, wie schnell er sich als einziger Europäer die für ihn teils neuen Tanzidiome angeeignet hat. Das Spektrum von Entre Mundos ist sehr weit, und ganz besonders faszinierend war es, als die afro-südamerikanische Welt von Aguilars narrativ pulsierendem Cajón-Spiel und das raffinierte Schlagzeugspiel von Asonitis gemeinsam ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten und sich gegenseitig befruchteten. Cristina Gálvez führte höchst charmant durch das Programm, mit Humor und Selbstironie, darin vortrefflich unvorhersehbar ergänzt von Augusto Aguilar, der immer die Lacher auf seiner Seite haben wird. Cristina Gálvez hat eine in der Höhe leuchtende, in der tiefen Mittellage ganz besonders kernig ausdrucksvolle Stimme, der man gerne ein Konzert lang folgt (zwei reine Instrumentalstücke sorgten zugleich für zusätzliche Abwechslung) und die in ihrer im schönen Sinne leicht herben und sehr ausdrucksstarken Art in Erinnerung bleibt. Juan José Chuquisengo ist zwar ein berühmter Solist, hier jedoch ein vollendeter Teamplayer, der sich über weite Stecken so vollendet einpasst, dass man seine Anwesenheit glatt übersehen könnte, würde er nicht in feinst abgestufter und abgetönter Gestaltung am laufenden Band subtile pianistische Wunder vollbringen. Augusto Aguilar verkörpert am unmittelbarsten den Typus des mit allen Wassern gewaschenen Routiniers im besten, spontanen Sinne, mit einer immer fesselnden physischen Präsenz und auf allen Instrumenten, mit denen er sich einbringt, bestens zuhause. Und Christos Asonitis verleiht dem Schlagzeugapparat eine Vielseitigkeit, wie man sie nicht oft hört. Mag im ersten Stück des Abends der eine oder andere noch ein bisschen ‚warming up’ gespürt haben, so war das Quartett schnell vollendet in Fahrt und wartete mit immer unwiderstehlicher mitreißendem Groove auf – in den flinken, unübertrefflich eleganten Stücken, wie sie fürs brasilianische Repertoire so bezeichnend, aber auch im kolumbianischen zu finden sind, ebenso wie in den innigen, wehmütigen Nummern aus Argentinien, Chile, Peru oder Cuba. Peruanische Walzer mögen in Lateinamerika populär sein – wir Europäer kennen so etwas meist noch gar nicht und dürfen es hier in zauberhaftester Weise kennenlernen. Die farbenprächtige Authentizität eines ganzen Kontinents, den die Demütigung durch die christlichen Kolonisatoren eint, kommt in ihrer unerschöpflichen Fülle zur Entfaltung. Was auch immer von den vieren angefasst wird, entfaltet suggestive Authentizität und lässt das Publikum nicht mehr los. Kein Wunder, dass dieses dann auch am Ende nicht mehr nach Hause gehen will.

Neben der musikalischen Seite ist die menschliche besonders bemerkenswert: so ernsthaft, freudig, feurig, brillant und souverän die vier Musiker agieren, so ist nicht ein Anflug von Prätention bei ihnen festzustellen, und auch keine oberflächliche Euphorie. Die Professionalität wurde nicht um den Preis der Spontaneität und Lebendigkeit errungen, und das Zuhören hat sowohl eine animierende als auch eine erfüllende, sowohl eine erdende als auch eine erhebende Wirkung auf das Publikum. Besseres lässt sich von einem Konzertabend nicht sagen.

[Ernst Richter, Januar 2017]

Savonarola und die Musik: Scattered Ashes

Savonarola und die Musik: Scattered Ashes
Josquin’s Miserere & The Savonarolan Legacy
MAGNIFICAT, dirigiert von PHILIP CAVE

Linn Records, CKD 517

Giramolo Savonarola (1452-98) war mir bisher nur als Religionskritiker ein Begriff, der die Verbreitung seiner Ideen mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen büßen musste. Dass er aber eine ganze Reihe von Texten – außer seinen Predigten – hinterlassen hat und bis zuletzt Texte wie das vorliegende Miserere verfasste, war mir neu. Und dass diese Texte sich in ganz Europa in Windeseile verbreiteten und von vielen zeitgenössischen Komponisten – aber auch in späteren Jahrhunderten – vertont wurden, das wirft sowohl auf den Text und seinen Verfasser als auch auf die Komponisten der damaligen Zeit ein völlig neues und sehr auf- und anregendes Licht.

Zumal mit einem Ensemble wie dem 1991 von seinem Leiter Philipp Cave gegründeten Chorensemble „Magnificat“, das sich die Restaurierung und Wiederaufführung  vergessener chorischer Meisterwerke aus Reformation und später Renaissance zur Aufgabe gemacht hat. Das Booklet gibt über den Chor, seinen Leiter, die Mitwirkenden und natürlich über die Texte und geschichtliche Hintergründe erschöpfend Auskunft, wenn auch nur auf Englisch.

Was diese Gruppe an Musik überzeugend gestaltet und wiederbelebt, ist beispielhaft und braucht den Vergleich mit anderen Ensembles wahrlich nicht zu scheuen. Die Ausgewogenheit der Stimmen, die Phrasierung, die Darstellung vertracktester polyphoner Strukturen, die Textverständlichkeit  und natürlich überhaupt der Klang von „Magnificat“ sind so, dass mich diese Musik in einen Bann zieht, der so manches andere an „musica antiqua“ verblassen lässt. Besonders beeindruckt hat mich die große Ruhe, mit der jede einzelne Komposition gestaltet und dargestellt wird, ob sie vom Titelgeber Josquin des Prez (1450/55-1521) oder von den anderen Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-94), Claude Le Jeune (1528-1600), Orlando di Lasso (1532-1594), Jean Lhéritier ( 1480?-1551?), Nicolas Gombert (1495?-1560), Jacobus Clemens non Papa (1510/15-1555/56) und William Byrd (1543-1623) stammt.  Sicher hat daran der Leiter des Ensembles einen besonders großen Anteil, denn wie das Programmheft beschreibt, scheint er ein „Besessener“ zu sein, dessen großes Engagement sich offenkundig auf alle Sängerinnen und Sänger übertragen hat.

(Noch dazu, dass in der damaligen Zeit die Menschen sich ihrer Ausrichtung bewusst waren, zu „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ – oben wohnt „der liebe Gott“ und unten „der Teufel“ und wir als Menschen eben dazwischen eingespannt oder eingesperrt ad libitum.)
Natürlich wäre ohne Savonarola und Jan Hus mit ihren Schicksalen einige Jahrzehnte später ein Mann wie Martin Luther nicht denkbar gewesen, auch wenn ihm glücklicherweise der Scheiterhaufen erspart blieb.

Die Kompositionen auf dieser CD unterstreichen, dass Savonarolas Ideen und Texte eben keine Eintagsfliegen geblieben sind, sondern eine weiter reichende Wirkung hatten, allen Widerständen zum Trotz.

Eine CD, die neue Maßstäbe im Bereich der Chormusik setzt, besonders auf dem Gebiet der „Alten Musik“, und das ist höchst erfreulich.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Sousa classics – Classical Sousa

Music for Wind Bands Vol. 12 – John Philip Sousa (1854-1932)
The Royal Swedish Navy Band  – Keith Brion

Naxos American Classics 8.559691; EAN: 6 36943 96912 0

Wer auf gute Blasmusik steht, kommt an den Stücken von John Philip Sousa nicht vorbei, vor allem dann nicht, wenn diese „Gassenhauer“ der Blasmusik so gut und temperamentvoll vorgetragen werden wie auf dieser Scheibe. Die Schwedische Königliche Marine-Band unter ihrem englischen Dirigenten Keith Brion legt da los mit „erhörbarem“ Schwung und Elan, dass es eine wahre Wonne ist.

Natürlich sind die Stücke, deren Entstehungszeit von 1876 bis ins Jahr 1924 reicht, einfacher Tonalität vom ersten bis zum letzten Ton verpflichtet, aber es wird dadurch nie langweilig oder eintönig. Einiges kommt als Suite daher: „Maidens Three“ oder „Leaves From My Notebook“ – besonders berühmt war ihr Schöpfer allerdings für seine unerschöpflichen Einfälle an Märschen zu diesem oder jenem Anlass, an denen es dem Leiter mehrerer Militär-Kapellen nie mangelte. Daher auch sein Beiname „The March King“. Auch als Verwerter anderer Komponisten wie Gilbert & Sullivan, deren Melodien in einigen seiner Märsche sich wiederfinden, oder als Komponist zu feierlichen Staatsbegräbnissen fungierte er. Er war sozusagen der Johann Strauß jr. der amerikanischen Marschmusik.

Dem Liebhaber besonders fein ausgearbeiteter und auch besonders delikat gespielter amerikanische Blasmusik wird diese CD aus der Reihe „American Classics“ von Naxos hochwillkommen sein.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Historisch nicht hysterisch

Johann Sebastian Bach (1685-1750): Dialog-Kantaten
Ach Gott, wie manches Herzeleid BWV 58; Liebster Jesu, mein Verlangen BWV 32; Concerto für Oboe d’amore & Orchester BWV 1055R; Selig ist der Mann BWV 57

Hana Blaziková, Sopran; Dominik Wörner, Bass; Kirchheimer BachConsort; Alfredo Bernardini, Oboe, Oboe d’amore und Leitung

Cpo 555 068-2; EAN: 7 61203 50682 8

Bei dieser CD stimmt alles, das Tempo – gemessen und nie überhastet –, der Klang, die Phrasierung, die Stimmen, das Timbre, kurz: eine Entdeckung. Besonders das Konzert für Oboe d’amore und Orchester BWV 1055R ist ein echter Fund, aber auch die Dialog-Kantaten bereichern das Repertoire. Bei Bach –wie das kürzlich erschienene Buch von John Eliot Gardiner mit dem Titel „Bach – Musik für die Himmelsburg“ zeigt – gibt es immer wieder und immer noch Ungeheuerliches zu entdecken. Besonders das Verhältnis vom Text zur Musik ist in seiner ganzen Tiefe noch längst nicht ausgelotet. Aber auch bei den Instrumental-Stücken, wie das vorliegende Beispiel zeigt, ist noch Luft für Neues, Unerhörtes. Alfredo Bernardini leitet nicht nur gelassen und überzeugend begleitend die Kantaten, sondern ist auch als Solist auf der Oboe in allen Bereichen kompetent und vom Klang her – hin und wieder erinnert die Oboe d’amore fast an ein Cello – sehr gültig und beeindruckend.

Über Weiteres gibt das – wie bei CPO fast immer – umfassend informierende Booklet Auskunft. Mein Fazit ist also, dass diese CD ein überzeugender Treffer ist und das Bach’sche Œuvre auf CD erfreulich bereichert.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Sterile Wiener Klassik

Querstand, VKJK1619; EAN: 4 025796 016192

Norbert Anger spielte gemeinsam mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny die beiden Cellokonzerte Joseph Haydns (C-Dur Hob. VIIB:1 und D-Dur Hob. VIIB:2) ein. Zudem gibt es ein Konzert D-Dur für Violoncello und Orchester nach Mozarts Konzert für Horn Es-Dur KV 447 zu hören, eine Bearbeitung von Gaspar Cassadó.

Zwei herrliche Cellokonzerte schenkte uns Haydn, beide heute wohlbekannt und ins Standardrepertoire der Cellisten aufgenommen – im Gegensatz zu den Violin- und Klavierkonzerten (wobei von Letzteren die meisten vermutlich nicht von Haydn selbst stammen). Mozart bedachte das Violoncello nicht mit einem Solokonzert, was seit jeher alle Cellisten zutiefst bedauern. Der spanische Virtuose Gaspar Cassadó schuf Abhilfe, indem er das Hornkonzert Es-Dur KV 447 für sein Instrument bearbeitete, wobei er sich kompositorische Freiheiten gönnte und nicht zuletzt die Tonart ins für Streicher dankbarere D-Dur transponierte.

Technisch makellos gibt sich die Aufnahme dieser Konzerte von Norbert Anger mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny. Doch klingt alles steril, ohne Lebendigkeit oder Freiheit, beinahe museumsreif aufdrapiert. Zum einen trägt eine recht trockene Aufnahmetechnik dazu bei (obgleich die Aufnahme in einem großen Raum, der Lukaskirche Dresden, und nicht in einem Studio entstand), zum anderen – und dies ist wesentlich folgenschwerer – die uninspirierte Darbietung. Die Musik wird mit Banalitäten gespickt wiedergegeben, dabei werden die träumerischen Melodien unzusammenhängend abgehackt, so dass kleine aneinandergereihte Fetzen anstelle einer sinnfälligen Linie herumgeistern. Allgemein mangelt es an dynamischen Kontrasten und musikalischer Ausgestaltung – alles findet in einer monotonen Komfortzone statt, harmonische Feinheiten bleiben dabei außen vor. Der Solist zeigt zumindest Ansätze, einmal etwas musikalisch aus der Gleichförmigkeit auszubrechen, wird jedoch sogleich vom Orchester in die Schranken gewiesen. Von dem lebensbejahenden Frohsinn, von der sprühenden Vitalität dieser Musik ist kaum etwas zu erahnen. Um zumindest noch etwas Leben hinein zu interpretieren, werden die Tempi der Randsätze hastig überzogen, was allerdings zur Folge hat, dass gerade in den rasenden Schlusssätzen viele subtile Details im hochgepeitschten Spielrausch verloren gehen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Philosophengespräche

Fidelitas, Pegasus, FR 16.001; EAN: 9 783944 256009

 

Jens Oberheide stellt ein Gespräch zwischen Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing nach, das resultierende Hörspiel wird gelesen von Gerhard Fehn und Ferenc Husta, musikalische Untermalung bietet Franck Adrian Holzkamp mit eigenen Werken.

Eine etwas andere CD fiel mir in die Hände, mehr Hörspiel als Musik, doch ist es schon immer ein wichtiges Ziel von The New Listener gewesen, jederzeit gerne über den Tellerrand hinaus die Fühler auszustrecken (andere und ausgefallenere Artikel werden folgen!), und so hat auch vorliegende Aufnahme einen Platz hier verdient.

Zwei große Persönlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts lernen sich beim Schachspiel kennen und werden lebenslange Freunde mit intensivem Austausch. Viele Textquellen sind uns überliefert, leider nicht die Gespräche zwischen dem Philosophen Moses Mendelssohn, Großvater von Felix Mendelssohn-Bartholdy, und dem Dichter Gotthold Ephraim Lessing. Jens Oberheide machte es sich nun zur Aufgabe, aus insgesamt 138 Textquellen einen Schach-Dialog zusammenzustellen, der bewusst offen gehalten ist, nicht alles beantwortet, gerne einmal springt und so einem echten Dialog nahekommt. Außer kleinen Korrekturen für das Verständnis oder den Kontext wurde wenig verändert oder eingefügt. Zwischen all den Themen, von Philosophie, Religion und Kunst zu Wissenschaft oder strategischen Schachzügen gibt es natürlicherweise Gedankenpausen, und diese werden mit Klaviermusik von Franck A. Holzkamp angereichert. Es entsteht ein stimmiges Ganzes, das schweifende Einblicke in Denkweisen und Werke der Schriftsteller bietet und kurzweilige Unterhaltung mit wissenswerten Erkenntnissen kombiniert.

Die Sprecher, Gerhard Fehn und Ferenc Husta (letzterer als langjähriges Mitglied der Wise Guys beinahe ein „Star“ der Populärmusikszene), rezitieren ihre Rollen verständlich und gut prononciert, der Hörer kommt gut mit und kann die Gedankengänge leicht verfolgen. Durch Studioakustik und Tonfall erhält man allerdings nicht das Gefühl, einem „echten“ Dialog, sondern zwei vereinzelten Stimmen zu lauschen.

Romantisch berühren die eingeschobenen Werke von Franck Adrian Holzkamp, teils mit leichten Einflüssen des Minimalismus. Seine Notturnos, Bagatellen und Slow Airs sind von anmutiger Schönheit und Schlichtheit, laden zum Träumen ein. Der Komponist ist zugleich auch der ausführende Musiker und bietet sie mit Zartheit, innigem Feingefühl und meditativer Ruhe dar, lässt die Musik die philosophischen Gedanken weitertragen und fortspinnen, verknüpft und komplettiert die fiktiven Dialoge damit zu einem Ganzen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Geniales in kongenialer Darbietung

ALBA, ABCD 399; EAN: 6 417513 103991

Werke von Pehr Henrik Nordgren sind auf „Storm – Fear“ des Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Leitung von Juha Kangas zu hören. Solist im Konzert Nr. 2 für Klavier, Streicher und Schlagwerk Op. 112 und dem Konzert für die linke Hand alleine und Kammerorchester Op. 129 ist Henri Sigfridsson, Monica Groop singt den Liederzyklus nach Gedichten von Edith Södergran Op. 123 für Mezzosopran, Streicher und Harfe.

„Storm – Fear“ ist ein wahrer Schatz auf dem aktuellen CD-Markt: Nicht nur, dass Pehr Henrik Nordgren (1944-2008) einer der substanziellen Komponisten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts war (mehr als einmal hörte ich, wie er als Finnlands bedeutendster Meister seit Sibelius gerühmt wurde), sondern auch Juha Kangas und sein Ostrobothnian Chamber Orchestra gehören zu den führenden Kammerorchestern unserer Zeit und bescherten uns bereits einige legendären Aufnahmen, viele davon gerade von nordischen Komponisten wie Grieg, Eliasson, Vasks oder eben Nordgren.

Auf vorliegender CD sind zwei der drei Klavierkonzerte des finnischen Komponisten zu hören, die allesamt für den Japaner Izumi Tateno verfasst wurden. Das dritte, das Konzert für die linke Hand, entstand auf Anfrage Tatenos, nachdem er aufgrund einer Hirnblutung seine rechte Hand nur noch teilweise bewegen konnte. Zwischen den beiden Werken ist ein Liederzyklus nach Edith Södergran auf schwedisch zu hören, alle Werke entstanden nach 2000. Der profund informierende Bookletttext entstammt der Feder von Kalevi Aho, des neben seinem Lehrer Rautavaara erfolgreichsten finnischen Komponisten der letzten Jahre, der auf dem Gebiet der Oper, des Solokonzerts und der Symphonik weltweit große Erfolge feiert.

Stilistisch war der 2008 verstorbene Nordgren ein Einzelgänger, er passte sich keiner Schule oder Traditionslinie an. Seine Musik entstammt seinem Inneren und reißt mit einer Vitalität und glühenden Lebendigkeit mit, ist erfüllt von kompromissloser Ungebundenheit, Zwanglosigkeit und Natürlichkeit. Alles befindet sich im Kontinuum, eines resultiert wie selbstverständlich aus dem anderen. Dabei ist der Grundgestus das, was wir als „nordisch“ bezeichnen würden: düster und nach unten gerichtet. Die Musik ist mystisch, umnebelt, geheimnisvoll brodelnd und im Verborgenen polternd; sie ist nicht direkt und schon gar nicht erwartungsgemäß, immer findet sie einen verhüllten und doch unmittelbaren Weg, erreicht so ungeahnte Wirkung. Am dunkelsten ist wohl das Konzert für die linke Hand nach der von Lafcadio Hearn aufgezeichneten japanischen Geistergeschichte Der Leichenreiter: Wie bildhaft all der Schrecken und die Furcht sich zeigen, beinahe sieht man die Geschichte vor sich ablaufen! Herausragend ist Nordgrens Umgang mit dem kleinbesetzten Kammerorchester, hier aus neunzehn Streichern bestehend, denn jeder hat eine eigene Stimme, und so entsteht eine multiple Klanglava, die manche Komposition für großes Symphonieorchester an Volumen spielend überbietet. Weder die Solokonzerte, noch die Lieder sind auf virtuosen Effekt oder Zurschaustellung aus, alles dreht sich um den musikalischen Sinn und die Stimmigkeit und Stringenz der Aussage.

Bis zu Nordgrens Tod arbeitete Juha Kangas an erster Stelle mit dem Komponisten zusammen, bei allen hier zu hörenden Werken leitete er die Uraufführung. Das Resultat aus der engen Kooperation und Kangas’ unbestechlichen Gespür für den Ausgleich zwischen horizontalem (Melodie) und vertikalem (Harmonie) Druck, für Bogen und Phrasierung sowie für die Korrelation des Ganzen als Einheit ist schlichtweg überwältigend. Henri Sigfridsson und Monica Groop passen sich beide selbstlos in das dichte Geflecht ein und finden ihren hervorgehobenen Platz in einer Einheit, die vollkommen aufeinander abgestimmt ist und an der absolut nichts auch nur ansatzweise auszusetzen wäre.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Ein großartiger Porträtfilm

Im Münchner Monopol-Kino läuft derzeit Daniel Kutschinskis wunderbarer Porträtfilm ‚4’ über das ‚Quatuor Ebène’, eine der großartigsten Kammermusikformationen unserer Zeit. Wir haben die gut besuchte 14 Uhr-Vorstellung am Neujahrstag besucht, zu der überraschend auch der Regisseur erschienen war.

4

Ein Porträtfilm über ein Streichquartett, zumal über ein junges, ist keine einfache Angelegenheit. Es ist etwas ganz Anderes, sich auf eine einzelne Musikerpersönlichkeit zu fokussieren, oder auch, effektreich ein großes Orchester vorzustellen. Aber vier Musiker, die nicht gerade das spielen, was der oberflächliche Hörer für attraktive klassische Musik hält, möglichst gleichberechtigt in den Mittelpunkt zu rücken und dabei keine trockene oder auch allzu fachlich spezialisierte Arbeit abzuliefern, ist doch eine echte Herausforderung.

Der in München lebende Regisseur Daniel Kutschinski ist einen ganz anderen Weg gegangen. Die Voraussetzung, überhaupt mit dem Drehen zu beginnen, war gewachsene Freundschaft und innige Vertrautheit mit den Musikern. In diesem Film wird nicht erklärt, nichts kommentiert, nicht interpretiert. Es geschieht, was eben sowieso geschieht, und das Leben schreibt seine eigenen Geschichten. Das Resultat ist zunächst natürlich ein gigantischer Materialberg, doch in schon unglaublicher Weise ist es Kutschinski und Andrea Schönherr gelungen, daraus einen stringent fesselnden ‚Spielfilm’ zu machen, der in intuitiver Spannungsentwicklung ohne das Bedürfnis nach logischem Über- oder Unterbau sich selbst erklärt für all diejenigen, denen das Leben, die Realität an sich Erklärung genug ist, wenn sie genau beobachtet und intelligent als Netz von lebendigen Bezügen erfahren wird. Denn das tut dieser Film: Er ist ein Muster an phänomenologisch geöffneter, wahrnehmender, wacher, mitfühlender, den Beziehungsreichtum auslotender Haltung.

4.2

Die Kameraführung von Arnd Buss-von Kuk ist schlicht grandios und würde jedem ambitionierten Spielfilm zur Ehre gereichen, zumal die Kunst der Nahaufnahme so wendungsreich mit Leben erfüllt ist, als wäre der Betrachter einfach mittendrin – und hier geschieht immer etwas, was uns fesselt. Auch der Ton, den Marc Parisotto verantwortet, genügt allerhöchsten Ansprüchen, und das heißt nicht nur bei den Musikbeispielen – die erstaunlich wenig Gesamtanteil aufweisen – einiges, sondern ganz besonders in den Backstage- und Kneipenszenen, die niemals vorher eingerichtet wurden, also jedesmal ihr ganzes chaotisches Potential entfalten durften. Die Regie besticht durch eine maximal unprätentiöse und äußerst präzise Hand. Wo Absicht ist, merkt man sie nicht, und wo keine war, könnte sie ebenso dabei gewesen sein. Es ist, als ob der Film von selbst geschieht, und nichts könnte den Zuschauer authentischer einführen in die Konzertwelt der klassischen Musik, die jeden Abend aufs Neue ein Sprung ins kalte Wasser ist, wenn man nicht in den Sicherheiten der Routine verkommen will. Und das tun die vier jungen Männer des französischen Quatuor Ebène nicht: Sie hinterfragen in einem fort, sich und die anderen, alle Gewissheiten, und man hat den Eindruck, dass kein Steinchen dabei ist, das nicht einmal oder mehrmals umgedreht worden wäre.  Herrlich können sich alle vier Charaktere entfalten, und es entsteht eine ungeheure Nähe, wie ich sie noch in keinem Dokumentarfilm – und sowieso in keinem Musikfilm – gesehen habe: eine Nähe, die untrüglicher Beweis nicht nur des engen Bands zwischen den Musikern, sondern auch mit dem Regisseur und seinem Team ist.

Wunderbar ist auch, dass das Quartett keinerlei Hemmungen hat, seinen Mentor Eberhard Feltz, den großen Berliner Quartett-Ausbilder, in Erscheinung treten zu lassen. Hierbei musste, der Gesamtdramaturgie und –länge (94 Minuten) geschuldet, weitgehend auf die Erfahrbarmachung des Methodischen verzichtet werden („das wäre“, so Kutschinski im anschließenden Publikumsgespräch, „ein anderer Film geworden“), aber eindrücklich genug bleibt es allemal, um mehr erfahren zu wollen über solche Zusammenarbeit und überhaupt darüber, was so hinter den Kulissen geschieht, bevor wir die Künstler in Konzerten und Aufnahmen hören können.

4.3
Regisseur Daniel Kutschinski    © Kornelia Wagner, 2016

 

Näher kann man fremden Menschen im Kino nicht kommen, ohne dass diese je in geschmackloser Weise bloßgestellt würden, dabei kommt nichts zu kurz: Intimität, auch Obszönität, jede Menge Humor, Theatralik des täglichen Lebens, die ganze Tiefe im Auge des zu Betrachtenden tranferiert sich ins Auge des Betrachters, der eben nicht wie ein Voyeur behandelt wird und entsprechend dazu auch weder Veranlassung noch Gelegenheit bekommt. Er kann zufiefst berührt werden, ohne wirklich sagen zu können warum, und es braucht keine Effekthascherei oder Sentimentalität, um das echte Gefühl zu haben, dabei zu sein, wie Musik entstehen kann, was zwischen Menschen entsteht auf dem Weg dorthin, wie ‚Hochkultur’ nichts anderes ist als der Ausdruck des Innersten im Moment. Schubert oder Bartók, das Quatuor Ebène und Meister Feltz, Daniel Kutschinski und sein Team, in diese Lichterkette reiht sich der Besucher ein und wird empfangen, teilzuhaben an etwas durch und durch Echtem, das keinen Augenblick bedeutender sein möchte als es ist: die Magie des Augenblicks, der Korrelation der gegenwärtigen Momente, in dieser Hinsicht kann die Musik Symbol des Lebens sein, und umgekehrt. Alles hängt von der Haltung ab, wenn erst einmal die Voraussetzungen geschaffen sind. Es ist eine einzige Liebeserklärung.

Ich persönlich finde es schockierend, dass dieser großartige Film, der wie kein anderer prädestiniert ist, auch junge Menschen natürlich in die Welt der klassischen Musik einzuführen, bisher von keinem europäischen Fernsehsender gezeigt wurde, ja sogar – unter dem Verweis, dies sei leider ‚Hochkultur’ – auch jetzt noch nirgends zur Sendung in Planung ist. Er hat sofort bei der ersten Vorstellung in Los Angeles den ersten Preis des dortigen Dokumentarfilmfestivals gewonnen, und eigentlich hätte dies der Beginn einer anhaltenden Erfolgsstory sein müssen. Was soll denn unser ‚Bildungsauftrag’ überhaupt noch wert sein, wenn so ein großartiges Produkt darin keine Chance hat? Wofür zahlen wir dann alle diese Steuer an die Öffentlich-Rechtlichen, wenn wir alle deren verantwortlichen Programmmachern so grundsätzlich gleichgültig, oder diese durchgehend so inkompetent oder ignorant sind? ‚4’ müsste in den Schulunterricht aller Bundesländer aufgenommen werden, als nationales Kulturgut des 21. Jahrhunderts – aber eine solche Kategorie muss erst noch begründet werden.

[Christoph Schlüren, Januar 2017]

Weitere Termine:
München, Monopol-Kino: 4. 1. (17.00), 6. 1. (14.40), 7. 1. (13.10), 8. 1. (14.40), 14. & 15. 1. (je 12.10).
Bad Endorf, Marias Kino: 5. 1. (20.00), 6. & 8. 1. (je 11.00)
Regensburg, Filmgalerie im Leeren Beutel: 8., 15. & 22. 1. (je 11.00 Matinée)
Tübingen, Arsenal: 15. 1. (11.30)
Bonn, REX: 15. 1. (11.00), 18. 1. (17.00)
Köln, ODEON: 15. 1. (13.30), 18. 1. (17.00)
Hamburg, Abaton: 21. & 28. 1. (je 13.00), 5. 2. (11.00)
Leipzig, Astoria: 22. 1. (13.00)
Salzburg, Das KINO: 25. & 26. 1. (je 20.00), 27. & 28. 1. (je 16.00), 29. 1. (12.00), 5. 2. (10.00)
Luzern, Stattkino: 5., 12., 19. & 26. 2. (je 11.00 Matinée)
Bamberg, Lichtspiel: 19. 2. (12.00)

Neue Entdeckungen aus Norwegen

Lawo, LWC1097; EAN: 7 090020 181097

Neue Lieder aus Norwegen tragen Marianne Beate Kielland (Mezzosopran) und Nils Anders Mortensen (Klavier) auf ihrer CD „The New Song“ für Lawo vor. Zu hören sind LiebesKleineLieder von Helge Iberg, …As the Last Blow Falls… von Henrik Hellstenius, Brahmanische Erzählungen von Håvard Lund und Gruk pour soprane et piano Op. 53B von Edvard Hagerup Bull.

Formale Grenzen scheint es in unserer Zeit in der Musik kaum noch zu geben, frei nach dem Motto: Alles ist erlaubt. Doch dessen ungeachtet existieren gerade auf dem europäischen Kontinent eine Vielzahl von Schulen und Traditionslinien, die erschreckend oft noch immer in der Avantgarde der 1960er-Jahre stecken geblieben und nicht über die Zeit der hochkomplexen Diskontinuität hinweggekommen sind, diese auch nach knapp sechzig Jahren noch als modern vergöttern. In den skandinavischen Ländern ist man hiervon oft erfrischend unbeeindruckt, hier steht der Individualstil über normativen Gesetzen, wie denn Musik heute zu sein habe (denn auch die Maxime, Musik müsse „modern“ sein, ist eine Begrenzung). Die nordischen Länder verfügen heute über eine Vielzahl herausragender Individualisten, die ihre eigenen Ideale verfolgen, die sich nicht selten in jedem Stück neu erfinden und die doch auch freundschaftlich nebeneinander stehen, ohne die Hörer oder Studenten in ihr Lager zu treiben zu versuchen. Vier beeindruckende Beispiele von „neuen“ Liedern bietet vorliegende CD, drei davon Kompositionsaufträge für diese Einspielung.

Staunen lässt der Text-Musik-Bezug in LiebesKleineLieder von Helge Iberg nach Texten von Erich Fried. Durch Wiederholungen schafft Iberg einen eigenständigen Ausdruck, antwortet zum Teil auf unklar gelassene Aussagen im Text (wie in „Was es ist“: Es bleibt offen, was „es“ nun ist, ob Unsinn, Unglück oder Schmerz etc. – die von Iberg eingefügte Textwiederholung am Ende antwortet ausdrücklich: Liebe) oder schafft einen neuen Sinn (so in „Aber wieder“). Die Klavierbegleitung bewegt sich oft in sparsamen Patterns, die allerdings immer wieder durch textausdeutende Momente durchbrochen werden, ebenso die weit ausgenutzte Singstimme, welche gerne auch einmal in eine Sprechstimme übergleitet. „…As the Last Blow Falls…“ von Henrik Hellstenius nach einem Text von Theodor Storm ist eine groß angelegte Phantasie zwischen englischer und deutscher Sprache. Die zusätzlich agierende Rezitation, die der Komponist selbst gesprochen hat, schafft eine dritte Ebene in diesem Werk. Dies ist das wohl experimentellste Werk der CD, immer unerhörtere Klang- und Geräuschsphären erreicht Kielland mit ihrer Stimme. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen den Extremen, dem auf einer subtiler wahrzunehmenden Ebene eine langsame Metamorphose übergeordnet ist. Balladeske Liedkompositionen sind die „Brahmanischen Erzählungen“ nach Friedrich Rückert von Håvard Lund. Die Musik folgt dem großartigen Text und gibt diesem Bedeutung, unterbrochen nur durch kurze melismatische Kontrastpassagen (in „Ein Bettler in Schiraz“ eingeschoben, in „Der abgebrannte Bart“ ganz am Ende, wo sich mir der Sinn allerdings noch nicht erschlossen hat). Edvard Hagerup Bull ist der einzige Komponist auf dieser CD, der nicht mehr lebt und dessen Musik hier nicht auf deutsch gesungen wird, sondern auf dänisch, wie dies die Textvorlage Piet Heins vorgab. Vielleicht ist es aber gerade dieser Komponist, der die größte Entdeckung dieser Einspielung ist. Obgleich er sowohl mit Edvard Grieg als auch mit Ole Bull verwandt war, hat seine Musik eigentlich nichts mit den beiden Meistern zu tun, viel eher ging es Hagerup Bull um eine enorme Verdichtung und Ver-Wesentlichung der Musik auf das Nötigste, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der kargen Tonsprache von Anton Webern (wobei sich Hagerup Bull trotz aller harmonischen Komplexität nicht der Dodekaphonie oder anderen beschneidenden Regelwerken unterordnete), und natürlich ursprünglich auch einmal geprägt von der raffinierten Bitonalität seines Lehrers Darius Milhaud. Die fünf Gruk sind kleine Perlen faszinierendster Tonsprache, die sich einer Beschreibung effektiv entziehen.

Marianne Beate Kielland besticht mit einer markanten, angenehm rauen, düster-„nordischen“ Stimme mit enormer klangfarblicher Variabilität. Bis in die äußersten Lagen ihrer Stimme bleibt sie klar und präzise intoniert, verliert auch in Extremsituationen nie die Kontrolle. Nils Anders Mortensen begleitet zurückhaltend und lebendig, beinahe improvisatorisch spontan. Die beiden Musiker sind blendend aufeinander angestimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]