Obsession aus Tirol

Karl Senn: 1809. Drei Sätze für Orchester; Romantisches Konzert; Vorfrühling.
Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl; Michael Schöch, Klavier.
Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 83, erhältlich auf: www.musikland-tirol.at

Ein Tiroler, dessen Name mir noch nie zu Ohren gekommen war, wurde mir für meinen Einstand bei The New Listener anvertraut: Karl Senn. Heute ist Senn komplett vergessen, da er sich politisch rechts engagierte, zunächst dem österreichischen Faschismus huldigte und später der NSDAP beitrat (http://arge-ns-zeit.musikland-tirol.at/content/senn/index.html). Durch die Verstrickungen Senns mit dem ‚Regime‘ ist damals ungehört auch seine Musik schlechtgeredet worden:  als regional oder banal. Zu diesem allgemeinen Vorurteil führten allerdings hauptsächlich einige Liederbücher mit NS-Gedankengut, die viel später entstanden sind als die hier zu hörenden großen Orchesterwerke.

Den Lebensdaten nach, 1878 in Innsbruck geboren und dort 1964 auch gestorben, ist Senn ein Musiker, der den Umbruch in die Moderne voll miterlebt haben muss und sogar in die musikalische Avantgarde der 60er-Jahre noch hineinschnuppern durfte. Doch so klingt seine Musik nicht, zumindest nicht die hier dargebotene von 1913, 1925 und 1937/8. Viel eher scheint Senn noch der Spätromantik verpflichtet zu sein in den vorgegebenen Bahnen der Dur-Moll-Tonalität und mit Fixierung auf großflächig formale Gestaltung, die die Grenzen des Zusammenhängenden beinahe sprengen möchte. Schnell wird jedoch klar, dass Senn nicht zu jenen mittelmäßigen Postromantikern gehört, die den gleichen übersentimentalen Einheitsbrei immer und immer wieder hochwürgen und wiederkäuen.

Ganz im Gegenteil, Karl Senn hat (trotz unüberhörbarer Einflüsse gerade von Mahler und Strauss, vielleicht auch von Wagner und Reger) seine eigene Note, die ihn ausmacht und ihn von der epigonalen Komponistenmasse abhebt. Was zeichnet ihn aus? Dies dürfte allem voran die Obsession sein, die seine Werke erfüllt, diese schier unbändige Kraft und Gewalt, mit der er seine Themen bis zur höchsten Ekstase treibt, sie nicht freigibt und immer weiter auf ihnen herumreitet, bis sie total erschöpft versinken. Doch artet dies nicht in heillosem Chaos und Wildheit aus, sondern wird von bewusst formendem Geist im Zaum gehalten – ein leidenschaftlicher Geist in einem zurückhaltend-gutbürgerlichen Körper. Die ausgedehnte Form scheint Senn zu verehren, die Orchestersätze kratzen gerade an der zehn-Minuten-Marke, der Vorfrühling misst zwanzig und das einsätzige Konzert gar fünfundzwanzig Minuten. Senn schafft phantasieartig sich ausbreitende Formgebilde, die er durch seine obsessive Ader fortzuspinnen vermag, und die stets eine natürlich verlaufende Entwicklung nehmen. Gerade „Ave Maria nach der Schlacht am Bergisel“ als zweiter Satz von „1809“ verzaubert durch eine ungezwungen freie Entfaltung zu Beginn.

Klanglich trumpft Karl Senn vor allem mit einer gewissen Dunkelheit auf, einem Schleier von drohender Gefahr, einer gewissen tief liegenden Angst, die die Stimmung gerne unterminiert und jäh einen Abgrund aufzustoßen vermag. Dazu würzt Senn seine Werke vor allem mit dumpf brütenden Dissonanzen, die nicht das Elend hinausplärren, sondern in gemäßigter Introversion von innen wirken. So beginnt der erste Satz von „1809“, „Schwur“, mit der perkussiv genommenen Sekund e-fis in den tiefen Streichern – das Unheil ist vorhergesagt. Und der Schluss von Vorfrühling: Ein F-Dur-Akkord mit d und e – ein Jazzer würde es vielleicht als d-Moll major 7 mit Non auf dem Basiston F bezeichnen, doch da Vorfrühling wenig mit Jazz gemein hat, liegt einfach ein unfassbar interessanter Klang mit einer durch weite Lage verschleierten Reibung vor, der zwar schließt und doch nicht alle Sorgen vertreiben mag. Es gibt viele solcher herrlichen Klangphänomene in der Musik Senns, die der Hörer glücklicherweise sogar online studieren kann, auf Musikland Tirol sind alle Noten ediert und abrufbar: http://www.musikland-tirol.at/html/html/musikedition/senn.html.

Nicht zuletzt besticht Senn durch ein feines Gespür für die Orchestration, er beherrscht das volle Orchester auf eine beinahe kammermusikalische Manier, setzt auf dichte Klanggewebe. Besonders deutlich wird dies beim Romantischen Konzert für Klavier und Orchester, welches ursprünglich als Klavierquintett komponiert wurde. So behält auch das Orchester die Dichte eines Quintettsatzes, jedoch mit weitaus mehr Dopplungen – größtenteils funktioniert diese Idee, lediglich zu Beginn verschwindet das Klavier etwas ungewollt im dichten Orchesterklang (vielleicht ein Problem der Abmischung; das vollgriffige Klavier sollte eigentlich schon gegenüber den Orchesterstimmen hörbar sein können). Faszinieren kann mich vor allem die Stelle, wo nach einer kleinen Klavierkadenz ein Solocello die Melodie aufgreift (T. 402), worauf das hohe Holz folgt – welch ein hinreißender Moment!

Am Pult des Orchesters der Akademie St. Blasius steht Karlheinz Siessl, der mit Herzblut und so reflektierter wie genauer Ausarbeitung der Musik gerecht wird. Das Zusammenwirken zwischen den Musikern funktioniert mit scheinbar unbekümmerter Leichtigkeit, ohne je in seelenlose Routine zu verfallen – die Musiker haben ihren Spaß und das wird deutlich. Siessl treibt sein Orchester in die kühnsten Höhen hinauf und lässt es gerne donnern, behält jedoch stets die Zügel in der Hand und lässt die Musiker und die Musik nicht „durchgehen“. Die einzelnen Orchesterstimmen stuft Siessl genau ab und ist darauf bedacht, keine einzige in den Untergrund verschwinden zu lassen, alles wird hörbar und die dichte Polyphonie ist wunderbar wahrzunehmen. Auch gelingen dem Dirigenten lange Spannungsverläufe und weiträumige Entfaltungen ohne Abfallen der Spannung. Zwei kurze holprige Momente seien hierbei verziehen, handelt es sich doch um einen Livemitschnitt und nicht um eine Studioaufnahme. Der Pianist Michael Schöch brilliert mit lupenreinem Spiel und beeindruckendem Schönklang. Die atemberaubenden technischen Schwierigkeiten meistert er in spielerischem Gleichmut und gestaltet auch von der Linienführung aus, so gut es die Linien zulassen. Das Klavier klingt leider etwas stumpf in der Abmischung. Doch soll dieses kleine Manko den starken Eindruck dieser überzeugend dargebotenen Aufnahme einer vollkommen unbekannten Musik nicht trüben, einer Musik, die sich trotz der historischen schändlichen Haltung ihres Hervorbringers dringend zur Rehabilitation empfiehlt.

[Eduard Alpmann, September 2016]

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