Archiv für den Monat: Oktober 2016

Letzte Dinge…

Horst Lohse (*1943) – Letzte Dinge. Hieronymus Bosch Triptychon
Christoph Maria Moosmann, Orgel; Bamberger Symphoniker; Aldo Brizzi, Dirigent; Robert Hunger-Bühler, Stimme

NEOS 11604
4 260063 116049

Wenn sich ein Komponist 23 Jahre lang mit einem Thema beschäftigt – in diesem Fall angeregt durch das Bild des Malers Hieronymus Bosch (1450-1516) „Die sieben Todsünden“ -, dann kann man gespannt sein, wie sich dieses Bild in ein „Klangbild“ wandelt, oder auch in mehrere, wie im vorliegenden Fall.

In Horst Lohses Werkverzeichnis findet sich neben Pädgogischem auch  Mannigfaches, sein Œuvre ist sehr reichhaltig. Aber die CD mit der Orgel als „rotem Faden“ ist eben auch wegen der langen Zeit des Entstehens etwas Besonderes.

Das Triptychon hat drei verschiedene Ebenen, die auch musikalisch durch drei verschiedene  Kompositionen dargestellt werden: Die erste „Die sieben Todsünden“ ist die früheste und entstand 1989 für Orgel allein. Sie entspricht dem mittleren Rundbild. Die nächste Komposition, für Orgel und Orchester, entstand 1996/97 und  bezieht sich auf die vier kleinen Rundbilder in den Ecken der Gemäldetafel.

Die mittlere Darstellung, in der Jesus selbst abgebildet wird unter dem  Vermerk „Cave, cave Dominus videt“, bildet den Abschluss als Werk für Orgel und Sprecher/Stimme von 2011/12.

Im Booklet gibt es zu den einzelnen „Todsünden“ und ihrer Vertonung Hinweise, die in die Struktur der Stücke leiten. Die ‚Letzten Dinge’ sind ein Dialog zwischen Orgel und Orchester, in welchem es zu spannenden und packenden Klangballungen kommt. Für mich am überzeugendsten gelungen ist der dritte und letzte Teil, der einen Text von Michael Herrschel (geb. 1971) mit einbezieht – er ist im Booklet abgedruckt.

Der Sprecher und Sänger Robert Hunger-Bühler ist für die Realisation dieser Komposition eine ideale Besetzung, auch wenn man zu Beginn die Lautstärke-Regler halsbrecherisch hoch aufdrehen muss, um überhaut etwas zu vernehmen, so pianissississississimo fängt das Ganze an. Umso überraschender und „brüllender“ ist dann der Fortgang, der eben ins Zentrum des Bildes und der Komposition führt.

Horst Lohse kam – wie er mir in einem Telefongespräch mitteilte – über die Malerei und eine Begegnung mit Hans Werner Henze zum Komponieren. Er war eine Zeitlang auch als Grundschullehrer tätig, wovon einige seiner Bühnenwerke zeugen.

Dass ihn der phantastische Realismus der Bilder von Hieronymus Bosch schon früh faszinierte, hatte sicher auch mit dem bildenden Schaffen seines Schwiegervaters Caspar Walther Rauh (1912-1983) zu tun, das ebenfalls dem phantastischen Realismus zugeordnet wird.

Das zweite Stück auf der CD ist eine Koproduktion mit dem BR, die beiden anderen Stücke spielte der Organist Christoph Maria Moosmann an der Orgel des Rottenburger Doms ein.  (Allerdings brauchte es dazu sogar einen zweiten Organisten und „nicht unerheblichen technischen Aufwand“, wie Moosmann im Booklet schreibt, um alle Anforderungen der Partitur erfüllen zu können.)

Die Wandlung eines Gemäldes in ein „Klangbild“ ist jedenfalls ein spannender Prozess, den ich auf vielen Vernissagen selbst schon  – zum Erstaunen der Malerinnen und Maler – improvisatorisch mit Stimme und/oder Instrumenten gestaltet habe.

[Ulrich Hermann; Oktober 2016]

Unverbrauchte Frische

Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen am 28. Oktober 2016 im Konzertsaal des Freien Musikzentrums München Quatre Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau in neuer Instrumentierung von Eugène Ysaÿe, die zehnte Violinsonate von Ludwig van Beethoven G-Dur Op. 96 sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Das Freie Musikzentrum München ist in Insider-Kreisen schon längere Zeit zu einer Art Wohnzimmer für qualitativ hochwertige klassische Konzerte avanciert. So wird auch heute wieder in familiärer Runde ein beeindruckendes Konzertprogramm mit herausfordernden Werken von herausragenden Musikern dargeboten: Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen Werke von Rameau (in Bearbeitung von Ysaÿe), Beethoven und Franck.

Die beiden jungen Musikerinnen legen sich kein barockes Korsett an in den von Ysaÿe für Violine und Klavier instrumentierten Quatre Pièces de Clavecin, die ursprünglich der Feder Jean-Philippe Rameaus entstammen. Mit funkensprühender Lebendigkeit und hinreißendem tänzerischen Frohmut erhalten die vier Stücke eine glänzende Leichtigkeit. Erstaunlich zurückhaltend und innig hingegen wird der Kopfsatz von Beethovens viersätziger G-Dur-Violinsonate Op. 96 genommen, hier bezaubern aufrichtige Empfindung und verhaltene Zartheit. Vor allem im zweiten Satz scheint es beinahe, als würde die Zeit stillstehen, bis einen das fidele Scherzo wieder in eine vollkommen andere Welt katapultiert. Nach der Pause gibt es noch die berühmt-berüchtigte Violinsonate César Francks in A-Dur, ein wahrlich monströses Werk, welches die meisten Ausführenden vor strukturell schier unlösbare Aufgaben stellt. Vom ersten Moment an brodelt es förmlich, wenn Margarita Oganesjan ihr nebelverhangenes Klaviervorspiel beginnt, und wenn Rebekka Hartmann zum ersten Strich ansetzt. Es beginnt eine fesselnde Reise, die den Hörer durch harmonisch dicht verzweigte Passagen führt, durch virtuose – doch zugleich nie rein äußerliche – Lawinen von unbändiger Energie und durch einfühlsame Kantilenen in selten erreichter Schönheit. Auch hier verliert der Hörer jegliches Gefühl von Dauer und ist direkt überrascht, wenn nach gut dreißig Minuten „schon“ das Ende erreicht ist.

Zweimal bisher durfte ich, schon vor längerer Zeit, die beiden Solistinnen gemeinsam erleben und war dort bereits beeindruckt von ihrem fabelhaft abgestimmten Zusammenspiel und ihren musikalischen Fähigkeiten. Doch ihre heutige Darbietung ist noch einmal eine Steigerung gegenüber allem bisher gehörten: Die Musikerinnen spielen nicht nur zusammen, sie atmen zusammen, fühlen zusammen und denken scheinbar auch zusammen – alles ist in einer unzertrennbaren Einheit, die Übergänge zwischen den Instrumenten geschehen so unmittelbar fließend, dass die Umbruchsstelle oft kaum erkennbar ist, an welcher der Wechsel gerade stattfand. Rebekka Hartmann führt dem Vibrato wieder seine ursprüngliche Rolle zu: Als stärkstes Mittel des Ausdrucks mit entsprechend sparsamer Verwendung und nicht als omnipräsentes Obligo für jeden Ton. Ihr Spiel zeichnet sich durch lebendiges Gefühl und geschmeidigen Ausdruck aus, der sich von jeder Mechanisierung befreit hat und nun ungezwungene Bahnen wandeln kann. Margarita Oganesjan spielt mit einem markanten und doch orchestralen, warmen Anschlag, dem auch eine gewisse Weichheit nicht fehlt. Und flexibler als je zuvor passt sie sich jedem von der Musik verlangten Ausdruck an, singt geigerisch in den Kantilenen, perlt spielerisch in den virtuosen Passagen und mischt durch genauestes Hören ihre Akkorde präzise ab. Das Resultat dieses Zusammenspiels ist eine unverbraucht frische Darbietung von drei unterschiedlichen Werken aus verschiedensten Epochen. Diese würden zweifelsohne mehr Hörer verlangen als die wenigen Anwesenden, die den ohnehin kleinen Konzertsaal des Freien Musikzentrums nicht einmal zur Hälfte füllten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Das beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music

Philip Glass – ‚Prophecies’: Music from ‚Einstein on the Beach’ and ‚Koyanisquatsi’, arranged for piano solo by Anton Batagov
Anton Batagov, Klavier

Orange Mountain Music CD 0110 (EAN: 801837011029)

Anton Batagov, geboren 1965 in Moskau, ist seit Anfang der 1990er Jahre Kennern bekannt als einer der interessantesten Musiker seiner Generation. Er ist nicht nur ein hochorigineller und phänomenaler Pianist, sondern auch ein singulärer Komponist sogenannter Minimal Music, der auch plakativ als „russischer Terry Riley’ angepriesen wurde. Alben wie das bei Arbiter Records in New York erschienene ‚The New Ravel’ oder seine auf einer Art präpariertem Klavier gespielte ‚Kunst der Fuge’ sind längst zeitlose Klassiker. Mehr über ihn ist hier zu erfahren: en.wikipedia.org/wiki/Anton_Batagov.

Nun präsentiert er uns seine eigenen Klavierfassungen von Musik aus Philip Glass’ New Age-Heiligtümern ‚Einstein on the Beach’ und ‚Koyanisquatsi’, und so sehr viel ist gar nicht darüber zu sagen. Es ist eine Minimal-Darbietung in schlichter Vollendung, von einem Pianisten gespielt, der ebenso mit späten Beethoven-Sonaten, Scriabin oder Debussy begeistern könnte, mit einer unglaublich feinen Durchformung und Abschattierung der Monochromie vorgetragen, nie ins rhythmisch Mechanische oder melodisch Plätschernde abgleitend, auch nie oberflächlich gefällig, sondern mit einer stoischen Spontaneität der Empfindung vorgetragen, die jenseits auch nur der geringsten Willkürlichkeiten jeden Moment aus dem großen Fluss heraus gestaltet. Das ist schlicht das musikalisch beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music. So funktioniert es und erfreut sowohl den anspruchsvollen Hörer als auch den, der einfach nur etwas zum Träumen haben möchte.

Batagov trägt im spartanischen Booklet einen lesenswerten Essay ‚On the Term Minimalism’ bei, wo er unter anderem schreibt: „Nichts ist absolut tragisch, nichts ist absolut fröhlich. Alles ist fröhlich und tragisch zur gleichen Zeit. Alles existiert in immerzu unteilbarer Einheit.

Minimalismus ist nicht ein Stil oder eine Technik, die in den 1960ern erfunden wurde und vorüber ging. Tatsächlich können wir uns kaum vorstellen, vor wie vielen tausend Jahren der ‚Minimalismus’ entstanden ist.“

Wer also wissen will, was Minimalismus im besten Fall sein kann, sollte nicht zögern, sich Glass in Batagovs Fassung anzuhören.

[Annabelle Leskov, September 2016]

Großmeister der Kirchenmusik der klassischen Moderne

Edmund Rubbra
Tenebrae Nocturns op. 72; Missa Cantuariensis op. 59; Drei Motetten op. 76; Fünf Motetten op. 37
The Sixteen, Harry Christophers
Coro CD COR 16144; EAN: 828021614422

Kirchenmusik im 20. Jahrhundert – das ist ein problematisches Kapitel. Für die Chefideologen des Fortschritts ohnehin, da die Komplexität bei in der Regel mehrstimmiger Chormusik nicht so hoch sein kann wie im Instrumentalen, und die Dimensionen des Absurden nicht so ergiebig sind wie im Musiktheater. Die Kirche als potenter Geldgeber will ja auch ihren geldwerten Vorteil, und der heißt nicht Atonalität und Geräuschlaboratorium, sondern irgendwie dann doch – Verständlichkeit, eine gewisse Schönheit und Erhabenheit, und ganz allgemein Angemessenheit an den liturgischen Bedarf… Es ist aber auch von anderer Seite problematisch, denn der Glaube ist eben auch nicht mehr, was er mal war. Von Ernst Pepping, diesem führenden Vertreter von deutscher Seite, wissen wir beispielsweise, dass er gar nicht gläubig war und trotzdem Musik komponierte, die mehr Anklang fand als solche „moralisch kompatiblerer“ Zeitgenossen – na ja, er konnte eben mehr, und er verstand zu ergreifen. Da kann es doch nun wirklich egal sein, was er darüber dachte.

All dies soll nicht schmälern, welch großartige Beiträge existieren, so in Deutschland von Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling, besagtem Meister Pepping, Hugo Distler und sogar Paul Hindemith, in Frankreich von Maurice Duruflé, Francis Poulenc oder Jean-Louis Florentz, in Italien von Giorgio Federico Ghedini, in der Schweiz von Frank Martin, in Polen von Krzysztof Penderecki, in Estland von Arvo Pärt, in Lettland von Peteris Vasks, in den USA von Vittorio Giannini, und natürlich in England: von Ralph Vaughan Williams, John Foulds und Benjamin Britten (mit zwei großen, überkonfessionellen Requiem-Vertonungen), Bernard Stevens, Herbert Howells oder eben Edmund Rubbra.

Edmund Rubbra (1901-86) war ein großer Meister im zeitlosen Sinne. Sieht man davon ab, dass er auch ein hervorragender Pianist und überhaupt Musiker war und obendrein ein höchst differenziert reflektierender Theoretiker, so sind es vor allem seine elf Symphonien, die manchem Leser ein Begriff sein dürften. Seine Kammermusik (darunter vier Streichquartette) ist auf keinem geringeren Niveau. Es ist freitonale Musik, die einen Löwenanteil ihrer Qualität lebenslangem intensiven Studium vorbarocker Polyphonie verdankt und diese in eine moderne harmonische Sprache mit fein ausbalanciertem Dissonanzengehalt, kühner Modulatorik und subtil lebendiger Rhythmik überführt. Rubbra, der von der anglikanischen Kirche zum Katholizismus übertrat, hat ja auch eine ‚Symphonia Sacra’ geschrieben, in welcher er das symphonische und das ekstatisch religiöse Element in unsentimental hymnischer Weise fusionierte. Hier nun tragen die vielfach preisgekrönten ‚The Sixteen’ unter Harry Christophers ein wunderbar vielseitiges Spektrum seiner geistlichen a-cappella-Chormusik vor, mit einer Ausnahme: das Credo der ‚Missa Cantuariensis’ wird von einer Orgel begleitet, was dem Ganzen eine willkommene Abwechslung beschert. Diese Chorwerke sind hier selbstverständlich minimal (16!) besetzt, was das Klangbild dem entscheidend annähert, was wir heute von alter Musik erwarten, und somit den archaischen Aspekt betont. Die Aufführungen sind von einer frappierenden Reinheit und Durchhörbarkeit der eminent kunstreichen kontrapunktischen Verschlingungen, obwohl wirklich nicht behauptet werden kann, die Phrasierung sei bewusst im Dienste der melodischen Energetik bzw. der übergeordneten harmonischen Spannungsverhältnisse verstanden. Aber es klingt fantastisch und ist ein großer ästhetischer Genuss, und je nachdem, wie der Hörer in der Lage ist, hinter das offenkundig Erscheinende zu hören, kann er sich vielleicht vorstellen, welche Wirkung diese in einer auch musikalisch idealen Aufführung entfalten könnte. So bleibt es eben beim Staunen, und dafür ist durchgehend Anlass, denn Rubbra ist ein inspirierter und gelassen tiefschürfender Meister des Fachs, der mindestens auf einer Höhe mit hierzulande viel bekannteren Gestalten wie Martin, Pepping oder Distler steht. Er hat übrigens auch ein sehr wertvolles kleines Büchlein über den Kontrapunkt, aus einer mehr freigeistig historisch bilanzierenden als analytischen Warte, geschrieben.

Hauptwerk vorliegender Aufnahme ist aus neun in drei Abteilungen zusammengefassten Motetten gegliederte ‚Tenebrae Nocturns’, von denen die ersten drei 1951, die weiteren sechs 1961 entstanden sind. Innerlich freier und zugleich als Gesamtzusammenhang bezwingender kann man in einem gebundenen Kontrapunkt nicht für Chor schreiben. Diese Musik ist voll Trauer und Verzweiflung, doch sie bleibt bei sich und führt den Hörer mitten in sein Selbst – was wohl auch die hehre Aufgabe liturgischer Musik sein sollte. Ein zeitloses Meisterwerk. Äußerlich am beeindruckendsten ist die doppelchörige ‚Missa Cantuariensis’ von 1945 (eine von fünf Messen Rubbras), und auch ist das Gesamtbild der sieben Sätze von höchster dramaturgischer Vollendung. Eine würdige Lobpreisung der göttlichen Intelligenz. Dass es nicht erst der Entwicklung des Reifestils bedurfte, um den Hörer ganz in den Bann zu schlagen, beweisen die fünf Motetten op. 37 von 1934, und hier ist der Kontrast zwischen den drei ruhigeren und den zwei dramatischeren dazwischenliegenden Sätzen mit souveräner Hand gesetzt. Nichts an dieser Musik ist ermüdend, sie geht immerzu ohne unnötiges Spektakel unbeirrbar ihren ganz eigenen Weg, der vielfach Unerwartetes enthält. Natürlich sind auch die drei Motetten op. 76 von 1952 ein wunderbar zusammenhängend empfundenes und ausgestaltetes Opus, das zugleich zeigt, wie Rubbra immer weniger äußerlich aufreizender Mittel bedurfte , um die seinem Schaffen innewohnende Dramatik zum Ausdruck zu bringen. Und doch wirkt nichts berechnend, routiniert oder überhaupt gemacht an dieser Musik. Sie fließt aus sich selbst, aus den Kräften, die ihre Keimzellen freisetzen im Dienste der substanziellen Texte, die an ihrer Wurzel ergriffen sind und keinerlei konfessionelle Einengung atmen.

Das Klangbild ist für eine Kirchenakustik (Church of St. Alban the Martyr, London) außergewöhnlich klar und durchsichtig, und der ausführliche Begleittext von Alexandra Coghlan sowohl den Komponisten als auch die Werke betreffend sehr informativ, einfühlsam und präzise. Über die Abfolge, die die Tenebrae Nocturns zweimal mit einer Packung Motetten unterbricht und mit der Messe abschließt, kann man geteilter Ansicht sein, doch misslungen ist es nicht. Eine exzellente Produktion, die auch hierzulande Chorleiter anregen sollte, es endlich mal mit Rubbra zu probieren. Eure Chöre werden es Euch danken, und das Publikum sowieso.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, September 2016]

Zauber des Moments

Les Dissonances, LD 009; EAN: 3 149028 105421

Es sind zwei der meistgespielten Werke Schostakowitschs, die der Geiger und Dirigent David Grimal für die neueste Live-Aufnahme mit seinem Orchester Les Dissonances auswählte: die fünfte Symphonie d-Moll op. 47 sowie das Es-Dur-Cellokonzert Nr. 1 op. 107 mit dem Solisten Xavier Phillips. Seit jeher sorgt gerade diese Symphonie bei den Besserwissern für ein leichtes Grinsen, wenn am Ende das strahlendste und starrsinnigste nur vorstellbare D-Dur durchbricht und ein so übermäßig feierliches Ende ergibt, dass es anscheinend überhaupt nicht erst ernst genommen werden kann nach all den Abgründen dieser Musik. Für die Musiker und vor allem den Dirigenten bietet die Symphonie eine harte Nuss, die es zu knacken gilt, so gewaltig sind die Formen und so schwierig gestaltet es sich, all die feinen Übergänge fließend zu gestalten und sich nicht in Details oder Momentaufnahmen zu verlieren, worüber hinaus der Kontext und somit auch der Hörer verloren geht in uferlos sich ausbreitenden Flächen. Mrawinsky, Celibidache und Kondraschin haben allerdings bewiesen, dass die Form sehr wohl bewältigbar ist und ein gewaltiger durchgehender Sog entstehen kann, der mitreißt und alles ausschöpft bis zum Letzten, doch viel zu oft ist auch zu erleben, wie die Zuhörer maßlos überfordert werden durch den Mangel an Bewusstsein über das große Ganze, und spätestens im dritten Satz sind fast immer einige Köpfe niedergesunken. Mit Schostakowitsch über große Strecken zu begeistern ist leicht, dies macht alleine schon die genial gesetzte Partitur mit herrlicher Orchestration und einer Unzahl an tiefgreifenden Effekten, doch sich der Musik voll bewusst zu werden und dies umzusetzen, gelingt den Wenigsten.

David Grimal setzt mit seinem Orchester Les Dissonances auch auf die Magie des Moments. Dadurch entstehen überwältigende Gegenwartsaufnahmen, die mit viel Hingabe und spürbarer Übertragung an glühendem Gefühl dargeboten werden. Düstere Passagen brodeln direkt voll von Feuer und Energie, die großen Steigerungen begehren in höchstem Maße auf und schießen förmlich nach oben, um sich zu entladen. Die düsteren Passagen sind hingegen neblig verhangen, geheimnisvoll und von einer unheimlichen Aura eingesäumt. Klar und transparent gibt sich zudem der Orchesterklang, so dass alle Stimmen hervortreten können und die dichte Polyphonie ihre volle Wirkung entfalten kann. Doch auch bei Grimal zerbricht die Form oft in einzelne Episoden, die zwar jede für sich herausgearbeitet wurden, doch keine zusammenhängende Korrelation spüren lassen. Woran liegt dies? Hauptsächlich spaltet es sich an den subtilen Übergängen auf, die Tempowechsel geraten stockend und werden äußerlich bemerkbar, der Fluss somit unterbrochen. Des Weiteren schwankt auch innerhalb der Abschnitte das Tempo teilweise sehr, drängt gerne einmal nach vorne, die punktierte Rhythmik verstolpert als Folge dessen. Ebenfalls zu nennen ist die Phrasierung, die nicht den umfassenden Bogen spannt, den sie benötigt, um über lange knapp besetzte Passagen zu tragen, sondern sich zu sehr momentverliebt gibt. Hinzu käme das Verständnis über die harmonischen Modulationen – bei Schostakowitsch selbstredend eine an die Grenzen des Korrelierbaren reichende Aufgabe -, mit welchem bezwingend über weit verzweigte Strecken disponiert werden kann (von Celibidache unnachahmbar verwirklicht), was aber auch hemmend wirken kann, sofern die Harmoniechangierungen nicht verstanden werden. Im zweiten Satz neigt Grimal zudem dazu, die Dissonanzen zu verharmlosen, und nimmt somit dem ersten Teil die düstere Doppelbödigkeit, mithin auch den Kontrast zum verspielt scherzenden zweiten Teil.

Der Solopart in dem ersten, Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch gewidmeten Cellokonzert wird von Xavier Phillips übernommen, einem ehemaligen Schüler des Widmungsträgers. Er geht mit klarem und erstaunlich unprätentiösem Spiel die hochvirtuose Stimme an und überzeugt mit Feingefühl und einem angenehmen Cantabile, doch auch mit einer großen Obsession, wenn es an die von Wildheit geprägten Passagen geht. Schade, dass hier das Orchester etwas in den Hintergrund gedrängt ist und in der Abmischung dem Solisten nicht als gleichwertiger Widerpart zur Seite steht.

Zwar mag diese Aufnahme nicht durch vollendetes Formgefühl zu bestechen, doch weiß Grimal sehr wohl, den Zuhörer im Moment zu verzaubern und ihn in seinen Bann zu reißen. Viele Stellen meißelt er vorzüglich heraus und lässt eine atemberaubende Wirkung zu Tage treten, die die vorliegende von der Mehrzahl der unzähligen Aufnahmen dieser Stücke abhebt.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Emil Gilels zum 100. Geburtstag

Am 19. Oktober 2016 wäre Emil Gilels, dieser Titan unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts, 100 Jahre alt geworden. Wie David Oistrach, der überragende Geiger seiner Epoche, wurde er in Odessa geboren, wäre also nach heutigen Maßstäben Ukrainer. Doch kulturell besteht kein Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Und auch, ihn der „russischen Schule“ zuzuordnen, führt schlicht in die Irre. Gilels war als Musiker ein einzigartiges Phänomen, und sicherlich der musikalisch und klangliche vollendetste Pianist, den Russland (oder eben seinerzeit die Sowjetunion) hervorgebracht hat. Was für ein Unterschied zwischen ihm und Svatoslav Richter, dem anderen großen Schüler des legendären Heinrich Neuhaus: Richter, der geniale Sucher, und Gilels, der geniale Finder, um es auf den knappsten Nenner zu bringen. Leider starb Gilels viel zu früh, am 14. Oktober 1985, also fünf Tage vor seinem 69. Geburtstag. Er wurde das Opfer eines Kunstfehlers. Bei einer Routineuntersuchung in einem Moskauer Krankenhaus erhielt er eine falsche Injektion und war binnen weniger Minuten tot. Sein geplantes Gesamtaufnahmeprojekt der Beethoven-Sonaten für die Deutsche Grammophon blieb kurz vor der Zielgeraden unvollendet. Nun  hat das russische Staatslabel zu seinem 100. Geburtstag eine Luxusedition mit 50 CDs zum stolzen Preis von 400 Euro veröffentlicht, das viele bislang unveröffentlichte Mitschnitte enthält und mit einer limitierten Auflage von 2016 Stück bereits fast vergriffen ist. Eine Zeitungsannonce in Russland genügte, und schon hatten viele das Nachsehen… Doch freilich herrscht kein Mangel an Erhältlichem.

Was machte die einzigartige Kunst Gilels’ aus? Es ist oft die Rede vom „goldenen Klang“, von der zutiefsten Ernsthaftigkeit, von der vollendeten technischen Beherrschung, von der strukturellen Strenge, die gleichwohl der Wärme und Leidenschaft keineswegs entbehrt. All das ist richtig. Seine natürliche, runde Wucht, seine filigrane Luzidität, überhaupt die „Natürlichkeit“ seines Spiels wurde stets gerühmt, und eben nicht nur von Kritikern und Strippenziehern, sondern auch von so herausragenden Musikern wie Rudolf Barschai oder David Oistrach. Barschai berichtete, dass es nie auch nur die geringsten psychologischen Schwierigkeiten beim gemeinsamen Musizieren gab, dass Gilels zugleich auf höchster Vollendung bestand und wie kein anderer mit dem Orchester oder in der Kammermusik mit den Streichern zu verschmelzen verstand. Für viele mag überraschend sein, dass dieser Mann, dessen Beethoven, Chopin, Tschaikowsky, Rachmaninoff, Prokofieff oder Schostakowitsch zu Recht aufs Höchste gepriesen wurde, ein phänomenaler Haydn- und Mozart-Spieler war. Und dies eben nicht nur, wenn er alleine spielte – man muss nur die wunderbare Aufnahme von Haydns F-Dur-Sonate mit seiner Schwester, der Geigerin Elisaveta Gilels, hören. Auch Couperin, Scarlatti oder Rameau fanden in ihm einen hinreißenden Meister, und unter den heutigen verehren ihn Klavierhelden wie Grigori Sokolov wie einen Gott. Wie auch anders – seine Fähigkeiten erscheinen unbegrenzt, und fast hätten wir noch erleben dürfen, dass er in München mit Celibidache aufgetreten wäre. Was für ein Zusammentreffen, das nur der so unerwartete Tod verhindern sollte.

Aber ich kann hier natürlich noch viel erzählen… Also lasse ich, unter Verweis auf ergiebiges Material im Internet, lediglich noch ein paar CD-Empfehlungen folgen, auch wenn dies niemals ersetzen können wird, dass wir ihn im Konzert nicht erlebt haben. Rechtzeitig hat die Deutsche Grammophon sämtliche je von ihr veröffentlichte Gilels-Aufnahmen in einem schmucken 24-CD-Schuber zusammengefasst (DG 479 4651) – da sind natürlich die bis auf fünf Sonaten kompletten Beethoven-Sonaten dabei (nur wenige konnten die Hammerklavier-Sonate ähnlich souverän meistern), herrlicher Mozart, die Brahms-Konzete, Chopin, Lyrische Stücke von Grieg, und viel Kammermusik und Konzerte, unter welchen ich das 3. Prokofieff-Konzert mit Kondraschin besonders erwähnen möchte. Von Warner gibt es in der Icon-Serie eine Zusammenstellung der kompletten Emi-Aufnahmen auf 9 CDs, wo sich gleich zweimal die fünf Beethoven-Konzerte befinden (einmal mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell) und die drei Tschaikowsky-Konzerte, das 3. Rachmaninoff-Konzert usw. Sony hat in diesem Jahr sämtliche RCA-Aufnahmen Gilels’ auf 7 CDs wiederveröffentlicht, darunter das 1. Tschaikowsky-Konzert und das 2. Brahms-Konzert mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, zwei Schubert-Sonaten, Liszts h-moll-Sonate und Schostakowitschs 2. Sonate, Bach und Chopins 1. Konzert mit Ormandy (Sony Classical 88875177312). Und mit einem ganz besonderen weiteren 4-CD-Juwel wartete Melodiya auf: ‚Emil Gilels in Ensembles’ – neben besagter Haydn-Sonate mit seiner Schwester fulminantes Duo-Spiel mit Yakov Zak und Yakov Flier, das 1. Klavierquartett von Brahms, die Beethoven’sche Hornsonate op. 17 mit Yakov Shapiro und das Klaviertrio in cis-moll von Andrey Babayev (Melodiya MELCD 10 02210). Also: Hören und selbst erfahren, was ein vulkanischer Künstler, der sich niemals gehen ließ, uns zu schenken imstande war. Für alle Pianisten ist Gilels ohnehin zeitloses Pflichtprogramm, und eine schönere Pflicht kann es kaum geben…

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

Eine Reise wert für dreizehn Minuten

Die Uraufführung von Michael F.P. Hubers Ĉambretosono op. 63 und Arnold Schönbergs zeitloses Meisterwerk Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 wurden am 16. Oktober 2016 neben „Niemals Real und Immer Wahr“ von Jamilia Jazylbekova und „Objet Diaphane – Kammersinfonie“ von Charlotte Seither im VIERundEINZIG in der Hallerstraße 41 Innsbruck dargeboten. Es spielte die Kapelle für Neue Musik Windkraft unter Leitung von Kasper de Roo.

Einmal wieder zieht es mich nach Österreich ins schöne Tirol, und zwar erneut zu einer Uraufführung des Tiroler Komponisten Michael F.P. Huber. Zumal die Zusammenstellung spannend ist, denn sein neues Werk, Ĉambretosono ist für exakt die gleiche Besetzung geschrieben wie Schönbergs Kammersymphonie, welche im direkten Anschluss erklingt. Doch zuvor widmet sich „Windkraft“, wie diese „Kapelle für Neue Musik“ sich nennt, unter Leitung von Kasper de Roo zwei zeitgenössischen Komponistinnen.

Das Programm beginnt mit der Kammersymphonie Objet Diaphane für 13 Instrumente von Charlotte Seither, einer prominenten Gallionsfigur der zeitgenössischen Musik, deren Name immer wieder auf großen Veranstaltungen ‚Neuer Musik’ zu lesen ist. Die Kammersymphonie war ein Auftragswerk der Berliner Philharmoniker und erhielt den ersten Preis beim Internationalen Kompositionswettbewerb Prager Frühling 1995. Das gesamte Werk zentriert sich statisch um Einzeltöne, um welche sich ohne jede innere Folgerichtigkeit durch kleine Sekunden entstehende grelle Dissonanzenreibungen kumulieren. Es gibt keinerlei Entwicklung, Melodie oder irgendetwas, das dem Ganzen Zusammenhang geben würde, wodurch der Terminus ‚Symphonie’ dem Werk an sich nicht entspricht.

Interessante akustische Effekte erklingen in Jamilia Jazylbekovas „Niemals Real und Immer Wahr“ (Jamais Réel et Toujours Vrai) von 2012. Sie vertraut auf das Arsenal der geräuschhaften Effekte inklusive Streichen auf dem Holz oder Blasen ins falsche Ende der Mundstücke. Dadurch mögen reizvolle Klänge entstehen und auch verharrt diese geräuschhafte Musik nicht leblos statisch auf einem Fleck. Jazylbekovas Werk spricht Zustände an und kursiert eindrucksvoll im Raum, bei Hinzunahme von einigen musikalisch verbindenden Elementen wie Melodie oder prägnanter Rhythmik wäre es sogar möglich, das Geschehen auf zusammenhängend mitvollziehbare Bahnen lenken zu können.

Es folgt die Uraufführung Michael F. P. Hubers, und die Zuhörer horchen plötzlich erstaunt auf. Dieses Werk sticht in seiner Musikalität und auch dem profunden Können turmhoch hervor, hier herrscht eine vielgestaltige und feingliedrige motivische Arbeit, die Musik ist von nachvollziehbarem Fluss, alles erscheint in sinnfälliger Abfolge. Auf einen hektisch-wilden Kopfsatz von höchster Schwierigkeit für alle Musiker (denen besonders hier großer Respekt zu zollen ist!) folgt ein ruhig dahingleitendes Andante, doch auch dieses hat einige Überraschungen parat und tänzelt zwischenzeitlich verspielt („Giocoso“), bevor es wieder in die Ruhe zurückgleitet. Der dritte Satz ist ein mitreißender Tanz, dessen Walzerrhythmus immer wieder gewollt ins Stolpern gerät, voll rhythmischer Vitalität und herrlicher Einfälle. Es macht wirklich Freude, dieses dreizehnminütige Werk zu hören, es ist für Kenner gleichsam wie für Liebhaber von überwältigendem Reiz und alleine schon die Reise wert.

Schade, dass man dies nicht über den ganzen Abends sagen kann. Gewiss, Schönbergs Kammersymphonie ist ein großartiges Werk der Pionierzeit der freien Tonalität, doch verlangt es von den Musikern und vor allem vom Dirigenten vieles – darunter auch vieles, was an diesem Abend nicht wirklich vorhanden ist. Kasper de Roo inspiriert nicht, er hält taktierend zusammen und zählt, wobei jedoch die musikalischer Arbeit nicht vollkommen ausreicht – was vermutlich hauptsächlich den zu kurz bemessenen Probenzeiten geschuldet ist. Folglich kann es nicht verwundern, dass auch diese groß dimensionierte Kammersymphonie auseinanderfällt, der Hörer geht verloren in den aneinandergereihten Klangtürmungen, die weder von der Dynamik noch von der Phrasierung her genügend erschlossen wurden. Kasper de Roo verbirgt sich hinter überhetzten Tempi (die Kammersymphonie dauert unter ihm lediglich 22 Minuten!), ein gemäßigteres Tempo würde eine substanziellere musikalische Aussage verlangen, als hier vorliegt, um nicht „langweilig“ zu wirken. Die Musiker beherrschen allesamt ihre Instrumente und können dies auch demonstrieren, wären sicherlich auch zu noch mehr fähig, doch bei der anscheinend an diesem Abend indispositionierten Leitung leidet auch die potentielle Qualität der Instrumentalisten. In den zeitgenössischen Kompositionen sind die Musiker zu Hause und blühen auf, bei Schönberg fällt hingegen der überakustische Raum ins Gewicht, der die Töne knallen lässt und einiges an hineingegebener Geschmeidigkeit raubt.

Ob ich es nun bereue, angesichts der genannten Kritikpunkte bis nach Innsbruck gefahren zu sein? Definitiv nicht, denn alleine dreizehn faszinierende Minuten Musik können fesseln und den Abend zum Erlebnis avancieren lassen.

 [Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Eine ungarische Hochzeit

Nico Dostal – „Eine Ungarische Hochzeit“
Franz-Lehár-Orchester; Leitung: Marius Burkert
Aufnahme: 17-19.08. 2015, Bad Ischl

dieklangschmiede
cpo 77 974-2; EAN: 7 61203 79742 4

Nico Dostals Operette fiel aus der Zeit. Komponiert in den 1930ern, uraufgeführt 1939 in Stuttgart, blieb sie der Vergangenheit verhaftet – nein, versuchte die entschwundene Zeit vergeblich wiederzubeleben. Der damaligen Gegenwart entkoppelt.

Operette, einst ein Medium subversiver Gesellschafts- und Sozialkritik in ihrer Hoch-Zeit, die mit großzügigem Augenzwinkern viele Heucheleien und Verwerfungen der ausgehenden, dann ausgegangenen Kaiserzeit unter die (versöhnlich gefärbte) Lupe nahm – hier ist davon nichts mehr vorhanden.

Die Handlung kurzgefasst: Graf tauscht mit Lakai die Identität. Einfaches Mädel verliebt sich in den scheinbaren Grafen – falscher Lakai verliebt sich in standesgemäß adäquates Fräulein, die hadert, nun einen vermeintlichen Diener anzuschmachten, aber ihn gegen die Widrigkeiten aller Standesdünkel dennoch liebt. Am Ende – wen wundert es – geht es gut aus. Das klingt nach Operette, ist es aber nur bedingt. Denn, wie oben angedeutet, war dereinst Operette nicht nur ulkiges Amüsement, sondern auch subtil formulierte Gesellschafts-, ja fast auch: Systemkritik. Das Libretto der „Ungarischen Hochzeit“ bietet hierzu nichts an. Sie stellt ein sinnfreies Abspulen von harmlosen Verwechslungen, Missverständnissen und gutem Ausgang dar. Am Ende behauptet sich das Ideal eines ständisch geordneten, monogamen Glückes – und sogar von der Kaiserin Maria Theresia (Frau Dolores Schmidinger – als Sprechstimme eindrucksvoll und launig dargeboten) als göttlicher Stimme in aller Güte verordnet und abgesegnet.

So flach wie die Handlung – auch die Dramaturgie und Musik. Dostal vermag durchaus gefällige Linien zu schreiben. Kehlengerecht und schmiegsam. Wie aber der lässliche Text, so auch die Musik: kein einziger Schritt über das geziemende Maß hinaus – keine burlesken, geschweige: grotesken Momente. Kein Versuch, aus den vorhandenen erotischen Spannungen leidenschaftliche oder abgründige Momente zu gestalten, Situationen, die das Wohlgefühl gefährden könnten. Dostal riskiert und gewinnt auch nichts. Das eckt nicht an, reißt nicht mit – plätschert.

Er nützt das Kolorit des Ungarischen nur als Würze aus dem Streuer. Eine ernsthafte Beschäftigung mit den Klängen und musikalischen Valeurs Ungarns klänge anders. Im Gegenteil – streckenweise vergisst er den Anspruch, auf überall „Paprika“ zu rieseln – und dann sind wir plötzlich bei einer beliebigen Gefälligkeit, die so viel – zu viel in den von oben gewollten Nichtigkeiten späterer Ufa-Filme erklingen sollte.

Dieses Stück Musiktheater hatte damals keinen Bezug zu seiner Zeit – somit noch weniger heute zu unserer. Kein Verbrechen, es zu inszenieren und einzuspielen. Bei letzterem Vorhaben sei allerdings die Frage gestattet, weshalb?

Die Musik enträt fesselnder Momente – eines Ohrwurms, eines Schlagers – Momente, wo Musik und Handlung sich fügen zu einer (wenn auch nur angedeuteten) Entgrenzung.

Die vorliegende Aufnahme stellt dahingehend zufrieden, dass Handlung, Musik und deren Darstellung gut zusammenpassen. Hervorzuheben ist die sehr gute Textverständlichkeit, auch in den gesprochenen Partien.

Das Orchester macht alles richtig – allein die Leitung unter Marius Burkert verschenkt fast alles. Mit mehr Rubato, Gas-geben, Nachlassen, Wieder-anziehen, so wie man es von (meistens schlechten) „alla zingarese“-Darbietungen kennt, wäre doch etliches mehr an Attraktivität gewonnen gewesen. Auch das „Wenige“ gilt es ernst zu nehmen und mit Leidenschaft anzupacken. Take it for serious or leave it!

Blutleer – als ob das Ganze den Bohei eh‘ nicht wert gewesen sei. – also: con passione: Fehlanzeige, Herr Kapellmeister! Schade!

Die sängerischen Leistungen – achtbar.

Herausragend zu erwähnen: Frau Regina Riel als Janka, die in der Nummer 14, der Romanze, mit Leichtigkeit und schlankem, klarem Ton den einzigen Moment des Werkes, der etwas tiefer schürft, so tief, wie es die flache Musik erlaubt, sehr schön auszuloten weiß.

[Stefan Reik, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Eine Stunde ein Wimpernschlag – Schubert in Vollendung

Das Trio Ars et Labor im Münchner Freien Musikzentrum

In einer Zeit der Fragmentierung und selbstdarstellerischen Veräußerung, in welcher die Mainstream-Medien in ihrem aussichtslosen Überlebenskampf zu den Knechten einflussreicher Geldgeber mutiert sind und notgedrungen weit überwiegend Hofberichterstattung betreiben, erfüllt ein unabhängiges Medium wie The New Listener eine unentbehrliche Funktion im Bereich der Musik, die außer durch das Abfeiern von Stars, Events und Skandälchen sowohl in den völlig dekadenten Öffentlih-Rechtlichen Anstalten als auch in den Feuilletons und der sogenannten Fachpresse fast durchweg ignoriert wird. Ein Konzert wie das den Trio Ars et Labor aus Perugia, das eben nicht aus Stars, sondern schlicht aus höchstkarätigen, traumwandlerisch aufeinander eingespielten Musikern besteht, wird eben nicht nur nicht von den etablierten Kritikern der ‚Weltstadt mit Herz’ ignoriert, sondern findet quasi außerhalb des Betriebs statt. Diese Musiker müssten im Herkulessaal in einer der großen Reihen spielen, doch sie treten im Abschlusskonzert eines Symposiums im Freien Musikzentrum statt, einer wunderbaren Institution, die Münchner Konzertgängern – sofern sie auf klassische Konzerte spezialisiert sind – so gut wie kein Begriff ist. Und dort war nun am Samstag, den 8. Oktober das letzte Klaviertrio von Franz Schubert in einer Vollendung zu hören, wie dies alle Anwesenden in ihrem Leben noch nicht erlebt hatten – jenes Franz Schubert, der seinerzeit von den hochnäsigen Wienern ebenso ignoriert wurde wie dies heute Musikern widerfahren kann, die sich nicht vom Starsystem auspressen und hypen lassen. Oliver Fraenzke als Chefredakteur von The New Listener gebührt entsprechender Dank für seine Neugier und Courage, das klassische Musikleben quasi von unten aufzurollen, und er hat den einmütigen Eindruck, den die Zuhörer dieses singulären Konzerts mitnahmen, treffend wiedergegeben, soweit dies möglich ist. Ja, die Zeit stand still für mehr als eine Stunde, und wer dabei war, konnte sich glücklich schätzen, einen Schubert gehört zu haben, wie er zumindest seit Celibidaches Wirken mit dieser Kraft der Verinnerlichung als erlebter Gesamtzusammenhang in München nicht zu hören war – also für mehr als zwei Jahrzehnte.

Die Schweizer Pianistin Christa Bützberger, Mentorin und Seele des Ars et Labor-Projekts in einem Land, dessen kultureller Verfall noch weit offenkundiger als hierzulande ist, hat zehn Jahre lang bei Celibidache studiert. Sie gehört zu den wenigen, die offensichtlich verstanden haben, was Celibidache lehrte und vorlebte. Zu Beginn erklang die knappe, dreisätzige Duo-Sonate von Heinz Tiessen (1887-1971), eines der großen expressionistischen Meisterwerke dissonanter Freitonalität der Berliner Szene in der Weimarer Republik, und bis heute nicht auf Tonträger eingespielt. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Tiessen und seinem Schüler Eduard Erdmann der Rang als zwei der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts eingeräumt wird? Im Dritten Reich massiv unterdrückt, hatten sie nie eine Lobby, die sich um die Verbreitung ihrer Werke kümmerte, wie dies jüdischen Komponisten und einigen prominenten Vertretern zuteil wurde. Aber dafür ist es nie zu spät, wenn auch der posthume Ruhm dem Komponisten selbst nicht mehr in den Schoß fällt – doch das gilt ja auch für Schubert. Sara Gianfriddo und Christa Bützberger vermittelten uns mit ihrer so innig musikalischen wie herausfordernd wagemutigen Wiedergabe weit mehr als nur einen nachhaltigen Eindruck, welch großartiges Kaliber musikalischer Erfindung und Gestaltung hier der Vergessenheit entrissen wird. Tiessen gehörte keiner Schule an. Einflüsse des avancierten Richard Strauss und Arnold Schönbergs sind hier zu etwas vollkommen Eigenem, in seiner Authentizität Mitreißendem und zutiefst Berührendem transformiert, und die teils extremen technischen Schwierigkeiten sollten kein Duo von Rang abschrecken, sich mit dieser Musik zu beschäftigen, die mit einer Bewusstheit ohnegleichen durch den freitonalen Raum moduliert und keinen Wunsch offenlässt außer dem, sie so oft wie möglich auf einem solchen Niveau hören zu können.

Danach – ohne Pause – das Klaviertrio in Es-Dur op. 100 von Franz Schubert in der Originalfassung, also ohne die Kürzungen im Finale, die Schubert in seiner Verzweiflung, nicht einmal von seinen besten Freunden verstanden zu werden, für die Drucklegung – die er gerade nicht mehr erleben sollte, und die den Beginn seines Durchbruchs im großen Format markieren sollte – vornahm. So erst kann dieser Satz – und damit das ganze Werk – in seiner ganzen Fülle und nur wieder von Bruckner erreichten großen Dimension wirken. Man muss erlebt haben, wie die Geigerin Sara Gianfriddo und die Cellistin Héloïse Piolat wie zu einem Wesen verschmolzen in der Tongebung, Phrasierung und subtilsten Elastizität des Tempos, und wie Christa Bützberger – auf dem nun wahrlich nicht optimalen Yamaha-Flügel des FMZ – das Ganze trug, jede Schattierung hörbar machend, ohne dass auch nur ein Moment Selbstzweck würde. Alles dient der Formentwicklung als Ganzes. Die ergreifende Innigkeit hat überhaupt nichts zu tun mit schmachtender Sentimentalität, und ebenso nichts mit abstrakter Nüchternheit. Die Hörer wurden mit dem Dreiklangsmotiv des Beginns in Empfang genommen und mit der Coda des Finalsatzes entlassen. Was dazwischen war, entzieht sich in der Essenz jeder Beschreibung. Als hätte man ein ganzes Leben, in vier Stationen gegliedert, in einer guten Stunde durchschritten, durchlitten, durchlebt. Die frappierende Makellosigkeit der Aufführung zu bestaunen ergab sich sozusagen keine Gelegenheit, da der Spannungsbogen so unwiderstehlich und bruchlos errichtet wurde, dass jeder Gedanke, der einen Aspekt herausgegriffen und gesondert bewundert hätte, sich zerstörerisch auf das Erleben ausgewirkt hätte.  Jedoch sei erwähnt, dass die Modulationen mit einer Feinsinnigkeit und visionären Gestaltungskraft einmaliger Qualität ausgehört uns ausmusiziert wurden, dass die das Metrum transzendierende Artikulation keinen Anflug von Schwere zuließ, dass die Tongebung auch im fernsten Pianissimo noch substanziell und im machtvollsten Fortissimo nie grob war, dass in all der Manifestation unerschöpflicher Mannigfaltigkeit nie ein Effekt um des Effekts willen produziert wurde, der Rhythmus aufs Natürlichste ausschwang, die Musik ihren ganz eigenen Sog frei entfalten konnte, bei aller Disziplin des gemeinsamen Erfassens eine ideale Freiheit der Gestaltung erreicht wurde. Die Zeit verging wie im Fluge, sozusagen eine Stunde ein Wimpernschlag.

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Und die Zeit steht still

Den musikalischen Abschluss des dreitätigen interdisziplinären Symposiums „Vergleichzeitigung. Resonanzen durch Musik“ vom 06. bis 08. Oktober 2016 im Münchner Freien Musikzentrum bildet ein Konzert des Trios Ars et Labor aus Perugia mit Christa Bützberger am Klavier, Sara Gianfriddo an der Violine und Hélioïse Piolat als Cellistin. Auf dem Programm steht das große letzte Klaviertrio Franz Schuberts, Es-Dur D. 929, sowie zuvor die Duo-Sonate op. 35 für Violine und Klavier von Heinz Tiessen.

Welch ein musikalischer Höhepunkt ist dieses Konzert nach dem Symposium über Vergleichzeitigung, an welches es so nahtlos anschließt. Nicht nur, dass die Pianistin des Trios Ars et Labor, Christa Bützberger, selbst am Vortag noch einen Vortrag über die Aktualisierung und Vergleichzeitigung in Schuberts Es-Dur-Klaviertrio D. 929 hielt, nein, auch wurde die lang theoretisch besprochene musikalische Phänomenologie hier in der Praxis erlebbar.

Das Symposium schloss die Phänomenologie von mehreren Seiten aus ein, am ersten Tag gab es interdisziplinäre Vorträge aus den Bereichen der Religionswissenschaft, der Psychologie und der Philosophie, vor allem wurden hierbei die transzendierenden Zustände des menschlichen Bewusstseins beim Hören von Musik thematisiert sowie der Vorgang im menschlichen Gehirn. Der zweite Tag widmete sich hauptsächlich der Musik, nach einer eröffnenden Performance von Gunter Pretzel auf der Bratsche folgte der phantastische Vortrag von Christa Bützberger, die einem das harmonische Geschehen in der Musik Schuberts (und auch allgemein) so greifbar nahe bringen und auch die Liebe zu dieser Musik vermitteln konnte. Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz weckte die Erinnerungen an die elementare Formlehre, gerade die kadenzierenden Schlüsse in ihrer Mannigfaltigkeit zeigte er anhand einer Sonate von Mozart. Christoph Schlüren sprach über „Korrelation und Transzendenz in der Musik“, stieß dabei gewagt etliche Thesen über die Entwicklung der abendländischen Musik wie die „Gewöhnungs-Theorie“ (Konsonanzen und Quinten-Zirkel seien bloße Konditionierung und nicht naturgegeben) um und konnte auf voller Linie überzeugen. Einen nie so erlebten Zugang zur Musik legte Juan José Chuquisengo dar, der peruanische Meister rekonstruierte Stück für Stück ein berühmtes Klavierwerk, angefangen bei der Rhythmik, welche er das Publikum in Takte und Schläge einteilen ließ (womit er auf absolute Überforderung stieß, welche Überraschung bei solch hoch gebildeten, musikalisch professionellen und teils prominenten Zuhörern!). Später folgten absichtlich verfälschte Tonhöhen, dann ein Harmoniegerüst und erst nach über einer halben Stunde kam das Publikum langsam erstaunt auf die simple wie überraschende Lösung: Es handelte sich um Clair de Lune von Chaude Debussy – das grundlegende Verständnis von Musik wurde hier innerhalb einer Stunde revolutioniert! Ein religionswissenschaftlicher Vortrag über Rituale rundete den Tag ab. Der dritte Tag brachte einen grandiosen medizinisch-psychologischen Vortrag von Prof. Ernst Pöppel über die Beeinflussung des musikalischen Zeitmaßes durch das Gehirn, eine Podiumsdiskussion mit dem nun 80 Jahre alt gewordenen Hans Zender, bei welchem sogar Zuschauer vor Empörung über das Unverständnis dieses eigentlich angesehenen Komponisten (dem am Vortag ein ganzes Konzert der Musica Viva gewidmet war) den Saal verließen, ein Gespräch zwischen Prof. Dr. h.c. Peter Michael Hamel und Christoph Schlüren sowie eine von Hamel geleitete kollektive Stimmimprovisation mit dem Publikum.

Das Konzert des Trios Ars et Labor am Abend des 08. Oktober beginnt mit der Duo-Sonate von Heinz Tiessen, dem wichtigsten Lehrer von Sergiu Celibidache („ich habe alles von Tiessen gelernt“) sowie von Eduard Erdmann, dem unangefochten größten deutschen Pianisten, von welchem Aufnahmen erhalten sind. Das 1925 entstandene dreisätzige Werk Tiessens ist ein absolutes Meisterstück des Expressionismus und geht in freier Tonalität an die Grenzen des Korrelierbaren (oder sogar darüber hinaus?). Dieses selten gespielte Werk höre ich heute das erste Mal und kann offen gestehen, es bei einmaligem Hören noch nicht vollständig durchdrungen zu haben – so komplex und vertrackt, in solch einem gewaltigen allumfassenden Bogen, dessen zentrifugale Kräfte an die Grenzen des Wahrnehmbaren reichen. Doch glaube ich, dennoch relativ viel von der Musik zu verstanden zu haben, und dies ist nicht mein Verdienst, sondern das der Musiker. Die verzweigten Melodien sind von fein gefühlter Phrasierung, die stark erweiterte Harmonik absolut nachvollziehbar. Plötzlich ziehen dichte Wolken auf und es donnert musikalisch, doch auch das heftigste Aufbegehren bleibt geschmeidig und ohne grobe Härte.

Im direkten Anschluss gibt es Schuberts letztes Klaviertrio Es-Dur D. 929, welchem er die Opuszahl 100 verliehen hat. Dieses Stück sollte Schuberts Durchbruch sein, wenngleich er diesen nicht mehr erlebte, einen Monat vor der finalen Drucklegung verstarb der Meister viel zu früh. Doch hatte er es selbst noch einige Male hören dürfen, die Kritik war begeistert, doch einige Freunde nannten den Finalsatz zu lang. So nahm Schubert zwei große Kürzungen in der Durchführung vor, über einhundert Takte fielen – scheinbar für alle Zeit – aus dem Text heraus und wurden nicht mitgedruckt. Erst in den 1970er-Jahren wurde in einer neuen Ausgabe das wiederentdeckte Manuskript berücksichtigt und die eigentliche Fassung wiederhergestellt, diese ist heute zu hören. Und die Welt hat was verpasst: Welche Magie steckt in den gestrichenen Passagen, welch unfassbare harmonische Genialität und welch ein finalkonvergenter Höhepunkt, der an einer Stelle die Themen aller Sätze zusammenlaufen und damit verblüffen lässt!

Das Trio verzaubert! Ich übertreibe nicht, zu sagen, dass dies mit Abstand der beste Schubert ist, den ich je gehört habe. Die Musiker fühlen alle Nuancierungen der harmonischen Spannung und setzen diese auf einmalige Weise um, dass es einem direkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Jedes Spannungsverhältnis ist von innen heraus gefühlt, die Übergänge geschmeidig fließend und zu keiner Zeit gibt es nur den geringsten Abfall an Energie. Und wenn nicht schon beim ersten Satz, so bleibt spätestens im Andante con moto die Zeit stehen – die während der Vorträge so viel besprochene Zeitlosigkeit ist hier am eigenen Leib zu erfahren. Sogar den weiträumigen vierten Satz spielen die Musiker in einem Zug ohne Ecken und Kanten in unwiderstehlich organischer Formung. Vom Klavier aus hält Christa Bützberger das Trio musikalisch zusammen und leitet mit größter Geschmeidigkeit. Ihr Spiel ist farbenreich in unzähligen dynamischen wie artikulatorischen Abstufungen, dabei von ungezwungener Leichtigkeit und mit einer atemberaubenden Zuneigung zur Musik, die in jedem Ton spürbar wird. Einen lockeren Ton hat Sara Gianfriddo an der Violine, sie schwingt sich spielerisch in die Höhen und besticht mit einem erhabenen und doch so nahen Ton voll von innerem Gefühl und unverfälschtem Ausdruck. Am Violoncello begeistert Hélioïse Piolat, selten ist eine so unprätentiöse Cellistin zu hören, sie stellt sich nicht mit übermäßigem Vibrato und überzogenen Dynamiken zur Schau, wie es so oft zu hören ist, sondern vertraut der Feingliedrigkeit und dem zentrierten Bewusstsein über die Musik, womit sie ausnahmslos überzeugt. Die Musiker beherrschen auch den Raum und vermögen, ihn komplett auszufüllen: Einmal will ich mich fast umdrehen, da ich mir sicher bin, das Klavier in seiner hohen Lage hinter mir gehört zu haben. So sind die drei Musikerinnen bei aller Synchronizität und ihrem unzertrennlich verbundenen Zusammenwirken doch auch noch Individuen, die ihren Teil zur Musik beitragen und wie von unterschiedlichen Ecken des Raums auf das Publikum eindringen.

Nach dem Konzert ist es lange still, so in den Bann genommen sind die Zuhörer noch, und auch nach dem tosenden Applaus bleibt das Publikum wie gefesselt – nur langsam wird gewahr, dass dieser unvergleichliche Abend bereits vorüber ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Hans Zender zu Ehren – Eröffnungskonzert der musica viva

© Astrid Ackermann
© Astrid Ackermann

Das Eröffnungskonzert der neuen musica viva Saison am 07.10.2016 (20 Uhr) widmete sich diesmal ausschließlich der Musik des Komponisten Hans Zender, der über viele Jahre die Reihe – gerade auch als Dirigent – eindrucksvoll mitgestaltet hat und nächsten Monat seinen 80. Geburtstag feiert. Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter einem subtil und präzise agierendem Emilio Pomàrico zeigten mit vereinten Kräften einmal mehr ihre eindrucksvolle Kompetenz in Sachen Neuer Musik – auch wenn die dargebotenen Werke durchaus Fragen aufwerfen.

Hans Zenders Verdienste als Dirigent – nicht nur zeitgenössischen Repertoires sondern auch aller Stilrichtungen spätestens ab der (Wiener) Klassik – sind unbestritten; und auch die musica viva hat davon über die Jahre hinweg profitiert: Ich erinnere mich etwa gerne an das großartige Konzert von 2006 mit Scelsi und Zenders Bardo. Zender (Jahrgang 1936) wurde genau in die Generation junger Komponisten hineingeboren, die von Beginn an zur Auseinandersetzung mit den Konflikten zwischen den sich nach dem Zweiten Weltkrieg bildenden Lagern der „Neuen Musik“ gezwungen war, wo dann schließlich jeder seine eigene künstlerische Position innerhalb einer nunmehr existierenden „geistigen Situation ‘Postmoderne’“ (Zender) finden musste. Vereinfacht ausgedrückt: Irgendwo zwischen den „Darmstädtern“, die die Fackel eines recht dogmatisch geprägten Fortschrittsbegriffs als die ihrige beanspruchten (Zender benennt dies in seinem Buch Happy New Ears als „Avantgarde“), und den zu ihnen sich geradezu „kompensatorisch“ verhaltenden Strömungen, die um eine „Integration alter kultureller Inhalte ins moderne Bewusstsein“ bemüht waren („Manierismus“) schien sich ein junger Komponist entscheiden zu müssen. Diese beiden ästhetischen Pole vergleicht Zender nun mit Heraklit als gegenstrebige Fügung. Zender nennt aber als gewissermaßen dritten Weg aus diesem Dilemma die Tendenz zur Grenzüberschreitung, und innerhalb derer als besonderes Phänomen das der Stille. Diesem begegnet man auf verschiedene Weise etwa bei den Vertretern der New York School oder aber als eine bewusste Art der Verweigerung bei Helmut Lachenmann. Bei Zender kommt allerdings noch als bedeutender Faktor seine intensive Beschäftigung mit der asiatischen Kultur („Zen“) ab ca. 1972 hinzu, die das strikt lineare, westliche Zeitbewusstsein ganz wesentlich öffnet. Ich frage mich allerdings, inwieweit von ihm als Komponist hier durch „intertextuelle“ Verknüpfungen tatsächlich eine Art Synthese zwischen westlichem und östlichen Denken angestrebt wurde, und ob diese während einer Aufführung dann auch auf einer sinnlichen Ebene hörbar wird.

Die drei dargebotenen Werke aus den letzten knapp 20 Jahren nutzen sämtlich schon Zenders System von Zwölfteltönen („gegenstrebige Harmonik“ mit Aufteilung der Oktave in 72 Tonstufen), das eine sehr differenzierte Entfaltung von Obertonspektren sowie zumindest annähernd auch die „reinen“ Intervalle, die seit der wohltemperierten Stimmung westlichen Ohren weitgehend abhanden gekommen sind, realisieren kann. Wenn Zender darin „ein großes Stück Zukunft“ für die Musik sieht, liegt er meines Erachtens goldrichtig. Sowohl den älteren mikrotonalen Experimenten Alois Hábas, gerade aber auch dessen Harmonielehre, die lediglich vorgibt, eine solche zu sein, wie zwangsläufig dem Serialismus ab und in Nachfolge der Zweiten Wiener Schule fehlt ja jegliche harmonische Basis. Allerdings – so viel sei vorweggenommen – scheinen mir einige jüngere Komponisten hier bereits weiter fortgeschritten zu sein, möglicherweise aber trotz vergleichbarer Tonsysteme und spektraler Techniken mit  recht unterschiedlicher Intention: Ich nenne stellvertretend nur Enno Poppes „Ich kann mich an nichts erinnern“ (musica viva 2015) oder Georg Friedrich Haas‘ „limited approximations“ für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere und Orchester (2010), das in München beim räsonanz-Stifterkonzert 2016 zu hören war. Beides begeisterte – für mich durchaus überraschend – einen Großteil des Publikums. Natürlich kann man derartigen Aufwand aus ökonomischen wie auch allein schon räumlichen Gründen kaum bei jedem Orchesterstück betreiben. Aber sollten etwa die Stellen mit zwei im Vierteltonabstand gestimmten Klavieren sowohl in den Logos-Fragmenten beim besprochenen Konzert wie z.B. auch in Bardo nicht ausdrücklich als den Hörer in ein starres Netz zurückwerfende Momente innerhalb der jeweiligen Werke gemeint sein, so wirkte Zender hier merkwürdig kontraproduktiv – als ob er sein eigenes System, das tatsächlich die Ohren unmittelbar empfindlich schärft, in Frage stellen würde.

Der Dirigent des Abends, Emilio Pomàrico, hat sich bereits in einigen Konzerten der musica viva als kongenialer Gestalter äußerst komplexer Musik erwiesen (Symphonien von Stefan Wolpe und Elliott Carter!), der nicht nur als präziser Sachwalter mit allen nötigen (schlag)technischen Mitteln agiert, sondern tatsächlich auch emotional mitgeht und dies sowohl auf die Musiker wie auch das Publikum zu übertragen imstande ist. Auch den vielschichtigen Ansprüchen, die Zenders Partituren an die Interpreten stellen, steht er souverän und mit sichtlicher Empathie gegenüber – eine wirklich beeindruckende Leistung. In seinen Händen lag bereits die Uraufführung der gesamten Logos-Fragmente.

Kalligraphie IV (1997/98) benutzt als Material das Offertorium der gregorianischen Pfingstliturgie, das aber trotz dessen Steuerung der linearen Abläufe als solches für den Hörer unidentifizierbar bleibt. Man folgt lediglich einer mehr oder weniger emotional aufgeladenen Welle aus hochdifferenzierten Klängen, deren Klimax dann etwas unmotiviert erscheint und damit das Stück als quasi „zu kurz“ beendet. Zenders Instrumentationskunst ganz abgesehen von den erweiterten Möglichkeiten seines Tonsystems ist bewundernswert; eine der differenzierten Harmonik innewohnende „Logik“ oder auch nur lokale „Zielstrebigkeit“ kann sich bei mir beim ersten Hören hingegen nicht wirklich erschließen. Das Publikum nimmt dieses Werk anscheinend auch nur dankbar als „Vorspeise“ auf.

Issei no kyō (Gesang vom einem Ton, 2008/09) gehört zu den „japanischen“ Stücken Zenders, denen ein Gedicht des Zenmeisters Ikkyū Sōjun aus dem 15. Jahrhundert zugrunde liegt, der allerdings in klassischem Chinesisch schrieb. Der Vierzeiler, in vier Sprachen – dem Original sowie auf deutsch, französisch und englisch – interpretiert, denen vier verschiedene Ausdruckscharaktere zugeordnet werden, zitiert den chinesischen Mönch Pu Hua (japanisch: Fuke), auf den sich später ein japanischer Bettelorden berief, deren Mitglieder u.a. mit dem Spiel der Shakuhachi übers Land zogen. So interagiert (als alter ego?) eine solistische, ihren Standort verändernde Piccoloflöte (vorzüglich: Nathalie Schwaabe) theatralisch mit der Sopranistin Donatienne Michel-Dansac. Diese verfügt stimmlich zwar über die nötige Modulationsfähigkeit bzw. Technik – die Gesangspartie verlangt neben dem reinen Singen alle Artikulationsmöglichkeiten bis hin zum Sprechen – und integriert sich mit großer Sicherheit ins instrumentale Geschehen, bleibt allerdings innerhalb der jeweiligen obigen Charaktere, die ständig neu gemischt werden, oft seltsam eindimensional. Leider kann hier der Dirigent stellenweise auch nicht verhindern, dass das Orchester die Solistin klanglich zudeckt. Dass Zender, wie im Programmheft zu lesen, „nie irgendwelche Chinoiserien im Sinn hatte“, kann ich bei diesem Stück nicht so ganz nachvollziehen. Sowohl die Imitation der Shakuhachi – gegenüber der das Piccolo leider zu grell wirken muss – als auch einige Stellen in den Becken, die sehr stark an aus der Peking-Oper bekannte Schlagzeugeffekte erinnern, beweisen eher das Gegenteil; allerdings sind diese Bezüge anscheinend auch augenzwinkernd gemeint. Insgesamt können die im Detail wiederum sehr schön ausgearbeiteten Kontrastierungen – etwa die Gegenüberstellung von Holz und Metall im Schlagwerk – doch nicht wirklich über 24 Minuten tragen. Manches wirkt hier bald ermüdend, wie andauernde schnelle Schnitte in einem zu lang geratenen Videoclip, und die formale Anlage bleibt letztlich verschleiert.

Nach der Pause folgt zum Glück ein Werk ganz anderen Kalibers: Fünf Stücke (Nr. II, IV, III, VIII und IX) aus den insgesamt neun Logos-Fragmenten (2006-2012), die nach dem Willen des Komponisten durchaus in unterschiedlicher Konstellation und Auswahl aufgeführt werden dürfen. Einheit soll hier nicht „durch das Subjekt geschaffen“ werden: Die einzelnen Teile des Zyklus sind absichtsvoll heterogen und vermeiden geradezu aufeinander beziehbares musikalisches Material – allein die Besetzung und die Textauswahl aus demselben historischen und kulturellen Umfeld (Johannes-Evangelium etc.) bleibt einheitlich. Tatsächlich gelingen Zender hier Momente von großer Ausdruckskraft und trotz ja stark wechselnder Kompositionstechniken, die die „äußere“ Struktur betreffen, geradezu ritueller Intensität. Hier greifen sowohl Zenders harmonisches System wie auch auf rhythmischer Ebene konsequente großräumige Überlagerungen, die man so noch am ehesten von Elliott Carter her kennt. Beim Chor stört übrigens die (nur) vierteltönige Intervallik nicht – wohl, weil sie eben nicht so gnadenlos präzise daherkommen kann wie bei den beiden Klavieren. Die Mitglieder des Chores des Bayerischen Rundfunks, eingebettet in ein in drei Gruppen aufgeteiltes Riesenorchester, agieren hier als 32 Solostimmen und belegen so auch ihre individuelle künstlerische Qualität. Besonders hervorzuheben – allein wegen ihrer umfangreicheren Soli – sind Masako Goda und Matthias Ettmayr. Das allgemein hohe Niveau bei solistischen Aufgaben zeigt sich dann auch in den schönen, gelenkt-aleatorischen Passagen im Logos-Fragment Nr. IV: Weinstock. Die Verteilung der Sänger über das gesamte Orchester konnte aufgrund der räumlichen Gegebenheiten des Herkulessaals nicht realisiert werden; die ungewohnte Positionierung vor dem Orchester erweist sich aber als bestmöglicher Kompromiss, der insbesondere eine erstaunliche Textverständlichkeit bewirkt. Kompositorisch haben mich zumindest die drei zuletzt dargebotenen Stücke vollends überzeugt und auf jeden Fall meine Neugier auf den Rest dieses Zyklus‘ geweckt – sicher eines der besten Werke Hans Zenders. Am Schluss gibt es zu Recht großen Applaus für alle Darbietenden, die dann dem mittlerweile leider etwas gebrechlich wirkenden Komponisten, der sich trotzdem nicht nehmen lässt, aufs Podium zu kommen, auch wirklich alle Ehre erweisen. Der große und sicher aufrichtige, gegenseitig gewachsene Respekt ist quasi hautnah zu spüren.

Man darf sich schon jetzt auf die Rundfunkübertragung freuen (Dienstag, 22. November 2016, 20.03 Uhr auf BR-Klassik).

[Martin Blaumeiser, Oktober 2016]

Kopf in den Wolken? Die Klaviermusik des Sergei Bortkievicz

Russian Piano Music Series – Volume 12: Sergei Bortkievicz – Klavier: Alfonso Soldano
Klaviersonate Nr. 2, Esquisses de Crimée, Lyrica Nova, Nocturne, Étude Op. 15, Drei Präludien
Label: divine art; Art.-Nr.: dda25142 / EAN: 0809730514227

In der Serie „Russian Piano Music“ veröffentlicht das Label „divine art“ nun ein Album mit Musik des Komponisten Sergei Bortkievicz. Dass Bortkievicz Ukrainer war und zudem ein äußerst untypischer Vertreter der Musikszene während der Sowjetzeit, verwirrt im Zusammenhang mit dem Erscheinen in der genannten Reihe. Interpretatorisch hat das Album dank des beherzten Einsatzes des Pianisten Alfonso Soldano für diese nicht unproblematische Musik jedoch sehr viel zu bieten.

Der Grat zwischen „Oh, das gefällt mir aber gut“ und „Ui, das gefällt mir aber gar nicht“ ist oft schmaler als man denkt. So geschehen bei mir hinsichtlich der Musik des hierzulande nur wenig bekannten Komponisten Sergei Bortkiewicz, der von 1877 bis 1952 lebte. Obwohl er den größten Teil seines schöpferischen Lebens im 20. Jahrhundert verbrachte, schrieb er Musik, die man vordergründig am Ehesten mit Komponisten wie Frédéric Chopin, John Field oder Mili Balakirev vergleichen könnte.

Bortkievicz studierte bei Anatoli Liadov, der (bei allem Respekt für Liadovs Musik, die ich sehr schätze) ein ebenfalls eher rückwärts gewandter Komponist war. Trotzdem mag man Bortkievicz, der überiegend Klaviermusik komponierte, kaum als Fortführung von Liadovs Stil einstufen, eher ging der Schüler noch einen Schritt weiter zurück als der Lehrer, und so gehen Bortkievicz zum Beispiel auch so ziemlich alle „Impressionismen“ ab, die immerhin Liadov (der 20 Jahre früher geboren wurde) auf seine späten Tage noch reichlich auslebte.
Bortkieviczs Musik ist deshalb durchaus heikles Terrain: Spielt man ihn wie Chopin wäre es einfach falsch, denn Bortkievicz ist bei aller Rückwärtsgewandtheit doch ein Komponist, der einen anderen Rückblick auf die Musikgeschichte hatte. Er ist, was die Mittel des Komponierens für das Klavier angeht, zweifellos auf der Höhe seiner Zeit und bedient sich immer wieder Effekten, die etwa auch bei Rachmaninov oder Prokofiev zu hören sind. Spielt man ihn aber wie Rachmaninov, so würde man die bemerkenswerte Historizität von Bortkieviczs Musik unter den Tisch kehren, denn auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Rachmaninov war ein moderner Komponist, in seinen Ansätzen viel moderner, als man auf den ersten „Blick“ hört.

Nun ist eine CD erschienen, die einen quasi idealen Mittelweg findet und eine Interpretation vorlegt, bei der Bortkieviczs Musik auf optimale Art und Weise zum Zuge kommt. Zu verdanken ist dies dem Pianisten Alfonso Soldano, der diese Musik mit so viel Hingabe und Herzblut spielt, dass man gar nicht anders kann, als bezaubert zu sein. Soldano ist zudem ein Pianist, der spieltechnisch völlig souverän agiert und überhaupt gar keine Probleme bei der Ausführung dieser über weite Strecken hoch virtuosen Musik hat. Die geradezu herzerwärmende Emotionalität, die Soldano in seine Interpretation legt, ist einfach entwaffnend. Zudem stellt Soldano Bortkievicz genau als den dar, der er ist: Als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der aber womöglich gern 80 Jahre früher geboren worden wäre. Ein bemerkenswert schöner Klavierklang in einer makellosen Aufnahmetechnik tut sein Übriges dazu, dass diese CD als eine Referenz in Sachen Bortkievicz durchgehen kann. Ich würde sagen, sie schlägt so ziemlich alles andere, was ich von diesem Komponisten bislang von anderen Pianistinnen und Pianisten auf anderen Labels gehört habe (denn live hört man Bortkieviczs Musik ja praktisch überhaupt nicht).

Ein Satz zum Schluss: Leicht irritierend ist es, dass diese CD in der Reihe „Russian Piano Music“ des Labels „divine art“ erscheint. Ist Bortkievicz nicht in der Ukraine geboren? Hört man sich seine Musik an, so ist der Einfluss Liadovs zwar spürbar, aber ansonsten sind kaum Rückgriffe auf die große russische Schule zu hören. Teilweise nimmt der Komponist sogar klipp und klar Bezug auf die deutsche Tradition: Bach, Beethoven, Schumann, Brahms. Vor allem aber scheint er Chopin- und Field-Bewunderer gewesen zu sein. Deshalb ist es zumindest irreführend, ihn in dieser Serie zu bringen, zumal er nicht einmal besonders typisch für die sowjetische Klaviermusik ist. Sein Stil wirkt hingegen eher wie ein Eskapismus aus dem sowjetisch-russischen Musikzwang. Bortkieviczs Musik ist schwelgerisch, verträumt, ganz und gar überirdisch und überhaupt nicht lebensnah.

[Grete Catus, September 2016]

Singe, wem Gesang gegeben…

Hans Koessler (1853-1926): Chorwerke
Cantabile Regensburg; Matthias Beckert

Helbling HI-C7937CD
9 783990 355251

Schon oft erwähnt: Einer der großen Vorzüge des Mediums CD ist die überaus große Bereicherung des Repertoires seit Jahrzehnten. Von Musikern bekommen wir zu hören, die oft der Vergessenheit oder der Ignoranz zum Opfer fielen, gäbe es nicht immer wieder neue Entdeckungen, für die man den Firmen stets aufs Neue Dank sagen muss.

So auch für diese CD mit Werken eines mir bis dato unbekannten Komponisten namens Hans Koessler (1853-1926), des Begründers der großen ungarischen Schule, aus welcher in nächster Generation Dohnányi, Bartók, Kodály, Leo Weiner, Fritz Reiner und Lajtha hervorgehen sollten, und aus deren Budapester Schule wiederum die prägenden Dirigenten Szell, Dorati, Fricsay, Solti, Kertesz usw. Die große ungarische Schule, geboren aus der Tätigkeit eines einzigen Mannes. Auch wenn ich selber jahrelang in verschiedensten Chören gesungen habe, selber Chorleiter bin, war mir dieser Herr bisher nicht geläufig. Was ein Fehler ist, wie diese CD mit dem Regensburger Chor Cantabile unter seinem Dirigenten Matthias Beckert beweist. Denn die Werke, die wir zu hören bekommen, sind Chormusik vom Feinsten.  Dazu gibt das sehr umfassende Booklet Auskunft über einen Musiker, der – entfernter Cousin von Max Reger und wie dieser in der Oberpfalz geboren – sein Glück machte, als ihn Franz Liszt 1882 nach Budapest an die ungarische  Landesmusik-Akademie berief. Dort wurde er der prägende Lehrer in der Nachfolge seines sächsischen Vorgängers Robert Volkmann (1815-1883).

Koessler selbst hielt sich und seine Kompositionen möglichst im Hintergrund, bis die Musikverlage auf ihn aufmerksam wurden und er den durchaus verdienten Ruhm empfangen konnte. Wenn er auch alles andere als ein Neutöner war – Brahms beehrte ihn mit seiner Freundschaft –, so zeugt seine Musik von absoluter Meisterschaft und ist eine wunderbare Bereicherung des Chor-Repertoires in der Nachfolge Brahms’. Seien es  seine neun Lieder nach Texten von Goethe und anderen, seien es seine drei ernsten Chöre oder seine geistlichen Chorwerke und auch die altdeutschen Minnelieder, alles ist meisterlich komponiert und ebenso meisterlich vom Chor Cantabile gesungen. Die Palette reicht dabei vom durchaus kraftvollen Fortissimo bis zum kaum hörbaren – aber eben umso intensiver erlebten – Pianissimo, das Matthias Beckert – seines Zeichens Professor in Würzburg und Hannover – „seinem“ Chor ermöglicht. Der Klang bleibt immer offen, was für mich ein Zeichen ist, dass eben nicht gesungen wird „wie ein Mann“, sondern das Erleben und Gestalten der Musik im Vordergrund steht.

Dass im Booklet alles Informative samt den Liedtexten auf Deutsch, Englisch oder auch auf Lateinisch abgedruckt ist, zeigt, wie wohl durchdacht und überlegt diese CD gestaltet wurde. Der Helbling-Verlag im schwäbischen Esslingen hat übrigens einiges davon auch in Noten neu herausgegeben und veröffentlicht seine CDs in Zusammenhang mit diesen sehr empfehlenswerten Notendrucken.

Eine bedingungslose Empfehlung ist die verdiente Folge solcher Aktivitäten!

[Ulrich Hermann, September 2016]

Obsession aus Tirol

Karl Senn: 1809. Drei Sätze für Orchester; Romantisches Konzert; Vorfrühling.
Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl; Michael Schöch, Klavier.
Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 83, erhältlich auf: www.musikland-tirol.at

Ein Tiroler, dessen Name mir noch nie zu Ohren gekommen war, wurde mir für meinen Einstand bei The New Listener anvertraut: Karl Senn. Heute ist Senn komplett vergessen, da er sich politisch rechts engagierte, zunächst dem österreichischen Faschismus huldigte und später der NSDAP beitrat (http://arge-ns-zeit.musikland-tirol.at/content/senn/index.html). Durch die Verstrickungen Senns mit dem ‚Regime‘ ist damals ungehört auch seine Musik schlechtgeredet worden:  als regional oder banal. Zu diesem allgemeinen Vorurteil führten allerdings hauptsächlich einige Liederbücher mit NS-Gedankengut, die viel später entstanden sind als die hier zu hörenden großen Orchesterwerke.

Den Lebensdaten nach, 1878 in Innsbruck geboren und dort 1964 auch gestorben, ist Senn ein Musiker, der den Umbruch in die Moderne voll miterlebt haben muss und sogar in die musikalische Avantgarde der 60er-Jahre noch hineinschnuppern durfte. Doch so klingt seine Musik nicht, zumindest nicht die hier dargebotene von 1913, 1925 und 1937/8. Viel eher scheint Senn noch der Spätromantik verpflichtet zu sein in den vorgegebenen Bahnen der Dur-Moll-Tonalität und mit Fixierung auf großflächig formale Gestaltung, die die Grenzen des Zusammenhängenden beinahe sprengen möchte. Schnell wird jedoch klar, dass Senn nicht zu jenen mittelmäßigen Postromantikern gehört, die den gleichen übersentimentalen Einheitsbrei immer und immer wieder hochwürgen und wiederkäuen.

Ganz im Gegenteil, Karl Senn hat (trotz unüberhörbarer Einflüsse gerade von Mahler und Strauss, vielleicht auch von Wagner und Reger) seine eigene Note, die ihn ausmacht und ihn von der epigonalen Komponistenmasse abhebt. Was zeichnet ihn aus? Dies dürfte allem voran die Obsession sein, die seine Werke erfüllt, diese schier unbändige Kraft und Gewalt, mit der er seine Themen bis zur höchsten Ekstase treibt, sie nicht freigibt und immer weiter auf ihnen herumreitet, bis sie total erschöpft versinken. Doch artet dies nicht in heillosem Chaos und Wildheit aus, sondern wird von bewusst formendem Geist im Zaum gehalten – ein leidenschaftlicher Geist in einem zurückhaltend-gutbürgerlichen Körper. Die ausgedehnte Form scheint Senn zu verehren, die Orchestersätze kratzen gerade an der zehn-Minuten-Marke, der Vorfrühling misst zwanzig und das einsätzige Konzert gar fünfundzwanzig Minuten. Senn schafft phantasieartig sich ausbreitende Formgebilde, die er durch seine obsessive Ader fortzuspinnen vermag, und die stets eine natürlich verlaufende Entwicklung nehmen. Gerade „Ave Maria nach der Schlacht am Bergisel“ als zweiter Satz von „1809“ verzaubert durch eine ungezwungen freie Entfaltung zu Beginn.

Klanglich trumpft Karl Senn vor allem mit einer gewissen Dunkelheit auf, einem Schleier von drohender Gefahr, einer gewissen tief liegenden Angst, die die Stimmung gerne unterminiert und jäh einen Abgrund aufzustoßen vermag. Dazu würzt Senn seine Werke vor allem mit dumpf brütenden Dissonanzen, die nicht das Elend hinausplärren, sondern in gemäßigter Introversion von innen wirken. So beginnt der erste Satz von „1809“, „Schwur“, mit der perkussiv genommenen Sekund e-fis in den tiefen Streichern – das Unheil ist vorhergesagt. Und der Schluss von Vorfrühling: Ein F-Dur-Akkord mit d und e – ein Jazzer würde es vielleicht als d-Moll major 7 mit Non auf dem Basiston F bezeichnen, doch da Vorfrühling wenig mit Jazz gemein hat, liegt einfach ein unfassbar interessanter Klang mit einer durch weite Lage verschleierten Reibung vor, der zwar schließt und doch nicht alle Sorgen vertreiben mag. Es gibt viele solcher herrlichen Klangphänomene in der Musik Senns, die der Hörer glücklicherweise sogar online studieren kann, auf Musikland Tirol sind alle Noten ediert und abrufbar: http://www.musikland-tirol.at/html/html/musikedition/senn.html.

Nicht zuletzt besticht Senn durch ein feines Gespür für die Orchestration, er beherrscht das volle Orchester auf eine beinahe kammermusikalische Manier, setzt auf dichte Klanggewebe. Besonders deutlich wird dies beim Romantischen Konzert für Klavier und Orchester, welches ursprünglich als Klavierquintett komponiert wurde. So behält auch das Orchester die Dichte eines Quintettsatzes, jedoch mit weitaus mehr Dopplungen – größtenteils funktioniert diese Idee, lediglich zu Beginn verschwindet das Klavier etwas ungewollt im dichten Orchesterklang (vielleicht ein Problem der Abmischung; das vollgriffige Klavier sollte eigentlich schon gegenüber den Orchesterstimmen hörbar sein können). Faszinieren kann mich vor allem die Stelle, wo nach einer kleinen Klavierkadenz ein Solocello die Melodie aufgreift (T. 402), worauf das hohe Holz folgt – welch ein hinreißender Moment!

Am Pult des Orchesters der Akademie St. Blasius steht Karlheinz Siessl, der mit Herzblut und so reflektierter wie genauer Ausarbeitung der Musik gerecht wird. Das Zusammenwirken zwischen den Musikern funktioniert mit scheinbar unbekümmerter Leichtigkeit, ohne je in seelenlose Routine zu verfallen – die Musiker haben ihren Spaß und das wird deutlich. Siessl treibt sein Orchester in die kühnsten Höhen hinauf und lässt es gerne donnern, behält jedoch stets die Zügel in der Hand und lässt die Musiker und die Musik nicht „durchgehen“. Die einzelnen Orchesterstimmen stuft Siessl genau ab und ist darauf bedacht, keine einzige in den Untergrund verschwinden zu lassen, alles wird hörbar und die dichte Polyphonie ist wunderbar wahrzunehmen. Auch gelingen dem Dirigenten lange Spannungsverläufe und weiträumige Entfaltungen ohne Abfallen der Spannung. Zwei kurze holprige Momente seien hierbei verziehen, handelt es sich doch um einen Livemitschnitt und nicht um eine Studioaufnahme. Der Pianist Michael Schöch brilliert mit lupenreinem Spiel und beeindruckendem Schönklang. Die atemberaubenden technischen Schwierigkeiten meistert er in spielerischem Gleichmut und gestaltet auch von der Linienführung aus, so gut es die Linien zulassen. Das Klavier klingt leider etwas stumpf in der Abmischung. Doch soll dieses kleine Manko den starken Eindruck dieser überzeugend dargebotenen Aufnahme einer vollkommen unbekannten Musik nicht trüben, einer Musik, die sich trotz der historischen schändlichen Haltung ihres Hervorbringers dringend zur Rehabilitation empfiehlt.

[Eduard Alpmann, September 2016]

Nur Kinderlieder…?

Pjotr Tchaikovsky (1840-1893): 16 Songs for Children op.54
The boys Choir of the Glinka Choir College; Vladimir Begletsov – Conductor; Alexey Goribol, piano
Melodya CD 10 02436; EAN: 4 600317 124367

Eigentlich…!? Ja, eigentlich mag ich ja Kinderchöre nicht, aber… Diese CD ist etwas Anderes. Die 16 Kinderlieder, die Tchaikovsky zwischen 1878 und 1883 komponierte, sind etwas ganz Besonderes. Nicht nur, dass er ein großer Melodiker ist, das wissen wir von seinen Symphonien sowieso, ebenso seine Klavierstücke zeigen ihn als Meister auch dieser Formen. Aber so wie diese Melodien vom „Boy Choir oft he Glinka Chor College“  unter seinem Dirigenten Vladimir Begletsov und dem Pianisten Alexey Goribol musiziert werden, ist es eine wahre Wonne. Da hört man eben nicht gedrillte Kinderstimmen, auf Einklang ausgerichtet „wie ein Mann“, sondern einen wunderbaren offenen Chorklang, der trotz – oder gerade wegen – des Unisono den ganzen Charme und die ganze Kunst des Komponisten erlebbar werden lässt. Nicht geringen Anteil daran hat auch der Pianist Alexey Goribol, der die nicht sehr virtuose Klavierbegleitung aufs Feinste und Geschmackvollste realisiert.  Die 16 Lieder, die sicherlich nicht von der üblichen „verlogenen“ Kindlichkeit oder der idealisierten Kinderzeit erzählen, sind eine wunderbare Ergänzung zum Symphoniker oder Ballett-Musiker Pjotr Tchaikovsky. Diese CD mit dem Booklet auf russisch und auf englisch – leider sind die Liedertexte nicht abgedruckt – ist ein Kleinod und aufs Äußerste zu empfehlen.

[Ulrich Hermann, September 2016]