[Rezensionen im Vergleich:] Beispielhafte Klanglichkeit mit Tiefenwirkung

Im Rahmen der Reihe »Winners & Masters« gab Lucy Jarnach am letzten Samstag (24.9. 2016) einen Klavierabend mit Werken von Schubert, Grieg, Jarnach und Greif und überzeugte durch hochdifferenzierte Klanglichkeit, die den an Fallstricken reichen Werken die nötige Tiefenschärfe verlieh.

So unprätentiös wie die Pianistin Lucy Jarnach die Bühne betritt, so wenig benötigt ihr Klavierspiel irgendwelche „Mätzchen“, um ein äußerst anspruchsvolles Programm mitreißend zu bewältigen. Einen Klavierabend mit Schuberts sperriger, großer G-Dur-Sonate (op.78, D. 894) zu beginnen, erfordert Mut und Konzentration. Bei allem Gefälligen, das bei Schubert streckenweise das Ohr des Zuhörers als Oberfläche umschmeichelt, ist die eigentliche Herausforderung, die vielen versteckten Untiefen, die uns der Komponist immer fast gleichzeitig unterjubelt und die oft in kleinsten Details stecken, klanglich deutlich herauszuarbeiten. Und zwar ohne dass die Formkonzepte – in diesem Falle der Sonate – in ihrem Fluss zu absichtlich gestört werden, was dann zudem die berüchtigten schubertschen „Längen“ in Einzelereignisse, auf die quasi mit dem Finger gezeigt wird, zerfasert. Am Tag zuvor hatte ich mir noch die 1987er Aufnahme von Alfred Brendel angehört (der von 2003 bis 2009 mit Lucy Jarnach arbeitete), und war überrascht davon, wie schwer ihm dies anscheinend ausgerechnet bei dieser Sonate gefallen ist. Hatte ich Brendel mit den drei letzten Sonaten (D. 958-960) mehrfach begeisternd im Konzert gehört, so irritierten mich bei der G-Dur-Sonate merkwürdige, allzu „demonstrative“ Rubati, unklare Akzente und eine nicht konsequent abgestufte Dynamik – bereits im wirklich langen Kopfsatz. Bei Lucy Jarnach ist nach der ersten Seite klar, dass sie Schubert völlig vertraut und allein durch ihre makellose Anschlagskultur und eine diskrete, aber vollkommen adäquate Pedalbehandlung auch die kleinsten Differenzierungen, nicht nur harmonischer Art, bewältigt. Sie überzeugt mit einem warmen, auch noch im Pianissimo homogenen Klang, der weder vulgär basslastig noch spitz in der Höhe ist, dort je nach Anforderung luzid oder brillant. Ihr Artikulationsspektrum reicht vom gesanglichen Legato bis zu trockenem, detailreichen Stakkato, ohne jemals zu verschmieren oder den melodischen Zusammenhang zu verlieren. Das erklingt alles so natürlich und dabei spannend, dass der Verzicht auf alle Wiederholungen, die die Partitur anzeigt, vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Die ersten beiden Sätze werden hier zu staunenswerten Klangwundern. Im Menuetto scheint sich Jarnach anfangs ein so langsames Tempo zuzutrauen, dass man es richtig „auf drei“ hätte empfinden können. Das hält sie nicht wirklich durch; immerhin kann sie das Trio aber im gleichen Tempo nehmen – Brendel bremst im Trio und macht es dadurch in seiner Simplizität geradezu lächerlich. Auch die oft überraschende Dynamik versteht die Pianistin richtig. Beim Finale bringen sie einige kleinere Unsicherheiten beim Auswendigspiel dann leider etwas aus dem Konzept – aber insgesamt ist dies eine Schubert-Interpretation auf allerhöchstem Niveau.

Nach der Pause folgen drei höchst interessante Werke, denen allen jeweils ein Lied als Grundsubstanz dient – und die von der Künstlerin kurz anmoderiert werden, was wegen des fehlenden Programmhefts dankbar aufgenommen wird. Die leider viel zu wenig gespielte Ballade g-moll, op. 24 von Edvard Grieg – eigentlich ein Variationssatz – erfordert enorme Virtuosität, mehr als seine Sonate oder sogar das Klavierkonzert. War Komponieren als Therapie die Initialzündung für dieses Werk, kann man die Krise, in der sich der Komponist um 1875 befand, geradezu nachempfinden: Hier ist alles auf wackeligem Boden, gewagt, aber dabei unkonventionell und innovativ. Gegen Schluss gibt es eine wahnwitzige Steigerung ins Delirium bzw. Nirgendwo, die auf einer herausgemeißelten Es-Oktave als lang ausgehaltenem Vorhalt endet, bevor nochmals ganz verhalten das Thema wiederkehrt. Gerade bei solchen Kontrasten ist Lucy Jarnach in ihrem Element und kann deren Wirkung durch kluge Disposition des Vorausgehenden souverän aufs Publikum übertragen. In den auch rhythmisch schwierigen, schnellen Variationen gewahrt sie völlige Durchsichtigkeit.

Dass die Künstlerin eine ganz besondere Beziehung zum heute fast vergessenen kompositorischen Werk ihres Großvaters Philipp Jarnach hat, verwundert nicht. Die Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 erweist sich als höchst intelligente, keineswegs rückwärtsgewandte und pianistisch anspruchsvolle Komposition, mindestens auf dem Niveau etwa eines Paul Hindemith, die auch beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Hier passt jedes Detail. Lucy Jarnach endet dann aber noch mit einem Schocker: In Deutschland immer noch völlig unterschätzt, hat der viel zu jung verstorbene französische Komponist Olivier Greif (1950-2000) ein beachtliches pianistisches Oeuvre hervorgebracht, darunter einige großformatige Sonaten. Man kann diese Musik getrost der musikalischen Postmoderne (eh‘ ein Passepartout-Begriff) zurechnen. Jedenfalls vertraut Greif noch der Tonalität, auch wenn er sie regelmäßig durchbricht – dann aber bedingt durch musikalischen Ausdruck, weniger durch kaltes Kalkül. Ein krasses Beispiel ist der Satz Wagon plombé pour Auschwitz aus der Sonate «Le rêve du monde» (1993). Die schrecklichen Assoziationen, die schon der Titel evoziert, werden hier musikalisch überzeugend mit recht einfachen Mitteln – wie man sie eigentlich schon aus dem Schluss des Trauermarsches von Beethovens Eroica kennt – zur gnadenlosen, apokalyptischen Gewissheit. Das ist aber eben nicht plump-plakativ, sondern absolut berührend. Lucy Jarnach scheut sich hier nicht vor extremen dynamischen Kontrasten, die nötig sind, um die Brutalität, mit der das zugrunde liegende Synagogenlied – und offensichtlich nicht nur das! – vernichtet wird, zwingend zu verdeutlichen. Ergriffenheit beim Publikum nach dieser Darbietung, die auch mit „Fast zu ernst“ aus Schumanns Kinderszenen als Zugabe nicht mehr zu relativieren ist. Dafür dann verdient großer Applaus.

Für derart beseeltes, klangschönes Klavierspiel und solch kluge und überraschende Programme jenseits ausgetretener Pfade sollte es im immer noch klavierverrückten München ein größeres Publikum geben, als in den Kleinen Konzertsaal im Gasteig passt. Sicherlich nicht nur mir wäre es eine echte Freude, diese junge Künstlerin auch hier noch öfters hören zu dürfen – vielleicht auch einmal mit einer kompletten Greif-Sonate?

[Martin Blaumeiser, September 2016]

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