Archiv für den Monat: September 2016

Britten in Trier

Benjamin Brittens Oper „A Midsummer Night’s Dream“ erlebte in einer neuen Inszenierung von Sam Brown ihre Première im Theater Trier (Teatrier) am 24. September 2016, weitere Vorstellungen gibt es bis zum 30. Oktober. Es wirken das Philharmonische Orchester der Stadt Trier sowie der Kinder- und Jugendchor (geleitet von Martin Folz) und Statisterie (einstudiert von Christian Niegl) des Theater Trier unter Leitung von Generalmusikdirektor Victor Puhl mit.
Die Bühne machte Simon Lima Holdsworth, Loren Elstein war für Kostüme verantwortlich, Choreograph war Hannes Langolf. Die Rollen waren folgendermaßen besetzt: Benjamin Britten (Prolog): Benjamin Popson, Indischer Junge: Luis Grammatikou, Oberon: Fritz Spengler, Titania: Frauke Burg, Puck: Paul Hess, Theseus: László Lukács, Hippolyta: Bernadette Flaitz, Lysander: Benjamin Popson, Demetrius: Bonko Karadjov, Hermia: Clare Presland (singend) / Ulrike Malotta (spielend), Helena: Eva Maria Amann, Zettel/Pyramus: Don Lee, Quenz/Prolog: Lukas Schmid, Flaut/Thisbe: Rouwen Huther, Schnock/Löwe: Eui-Hyun Park, Schnauz/Wand: Wolfram Winter, Schlucker/Mond: Carsten Emmerich, Spinnweb: Emilia Scharf, Bohnenblüte: Lina Schankweiler, Senfsamen: Zoë Salm, Motte: Laetitia King, Flötenelfe: Clara Folz.

Welch ein großes Ereignis ist eine solche Première für die Stadt Trier! Ein Theater mittlerer Größe führt nicht alle Tage eine groß besetzte, abendfüllende und nur mit größtem Aufwand überhaupt zu realisierende Oper des 20. Jahrhunderts auf wie „A Midsummer Night’s Dream“ von Benjamin Britten nach William Shakespeare auf Libretto eigener Feder unter Mithilfe von Brittens Lebensgefährten und Gesangspartner Peter Pears (mit welchem wundervolle Aufnahmen entstanden, gerade die Liederzyklen Schuberts mit Britten und Pears gehören zu den besten Einspielungen überhaupt). Und Trier machte ein wahres Spektakel daraus, hat tatsächlich alle erdenklichen Mittel aufgefahren, den Abend zum ‚Ereignis’ avancieren zu lassen.

Nach einem stimmungsvollen Prolog, dem eigentlich nicht zur Oper gehörigen, sondern durch die Inszenierung Sam Browns hinzugefügten Lied „The Wanderings of Cain“ (Gedicht: Samuel Taylor Coleridge; aus Brittens Nocturne für Solotenor, sieben obligate Instrumente und Streichorchester Op. 60), öffnet sich der Vorhang und gibt eine bezaubernde Bühnengestaltung preis. Bäume schmücken eine von Simon Lima Holdsworth gestaltete Drehbühne, die durch einen mittig platzierten Hügel zwei Einzelbühnen realisiert, um organische Szenenübergänge ohne Umbau zu ermöglichen. Hinreißende Details wie Klappen im Hügel, aus dem Elfen zum Tanz kommen, oder ein phänomenal blendender Sonnenaufgang (sehr hell für die Zuschauer!) ziehen in ihren Bann. Die Inszenierung ist herrlich, wie ein Traum, abwechslungsreich und farbig schillernd, ebenso die elegant eingebetteten Choreographien von Hannes Langolf.

Stiller Star des Abends ist und bleibt unangefochten Paul Hess als Puck. Zwar hat er nicht eine Note zu singen, doch in seiner Sprechrolle überzeugt er vollkommen. Und noch weitaus mehr mit seinen choreographischen Fähigkeiten: Schon schwingt er sich auf einen Baum, dann fliegt er an Seilen befestigt über die Bühne, unerwartet springt er vom Hügel und rollt sich mit federnder Leichtigkeit ab, dann umschmeichelt er wieder zart seinen Herren Oberon. Puck ist omnipräsent in Browns Inszenierung und verleiht ihr das Phantastische, Märchenhafte, das wesentlich zum Gesamteindruck beiträgt.

Leider indisponiert ist an diesem Abend Fritz Spengler als Oberon. So filigran und übernatürlich könnte die Rolle sein, wäre sie nicht wie hier ohne jeden Glanz, ohne Farbigkeit oder Klangfülle gesungen. Oberon ist die Rolle eines lupenreinen und doch bestimmten, herrschaftlichen (teils überraschend tief gesetzten) Countertenors und nicht die einer heißeren Kopfstimme mit Intonationsschwierigkeiten. Umso mehr fällt dies auf, wenn neben ihm seine Elfenpartnerin Frauke Burg als Titania steht, die mit ihrem brillanten Koloratursopran die Halle zum Schwingen bringt, dass man meinen möchte, alles Glas würde bald zerspringen. Eine vielversprechende Begabung, von der wir noch einiges hören könnten. Überzeugend sind auch die Liebespaare Lysander (Benjamin Popson) und Hermia (Clare Presland, Ulrike Malotta) sowie Demetrius (Bonko Karadjov) und Helena (Eva Maria Amann). Hervorstechen konnte hierunter zumal Clare Presland, welche erst am Premierentag aus London eingeflogen wurde, um der erkrankten Ulrike Malotta ihr Stimme zu leihen. Diese übernahm die gespielte Rolle und bewegte ihren Mund, von der Seite synchronisierte Presland mit so elegantem wie stimmgewaltigem Mezzo-Sopran von atemberaubender Schönheit.

Die Handwerker (Don Lee, Lukas Schmid, Rouwen Huther, Eui-Hyun Park, Wolfram Winter, Carsten Emmerich) waren es, die sich am meisten in die Herzen der Zuschauer sangen. Ihre Rollen sind so herrlich komödiantisch und vielseitig, so charmant tollpatschig und liebenswert geschrieben, dass man sie einfach mögen muss. Vielleicht sind diese Sänger stimmlich nicht die sonorsten, textverständlichsten oder sinnlich überwältigendsten, doch passen sie sich allesamt bestens in ihre Rollen ein und spielen aus voller Überzeugung und mit Herzblut. Stimmlich beeindruckt hat von ihnen am meisten Don Lee als Zettel und Pyramus, der gerade in seiner Eselsgestalt so wunderbar seine Stimme überschlagen lassen kann und sogleich wieder lupenrein weiterzusingen vermag. Auch Flaut beziehungsweise Thisbe, gesungen von Rouwen Huther, überrascht mit seiner wandelbaren Stimme, die er so schön falsch klingen lassen kann, wenn es auf diese Art von Britten vorgesehen ist (der erste Einsatz von Thisbe, die nervös auftritt und deshalb in einer falschen Tonart beginnt). Allgemein charakterisiert die Handwerker, dass sie – sofern angebracht – ihre Passagen mit übermäßiger Unkultiviertheit und überzogener Laienhaftigkeit würzen, wie es die Rollen eben auch verlangen, was für etliche Lacher sorgt.

Bezaubernd sind auch die Jüngsten auf der Bühne, der Kinder- und Jugendchor des Theater Trier, und die daraus hervortretenden Gesangssolisten. Schon die Kleinsten beherrschen die teils aufwändige Choreographie und singen komplett auswendig, eine beachtliche Leistung!

Doch warum ist die Klangbasis teils so farblos, matt, uninspiriert oder gar ängstlich? Das Philharmonische Orchester der Stadt Trier bietet nicht den facettenreichen Boden, auf dem sich die Sänger ungezwungen entfalten können – dabei bleibt doch nicht zu überhören, dass die Musiker ihre teils äußerst heiklen Passagen gut bewältigen und musikalisch wesentlich mehr herausholen könnten als geschehen. Generalmusikdirektor Victor Puhl scheint seinen Musikern nicht das Feuer überreicht zu haben, die Musik lebendig zu entfalten und aus sich herauszugehen, frei und mutig zu agieren. Statt dessen gibt es nur Notenleserei, die gerade bei den pikanten Glissando-Passagen recht zittrig wird. Puhl könnte so leicht seine graue Routine ablegen, könnte aus dem mittelmäßigen Alltags-Geschäft emporsteigen – es wäre so einfach! Wenn Victor Puhl mit innerer, zerreißender Leidenschaft an die Proben gehen würde, seine Musiker mitzureißen und zu überzeugen vermöchte, wenn er sie vielleicht noch mit herausgemeißelten Details in den Unterstimmen und mit einer lebendigen Musikvorstellung zu überraschen wüsste, dann könnte aus dem teils recht faden und eintönig-introvertierten Orchester in kurzer Zeit ein wirkliches Orchester von Rang werden, Fortschritte wären sicher schon bis zur letzten Vorstellung Ende Oktober sichtbar! Das musikalische Erwachen lohnt sich! (Ebenso wie die große Passage des Erwachens der Liebenden, in einem Eulenspiegel’schen Scherz unterlegt mit einer verzerrten und doch unverkennbaren Reverenz an Strawinskys Sacre!)

Es ist beachtlich, was die Trierer an diesem Abend auf die Beine gestellt haben, diese riesenhafte Oper inklusive informativer Einführung vor dem Konzert durch Peter Fröhlich und ausgedehnter Premierenfeier hinterher, wo alle Beteiligten noch einmal auf die kleine Foyer-Bühne durften. Gerade die ungezwungene Musikalität und Freude mancher Sänger wird mir im Gedächtnis bleiben, fernab von der überkünstelten, makellos polierten Art der heutigen Starsänger, dafür mit wesentlich mehr Esprit.

[Oliver Fraenzke, September 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Unorthodoxe musikalische Zeitreise

Lucy Jarnach spielt am 24. September 2016 um 20 Uhr
im Kleinen Konzertsaal im Gasteig: Schubert, Grieg, Jarnach, Greif

Wenn es in der Welt richtig zuginge, müssten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert.  (Egon Friedell 1878-1938)

Und es ging in der Welt richtig zu an diesem Samstag-Abend im Kleinen Konzertsaal im Gasteig in München, als die Pianistin Lucy Jarnach sich an den Steinway-Flügel setzte und die ersten Akkorde der G-Dur-Klaviersonate D894 erklingen ließ. Denn was Egon Friedell uns in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit über Franz Schubert so hellsichtig beschreibt, das stimmt ja. Diese auch heute noch immer wieder überraschende und  berührende Sonate aus Schuberts letzten Schaffensjahren, sie ist und bleibt ein Mysterium – wenn der spielende Musiker sie so erlebbar werden lassen kann, wie uns das die junge Lucy Jarnach besonders eindrucksvoll vom ersten bis zum letzten Ton vorspielte, nein, besser, vorlebte, „vorsang“. Denn Schuberts himmlische Melodien und höchst überraschende Harmonien – seiner damaligen Zeit genau so voraus wie die seines hochverehrten Kollegen Beethoven, wenn auch von völlig anderen Ideen und Möglichkeiten geschöpft  – müssen erst einmal zusammenhängende Gestalt gewinnen und singen und klingen, wenn sie uns erreichen sollen. Mit aller geheimnisvollen Neuartigkeit, die auch heute, 250 Jahre später so in Bann schlagen kann, wie sie Lucy Jarnach mit verzaubernder Kantabilität und wohllautendstem Klang auf dem Steinway-Flügel hervorspielte. Drei langsame Sätze und ein schnellerer vierter, dann war der erste Teil des Abends in seiner Verzauberung vorüber. (Wieder einmal musste ich daran denken, dass Schubert viele Jahre lang nur ein abgespieltes Tafelklavier zur Verfügung stand, was würde der wohl heute für Ohren machen (können)!)

Der zweite Teil begann mit einer kurzen Erklärung der Pianistin zu Edvard Griegs Ballade g-moll op. 24 von 1878, einem Stück, was sehr vielen Zuhörern noch immer ziemlich unbekannt sein dürfte. Ein melancholisches, an ein norwegisches Volkslied angelehntes Thema wird im Lauf der Komposition in 14 Variationen abgewandelt: sowohl harmonisch als auch melodisch, in allen Klangregistern des Flügels.

Was mich an Griegs Klaviermusik schon immer fasziniert , ist seine weit in die Zukunft weisende Harmonik, eine Tonalität und Klanglichkeit, die teils sogar den Impressionismus eines Debussy schon vorweg zu nehmen scheint. Und auch bei den viel bekannteren Lyrischen Stücken ist für mich wieder und wieder erlebbar, dass Grieg eben nicht nur der leicht fassliche „Unterhaltungs-Komponist“ kleiner Formen war, sondern in vielen seiner Werke – wie das auch Lucy Jarnachs Spiel sehr überzeugend zum Ausdruck brachte – ein durchaus in der Entwicklung vorausschauender Künstler und Komponist war.

Im Anschluss daran folgte eine Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 (eigentlich ist es eine Komposition von Leonhard Lechner (1553-1606), die dem Stück zu Grunde liegt) von Philipp Jarnach, dem Großvater der Pianistin, der von 1892-1982 lebte und seine entscheidenden Impulse von Ferruccio Busoni (1866-1924) bekam. Diese Sonatine spielte Lucy Jarnach mitnichten aus einer verwandtschaftlichen Verehrung für ihren Großvater, sondern zeigte uns, was für ein wunderbares Stück Musik da unter ihren Händen zu uns sich entfaltete, durchaus tonal und melodiös, aber doch ein Stück zeitgenössische Musik aus dem 20. Jahrhundert.

Das letzte Stück des Abends des frühverstorbenen französischen Komponisten Olivier Greif – dürfte den allermeisten Konzertbesuchern sicher völlig unbekannt gewesen sein, wie die Musik dieses aberwitzigen Franzosen leider bei uns bis heute so gut wie gar nicht auftaucht. Er wurde 1950 als Sohn eines jüdisch-polnischen Neurochirungen  geboren, der die Gräuel in Auschwitz überlebte. Diese Tatsache beeinflusste die Musik seines Sohnes, der mit 9 Jahren anfing zu komponieren. Aus «Le Rêve du monde» (1993)

Spielte Lucy Jarnach den dritten Satz «Wagon plombé pour Auschwitz». Das Thema ist eine jiddische Melodie, die allerdings nach kurzer Zeit durch gewalttätige „Schüsse“ zerrissen wird, darstellend die Horrorszenen, denen die in den Viehwagons Eingesperrten dann in Auschwitz ausgesetzt waren. Das unfassbare Grauen so auf einem Klavier darstellen zu können, ist eigentlich unvorstellbar, trotzdem ist es dem Komponisten und auch der Pianistin gelungen, in diesem kompakten Stück all das auf sehr eindrückliche Weise den Zuhörern zu vermitteln.

Großer, verdienter Beifall für die Pianistin und ein Programm, das so sicherlich im ach so konservativen München – noch dazu zur Wiesn-Zeit – noch nie zu hören war.

Mit einer kurzen Zugabe (‚Fast zu ernst’ aus Schumanns op. 15, den „Kinderszenen“) entließ uns Lucy Jarnach in einen sehr nachdenklichen Abend.

(Auch die „Gräuel“ dieses Abends seien ganz am Rande erwähnt, also der vollendete Amateurismus des lokalen Veranstalters, der das Konzert miserabel beworben hatte und sowohl dem unterzeichnenden Kritiker eine Pressekarte als auch der Künstlerin Blumen verweigerte. Sein Mangel an Professionalität wurde jedenfalls mit einem fantastischen Auftritt belohnt.)
Oder, um mit Egon Friedell abzuschließen:
„Es gibt Menschen, die selbst für Vorurteile zu dumm sind.“

[Ulrich Hermann, September 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Beispielhafte Klanglichkeit mit Tiefenwirkung

Im Rahmen der Reihe »Winners & Masters« gab Lucy Jarnach am letzten Samstag (24.9. 2016) einen Klavierabend mit Werken von Schubert, Grieg, Jarnach und Greif und überzeugte durch hochdifferenzierte Klanglichkeit, die den an Fallstricken reichen Werken die nötige Tiefenschärfe verlieh.

So unprätentiös wie die Pianistin Lucy Jarnach die Bühne betritt, so wenig benötigt ihr Klavierspiel irgendwelche „Mätzchen“, um ein äußerst anspruchsvolles Programm mitreißend zu bewältigen. Einen Klavierabend mit Schuberts sperriger, großer G-Dur-Sonate (op.78, D. 894) zu beginnen, erfordert Mut und Konzentration. Bei allem Gefälligen, das bei Schubert streckenweise das Ohr des Zuhörers als Oberfläche umschmeichelt, ist die eigentliche Herausforderung, die vielen versteckten Untiefen, die uns der Komponist immer fast gleichzeitig unterjubelt und die oft in kleinsten Details stecken, klanglich deutlich herauszuarbeiten. Und zwar ohne dass die Formkonzepte – in diesem Falle der Sonate – in ihrem Fluss zu absichtlich gestört werden, was dann zudem die berüchtigten schubertschen „Längen“ in Einzelereignisse, auf die quasi mit dem Finger gezeigt wird, zerfasert. Am Tag zuvor hatte ich mir noch die 1987er Aufnahme von Alfred Brendel angehört (der von 2003 bis 2009 mit Lucy Jarnach arbeitete), und war überrascht davon, wie schwer ihm dies anscheinend ausgerechnet bei dieser Sonate gefallen ist. Hatte ich Brendel mit den drei letzten Sonaten (D. 958-960) mehrfach begeisternd im Konzert gehört, so irritierten mich bei der G-Dur-Sonate merkwürdige, allzu „demonstrative“ Rubati, unklare Akzente und eine nicht konsequent abgestufte Dynamik – bereits im wirklich langen Kopfsatz. Bei Lucy Jarnach ist nach der ersten Seite klar, dass sie Schubert völlig vertraut und allein durch ihre makellose Anschlagskultur und eine diskrete, aber vollkommen adäquate Pedalbehandlung auch die kleinsten Differenzierungen, nicht nur harmonischer Art, bewältigt. Sie überzeugt mit einem warmen, auch noch im Pianissimo homogenen Klang, der weder vulgär basslastig noch spitz in der Höhe ist, dort je nach Anforderung luzid oder brillant. Ihr Artikulationsspektrum reicht vom gesanglichen Legato bis zu trockenem, detailreichen Stakkato, ohne jemals zu verschmieren oder den melodischen Zusammenhang zu verlieren. Das erklingt alles so natürlich und dabei spannend, dass der Verzicht auf alle Wiederholungen, die die Partitur anzeigt, vielleicht nicht nötig gewesen wäre. Die ersten beiden Sätze werden hier zu staunenswerten Klangwundern. Im Menuetto scheint sich Jarnach anfangs ein so langsames Tempo zuzutrauen, dass man es richtig „auf drei“ hätte empfinden können. Das hält sie nicht wirklich durch; immerhin kann sie das Trio aber im gleichen Tempo nehmen – Brendel bremst im Trio und macht es dadurch in seiner Simplizität geradezu lächerlich. Auch die oft überraschende Dynamik versteht die Pianistin richtig. Beim Finale bringen sie einige kleinere Unsicherheiten beim Auswendigspiel dann leider etwas aus dem Konzept – aber insgesamt ist dies eine Schubert-Interpretation auf allerhöchstem Niveau.

Nach der Pause folgen drei höchst interessante Werke, denen allen jeweils ein Lied als Grundsubstanz dient – und die von der Künstlerin kurz anmoderiert werden, was wegen des fehlenden Programmhefts dankbar aufgenommen wird. Die leider viel zu wenig gespielte Ballade g-moll, op. 24 von Edvard Grieg – eigentlich ein Variationssatz – erfordert enorme Virtuosität, mehr als seine Sonate oder sogar das Klavierkonzert. War Komponieren als Therapie die Initialzündung für dieses Werk, kann man die Krise, in der sich der Komponist um 1875 befand, geradezu nachempfinden: Hier ist alles auf wackeligem Boden, gewagt, aber dabei unkonventionell und innovativ. Gegen Schluss gibt es eine wahnwitzige Steigerung ins Delirium bzw. Nirgendwo, die auf einer herausgemeißelten Es-Oktave als lang ausgehaltenem Vorhalt endet, bevor nochmals ganz verhalten das Thema wiederkehrt. Gerade bei solchen Kontrasten ist Lucy Jarnach in ihrem Element und kann deren Wirkung durch kluge Disposition des Vorausgehenden souverän aufs Publikum übertragen. In den auch rhythmisch schwierigen, schnellen Variationen gewahrt sie völlige Durchsichtigkeit.

Dass die Künstlerin eine ganz besondere Beziehung zum heute fast vergessenen kompositorischen Werk ihres Großvaters Philipp Jarnach hat, verwundert nicht. Die Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 erweist sich als höchst intelligente, keineswegs rückwärtsgewandte und pianistisch anspruchsvolle Komposition, mindestens auf dem Niveau etwa eines Paul Hindemith, die auch beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Hier passt jedes Detail. Lucy Jarnach endet dann aber noch mit einem Schocker: In Deutschland immer noch völlig unterschätzt, hat der viel zu jung verstorbene französische Komponist Olivier Greif (1950-2000) ein beachtliches pianistisches Oeuvre hervorgebracht, darunter einige großformatige Sonaten. Man kann diese Musik getrost der musikalischen Postmoderne (eh‘ ein Passepartout-Begriff) zurechnen. Jedenfalls vertraut Greif noch der Tonalität, auch wenn er sie regelmäßig durchbricht – dann aber bedingt durch musikalischen Ausdruck, weniger durch kaltes Kalkül. Ein krasses Beispiel ist der Satz Wagon plombé pour Auschwitz aus der Sonate «Le rêve du monde» (1993). Die schrecklichen Assoziationen, die schon der Titel evoziert, werden hier musikalisch überzeugend mit recht einfachen Mitteln – wie man sie eigentlich schon aus dem Schluss des Trauermarsches von Beethovens Eroica kennt – zur gnadenlosen, apokalyptischen Gewissheit. Das ist aber eben nicht plump-plakativ, sondern absolut berührend. Lucy Jarnach scheut sich hier nicht vor extremen dynamischen Kontrasten, die nötig sind, um die Brutalität, mit der das zugrunde liegende Synagogenlied – und offensichtlich nicht nur das! – vernichtet wird, zwingend zu verdeutlichen. Ergriffenheit beim Publikum nach dieser Darbietung, die auch mit „Fast zu ernst“ aus Schumanns Kinderszenen als Zugabe nicht mehr zu relativieren ist. Dafür dann verdient großer Applaus.

Für derart beseeltes, klangschönes Klavierspiel und solch kluge und überraschende Programme jenseits ausgetretener Pfade sollte es im immer noch klavierverrückten München ein größeres Publikum geben, als in den Kleinen Konzertsaal im Gasteig passt. Sicherlich nicht nur mir wäre es eine echte Freude, diese junge Künstlerin auch hier noch öfters hören zu dürfen – vielleicht auch einmal mit einer kompletten Greif-Sonate?

[Martin Blaumeiser, September 2016]

Bulgarisches…

Emil Tabakov (b.1947)
Complete Symphonies, Volume One
Five Bulgarian Dances (2011) & Symphonie Nr. 8 (2007-2009)
Bulgarian National Radio Symphony Orchestra; Emil Tabakov

Toccata Classics TOCC 0365; EAN: 5 060113 4456

Bulgarische Sänger? Na klar, Ghiaurov etc. und natürlich Ari Leschnikoff von den „Comedian Harmonists“ und noch ein paar andere, wie Spass Wenkoff, aber ansonsten? Ja, doch, die bulgarischen Rhythmen, vertrackt, vertrackt, aber von einem Symphoniker, von einem bedeutenden Komponisten? Wenigstens mir bis dato ziemlich unbekannt.

Doch das hat sich spätestens mit dieser CD des bulgarischen Komponisten und Dirigenten Emil Tabakov gründlich geändert. Denn dessen fünf bulgarische Tänze von 2011 sind ein Feuerwerk und gehen nicht nur in die Ohren, nein, in die Beine und wie!

Eine wunderbare ergötzliche musikalisch-musikantische Musik, noch dazu vom Komponisten selber aufs Beste in Szene gesetzt und dirigiert. Diese Personalunion ist zwar nicht ganz selten, aber auf solchem Niveau wünscht man sie sich öfter.

Vier schnelle und ein gemäßigter Tanz, die mit ungleich zusammengesetzten Rhythmen, für die ja die bulgarische Musik – auch die Folklore – berühmt ist, bravourös spielt, ein Parade-Beispiel für die Qualität des Bulgarischen Nationalen Rundfunk-Symphonieorchesters aus Sofia. Eine Wonne, die nicht nur den Ohren guttut, auch dem ganzen zuhörenden und bewegten Menschen.

Sperriger kommt die achte Symphonie daher, die von 2007-2009 entstand. Tabakov komponiert nämlich – wie auch Kollege Mahler – hauptsächlich in den Ferien im Sommer. Angesichts dieser Beschränkung ist sein Werkverzeichnis äußerst reichhaltig,  wie das Booklet ausweist. Abgesehen von neun Symphonien stehen auch Werke fast aller anderen Gattungen zu Buche.

Seine achte Symphonie baut meist auf kleinen verständlichen Motiven auf, die aber in allen möglichen Arten verarbeitet werden, klanglich, rhythmisch, melodisch oder harmoniemäßig, sodass ein dichtes, dunkles, erratisch abgründiges Klangwerk zu hören ist, das Tabakov als Meister der Instrumentation und der Komposition ausweist. Auf zwei langsame Largo-Sätze folgt ein schnelles Presto, das die fast 44 Minuten lange Komposition abschließt.

Diese erste CD einer Serie mit Werken von Emil Tabakov unter seinem Dirigat ist ein empfehlenswerter Beitrag zur Musik eines Landes, dessen „klassische“ Musik-Kultur dankenswerter Weise dadurch aus dem Schatten tritt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Hommage an einen Jahrhundertmusiker

José Iturbi
Komplette Soloaufnahmen für Victor (RCA) und HMV (EMI) 1933-52
APR 3CD APR 7307 (EAN: 5024709173075)

Domenico Scarlatti: Sonaten h-moll Kk27 & C-Dur Kk159; Johann Sebastian Bach: Toccata BWV 906; Domenico Paradies: Toccata aus der 6. SonateA-Dur; Wolfgang Amadeus Mozart: Sonaten A-Dur KV 331 & F-Dur KV 332; Ludwig van Beethoven: Andante favori & ‚Für Elise’; Robert Schumann: Arabeske op. 18 & Romanze op. 28/2; Franz Liszt: Liebesträume Nr. 3 & Les jeux d’eau à la Villa d’Este; Frédéric Chopin: Polonaise A-Dur op. 53, Fantaisie-Impromptu op. 66, Valses op. 64/1&2, Mazurka op. 7/1, Nocturne op. 32/1, Préludes op. 28/9&10, Étude op. 10/12; Pjotr Tschaikowsky: Juni & November aus ‚Jahreszeiten’ op. 37b; Sergey Rachmaninoff: Prélude cis-moll op. 3/2; Ignace Paderewski: Menuett G-Dur op. 14/1; Filip Lazar: Marche funèbre aus der Sonate a-moll op. 15; Camille Saint-Saëns: Allegro appassionato op. 70; Claude Debussy: Clair de lune, Rêverie, Arabesques Nr. 1&2 (in 2 Versionen), Jardins sous la pluie; Isaac Albéniz: Sevilla op. 47/3, Córdoba op. 232/4, Malagueña op. 165/3; Enrique Granados: Das Mädchen und die Nachtigall aus ‚Goyescas’, Spanische Tänze Nr. 2 ‚Oriental’, Nr. 5 Andaluza & Nr. 10 ‚Danza triste; Eduardo López-Chavarri: Das alte maurische Schloss aus ‚Cuentos y fantasias’; Manuel de Falla: Tanz des Schreckens & Ritueller Feuertanz aus ‚El amor brujo’; Manuel Infante: Sevillañas; José Iturbi: Canción de cuna & Pequeña Danza Española; Morton Gould: Blues No. 3 aus ‚Interplay’ & Boogie Woogie Etude

José Iturbi (1896-1980) war bis in die 1970er Jahre jedermann, der sich ein wenig auskannte, ein Begriff, doch heute kennen ihn nur noch wenige, obwohl er nicht nur zu den bedeutendsten Musikern des 20. Jahrhunderts zählte, sondern seinerzeit bereits das war, was man einen ‚Star’ nennt – wie es das amerikanische Musikleben so mit sich brachte, wenn man dafür geeignet war. Und er war geradezu prädestiniert für Popularität: als so virtuoser wie lebenssprühender und natürlich musikalischer Pianist und Dirigent wie auch als ausgesprochen gut aussehender, charimatischer Bühnenzauberer. Der exzellent informierende Booklet-Essay von Jed Distler lässt uns wissen, dass Thelonious Monk 1961 vom Metronome-Magazin befragt, Iturbi als seinen Favoriten unter den klassischen Pianisten nannte. Und als es 1936 um die Nachfolge Leopold Stokowskis beim Philadelphia Orchestra gegangen war, wäre Iturbi die Wahl des Orchesters gewesen, falls Eugene Ormandy nicht zugesagt hätte. Dafür wurde er dann für ein Jahrzehnt Chefdirigent des Rochester Philharmonic und leitete in der Folge weitere Orchester. Außerdem machte er eine Musical-Karriere in Hollywood. Doch als Musiker ist Iturbi als unfehlbarer Pianist in Erinnerung geblieben. Die Zusammenstellung seiner sämtlichen kommerziellen Soloaufnahmen für RCA Victor und für His Master’s Voice (EMI) auf drei CDs in sensationellem neuen Remastering von Mark Obert-Thorn für APR ist denn auch ein Ereignis, auf welches viele wirkliche Kenner gewartet haben. Um es vorwegzunehmen: Iturbi bildet nicht nur die unbestrittene Spitze der spanische Klavierkunst, er war einer der ganz großen Musiker, und dies ist vielleicht aus ähnlichen Gründen wie bei Leopold Stokowski nie entsprechend allgemein gewürdigt worden, da er sich nicht scheute, das amerikanische Showbiz mitzumachen – allerdings, in beiden Fällen, nicht auf Kosten der musikalischen Qualität. Sein Spiel ist schlicht makellos, wie Klavierspiel überhaupt nur sein kann. Man höre sich nur die unglaublich klare, bestimmte, herrliche groovende Eleganz und niemals auch nur minimal verwischende Geschwindheit des perlenden Figurenwerks im Finale von Mozarts F-Dur-Sonate KV 332 an: es kann eigentlich kaum mozartischer sein in der Quicklebendigkeit, der auch im Intrikaten wunderbar sanglichen Phrasierung, der durchgehenden Gegenwärtigkeit, der Vielseitigkeit und tonlich flexiblen Brillanz der Artikulation, der – einem guten Komponisten und Dirigenten angemessenen – unbestechlichen Intuition für die Spannungsverhältnisse der kadenzierenden Kräfte, der niemals ins Mechanische abgleitenden und durch kein technisches Hindernis auch nur ein wenig ins Hektische, Strikte oder Zögernde sich verspannenden Geläufigkeit, und der immer körperlich spürbaren Liebe zur Musik, und eben nicht narzisstischen Selbstliebe des Elite-Interpreten. Auch hat man nie das Gefühl, hier ginge es um eine Demonstration von Professionalität oder den Beweis irgendeiner Ideologie. Er spielt alles mit chamäleonhafter Anpassungsgabe an die spezifischen Anforderungen des Stils und der formenden Dynamik, und gerade darin offenbart sich in glücklicher Weise seine lichte, stets lebensbejahende, gelöst animierende Individualität. Ganz besonders gefallen mir sowohl seine Scarlatti- als auch seine Mozart-Sonaten, auch wenn ich dort die Rubati für übertrieben halte. Sie sind jedenfalls nicht konventionell, sondern aus dem Zusammenhang empfunden, und das Resultat ist lebendiger, geschmackvoller und unsentimental innig berührender als fast alle stilistisch korrekteren Wiedergaben. Er kann es sich leisten, Akkorde (etwa im Menuett der A-Dur-Sonate) schwungvoll frei zu arpeggieren, ohne dass die den geringsten Ruch der Entstellung bedeutete. Das ist Freiheit im Dienst der Musik. Und sein Alla Turca, gemessen im Tempo und überwältigend in der janitscheranhaften Wucht, dabei niemals vergewaltigend und grob, steht wie ein Leuchtturm über allen originalitätsbeflissenen Versuchen unserer Gegenwart. Auch ist sein Spiel stets vielstimmig vom Bass aus gestaltet, mit orchestraler Farbigkeit und Differenzierung, was sowohl seinem Bach als auch Schumann, Chopin, Liszt oder Tschaikowsky in substanzfördernder Weise zugute kommt. Nein, der ist niemals ein Oberstimmenträumer, aber auch kein gelehrter Prinzipienreiter. Was für ein innerlich reicher, natürlich tiefgründiger Tschaikowsky! Und wie herrlich sein Beethoven – da ist zwar (leider) keine Sonate dabei, aber das großartig durchgestaltete Andante favori (eine echte Referenz) und die niemals den Klischees nahe Miniatur ‚Für Elise’ genügen vollauf, um ihn als großartigen Beethoven-Spieler auszuweisen. Besonders freute mich, den Trauermarsch aus der a-moll-Sonate des früh verstorbenen, in Frankreich heimisch gewordenen rumänischen Komponisten Filip Lazar (1894-1936) in einer so vortrefflichen Aufführung hören zu können! Chopin und Schumann sind auch vorbildhaft, und mit für einer Vielseitigkeit der Einfühlungskraft und Kontinuität des ernsthaften Entwickelns in kleinen Formen. Ja, kein Wunder auch, dass gerade Thelonious Monk ihn so bewunderte, war Iturbi doch stets ein wunderbar federnder, elastischer, mit natürlichem Groove gesegneter Rhythmiker. Bei Debussy bin ich mir bei aller unbestreitbaren Klasse nicht so sicher – hier bedürfte es vor allem einer besseren Aufnahmequalität als damals möglich – was ja auch für die legendären Casadesus-Einspielungen gilt. Hier haben Musiker wie insbesondere Michelangeli ein Maß gesetzt, das einfach unerreicht bleibt. Hingegen ist auch Rachmaninoffs großer Hit, sein cis-moll-Prélude unter Iturbis Händen von einer vollendet feinsinnig geformten Naturgewalt, die heute als zeitloses Vorbild gelten kann.

Natürlich ist er in der spanischen Musik ganz zuhause. Sein Albéniz ist von zauberhafter Grazie und unwiderstehlicher Verve, und mit jenem authentischen Stolz des Ausdrucks, der eine durch alle Dehnungen hindurch tragende rhythmische Kraft beinhaltet, die auch dann noch verhalten feuersprühend ist, wenn die Gegenkräfte der Morbidezza uns in einen Tagtraum-Abgrund ziehen wollen. Diese Musik lodert gefährlich, und auch hier bleibt die so klar durchdachte Darstellung stets unprätentiös spontan im Ausdruck. Großartig auch ganz besonders der 5. Spanische Tanz von Granados, die ‚Andaluza’, i ihren herrlich gezügelt wild züngelnden Bass-Vorschlägen. Manuel Infantes ausufernde ‚Sevillañas’ sind eine etwas schwächere Komposition, doch umso wilder, das Ekstatische klar manövrierende Tänze aus de Fallas ‚El amor brujo’. Iturbi selbst ist hier als Komponist nicht von allzu großem Tiefgang, aber schöne Unterhaltungsmusik ist es allemal, die er teilweise unter dem augenzwinkernden Pseudonym ‚J. Navarro’ veröffentlichen ließ. Und in Morton Goulds Blues- und Boogie Woogie-Charakterstücken ist das Idiom sozusagen todsicher getroffen. Für Pianisten, die wirklich ambitioniert sind, ist diese Box ohnehin ein Muss, ein Vitaminschub für die Seele eines jeden Musikers, die ich mit frischen Kräften ans Instrument zurückkehren lässt. Gewinnbringend ist sie für jedermann, und niemand sollte sich vom historischen Klangbild abschrecken lassen, denn erstens ist dieses grandios ins beste Licht gesetzt, und zweitens wiegt die musikalische und pianistische Substanz alle damit verbundenen Einbußen vielfach auf.

[Christoph Schlüren, September 2016]

Ein Tiger und Erzromantiker

Alexander Scriabin: Klavierwerke Vol. 5
Pervez Mody
Sonate Nr. 5 op. 53,  Morceaux op. 2 Nr. 2 & 3, 5 Préludes op. 15, Études op. 8 Nr. 2, 4, 5 & 9, 2 Danses op. 73, Scherzo op. 46, 2 Poèmes op. 44, 2 Impromptus op. 12, 2 Préludes op. 27, Fantaisie op. 28
Thorofon CTH 2632 (EAN: 4003913126320)

Pervez Mody ist ein Tiger auf den Tasten, voller Geschmeidigkeit, Eleganz, würdiger Schönheit und wuchtiger Kraft. Fernab des Rummels der großen Labels spielt er seit 2008 für Thorofon das komplette Klavierwerk Alexander Scriabins ein und ist nun bei der fünften Folge angekommen. Er ist ein sehr vielseitiger Pianist, von dem ich beispielsweise auch sehr fesselnden Beethoven gehört habe, und als Inder widmet er sich – wie auch die wunderbare italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini – der großartigen Klaviermusik des West-Meets-East-Pioniers John Foulds. Und Pervez Mody ist vor allem eins: ein echter Romantiker, jedoch nicht mit jenem morbide-sentimentalen, nostalgischen Flair, wie es heute viele Pseudoromantiker in ihrer fahlen Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit, in der wir alle eigentlich nicht leben wollen, dem Publikum schmackhaft machen wollen. Bei Mody ist Romantik keine Dekadenz, sondern lebenspulsierende, kraftstrotzende Erotik des Klanges, der Linie, in üppiger und verfeinerter Sinnlichkeit. Diesmal präsentiert er uns zu Beginn die einsätzige Fünfte Klaviersonate (jetzt fehlen noch die Nummern 6 und 8, die wohl auf den nächsten zwei Alben folgen dürften). Er spielt diese Musik mit einer gelassen-leidenschaftlichen Freiheit, die sie als seine ganz eigene Welt erscheinen lässt. Und bei ihm geht es – bei aller Akrobatik – eben nicht um Klavier-Akrobatik als Selbstzweck, auch nicht verträumte Stimmungsnebel, sondern stets um eine dynamische Entwicklung, die auszufalten der Komponist den Musikern wahrlich nicht leicht machte. Wie lange muss ein lebendiges Pianissimo zu gestalten wissen, bevor die Dynamik wirklich höher steigen darf! Und wie sparsam muss, bei allem entfesselten Tumult, mit dem Äußersten sein, denn nach dem Forte und Fortissimo muss noch Platz für das fff sein! Das gelingt auch Mody nicht so wirklich, aber die Frage ist natürlich, wem das überhaupt gelingt. Ich wüsste es aus meinen bisherigen Erfahrungen nicht. Gelegentlich macht er geschmeidige Übergänge, wo in eher Beethoven’scher Manier dynamische Kontraste aufeinanderprallen sollten. Auch wäre es großartig, wenn Mody bei aller Freiheit der rhythmischen Gestaltung doch noch mehr darauf achtete, dass der Hörer innerhalb der flexiblen Agogik doch stets eine eindeutige metrische Orientierung erhält, ohne danach suchen zu müssen. Aber auch dafür gibt es keine Vorbilder. Warum also von ihm fordern, was die anderen – darunter die großen russischen Legenden – auch nicht verwirklichten? Nach vielen herrlich sinnfällig angeordneten Miniaturen – er weiß wirklich, was er wie zusammenstellt! – endet das Programm mit einer lebenssprühenden und herzerwärmenden Wiedergabe der nicht sehr bekannten Fantaisie h-moll op. 27 – und man kann das Ganze wie in einem übermütig errichteten Bogen hören – und wieder und wieder hören. Auch die vier Vorgängeralben sind als Ganzes nicht weniger gelungen, und auf dem ersten Album hatte er es doch tatsächlich gewagt, eine Bonus-CD mit Geräusch- und Gedicht-Montagen zu den Werken anzuhängen, in der er seiner wilden Fantasie ungebremsten Lauf ließ. Die einen werden es als Sakrilegsbruch ablehnen, die anderen teils amüsiert, teils gespannt genießen. Hier macht einer wirklich, was er will, ohne dies als Akt der Willkür auf die musikalische Gestaltung zu übertragen. Und ohne großes Aufsehen, ohne prätentiöses Rühren der Werbetrommeln wächst hier ein Scriabin-Zyklus heran, der das Zeug hat, nach Vladimir Sofronitzky und Igor Shukov nicht nur einfach Klavier- und Scriabin-Fans in Erregung zu versetzen, sondern auch die Kenner zu entzücken.

[Ernst Richter, September 2016]

In Schönheit die Zeit still stehen lassen…

Ole Buck – Sinfonietta Works: ‚Fiori di ghiaccio’ für 9 Instrumente (1999), ‚A Tree’ für 13 Musiker (1996), [Untitled] für 8 Instrumente (2010), ‚Flower Ornament Music’ für 17 Instrumente (2001)
Athelas Sinfonietta Kopenhagen, Jesper Nordin

Dacapo CD 8.226589 (EAN: 636943658925)

Der 1945 geborene dänische Komponist Ole Buck zählt zu den überragenden Meistern seines Landes, ist jedoch wie auch Hans-Henrik Nordstrøm dort ein Außenseiter – aber wir wissen ja, dass die Außenseiter oft viel bedeutender sind als die üblichen Verdächtigen, die landauf landab gespielt werden… Von Buck war bereits 1996 bei Dacapo eine Debüt-CD mit Sinfonietta-Werken erschienen, damals mit dem zwischen 1992 und 1995 entstandenen Jahreszeiten-Zyklus ‚Landscapes’, der zum Schönsten gehört, was die jüngere nordische Musik hervorgebracht hat. Denn in dieser Musik geht es zentral um Schönheit, und nicht weniger zentral darum, die Musik aus sich selbst heraus wachsen zu lassen, in anscheinender Absichtslosigkeit, und mit einer extremen Zerbrechlichkeit, die nicht nur technisch-tonlich sehr herausfordernd und heikel ist, sondern auch setets den Bezug zur beinahe (und manchmal auch tatsächlich) eintretenden Stille hält. Buck liebt – wie beispielsweise auch Arvo Pärt, Peteris Vasks oder Pascal Dusapin unter den Heutigen – die introvertierten Sphären des den ganzen Satz durchwebenden Moll. Er liebt ostinate Figuren, die zart ineinander gleiten und mal subtil, mal mit plötzlich herausfahrender Geste umschlagen. Er liebt das Andeutende, Offenlassende, um es dann ebenso unerwartet mit dem Konkreten, überraschend Bestimmenden zu konfrontieren. Er liebt die pointillistisch oszillierende Instrumentation, und das naturhaft irregulär sich Aufbauende und wieder Ausdünnende. Obwohl diese Musik stark an unsere Emotionen appelliert, nimmt sie keineswegs gefangen, hat nichts Affirmatives und belästigt nicht auch nur mit einem Gramm Sentimentalität.

Das früheste Werk dieser neuen CD ist unmittelbar nach den ‚Landscapes’ entstandene, knapp viertelstündige ‚The Tree’, ein musikalische Lebewesen von unerhört feinsinnigem Zauber, von einer unergründlichen Schönheit auch in den dissonanten Reibungen, die auf der klaren harmonischen Folie wie Scherenschnitt seelischer Zustände wirken. Hier könnte man tatsächlich assoziieren, dass sich Per Nørgård mit seiner zeitenthobenen Entgrenzung und Arvo Pärt mit seiner innig psalmodierenden Versenkungskraft die Hand reichen, und doch ist die dabei gewonnene Sprache eine andere, eigene, die auch nicht den Mechanismen der Minimal Music, an welche sie immer wieder erinnert, verfällt.

Von 1999 stammt die wunderbar fein belebte, nur ein wenig kürzere Mollstudie ‚Fiori di ghiaccio’, eine Hommage an Nicolò Castiglioni, und doch nur in der fragilen Klanglichkeit diesem verwandt und nicht in der von seriellen Verfahren nicht affizierten Tonsprache. Dieses Stück führt uns so unwillkürlich in eine idyllisch verhangene Traumwelt hinüber – dem Komponisten zufolge „fällt die ganze Zeit über Schnee“ –, dass man nur ein gigantisches Kultpotenzial attestieren kann, das nur aus dem einen Grund nicht zum Tragen kommt, dass der Komponist ein Unbekannter ist. Es ist geradezu ideale Musik für New Age-Feingeister, und zugleich ist sie viel mehr. Umfang und insgesamt auch offenkundig facettenreicher ist die 22minütige ‚Flower Ornament Music’ von 2001, ein tönendes Bekenntnis zum Zen, und die Zeit vergeht wie in einem permanenten Schwebezustand, was nicht bedeutet, dass nicht auch Kraftvolles und Dramatisches vorkäme.

Klanglich eine deutlichen Kontrast bietet das kürzeste, kleinstbesetzte und jüngste Werk, [Untitled] von 2010 mit ihrer Gegenüberstellung von stachliger Obsession und tiefem Unterholzkriechen, außerdem ist hier die Faktur viel dissonanter, aber immer von unmittelbar sich übertragender Körperlichkeit und Authentizität. Hier hört man jedenfalls deutlich, dass auch Buck ein Komponist unserer zerrissenen, das Zärtliche zerstörenden oder wenigstens unterdrückenden Epoche ist.

Das Spiel der Athelas Sinfonietta unter Jesper Nordin ist von beeindruckender Präsenz, Präzision und Klangschönheit, das Klangbild geradezu ideal in der glasklaren Räumlichkeit fern trockener oder verhallender Extreme, und der Booklettext informiert über das Nötigste. Rundherum ein hinreißendes Album, das allen zu empfehlen ist, die offene Ohren für wirkliche Schönheit jenseits von Ideologien und Klischees haben (diese Musik ist eben auch kein „zurück zu…“!), die gerne die Zeit still stehen lassen und sich nicht mit der Befürchtung beschäftigen, jemand könne sie für naive Hörer halten.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, September 2016]

Auch in Dänemark

Ole Buck (b. 1945)
Sinfonietta Works

Athelas Sinfonietta Copenhagen
Jesper Nordin, conductor

Da Capo 8. 226589
6  36943 65892 5

Doch, auch in Dänemark! Der diesjährige Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises ist der dänische Komponist Per Nørgård, der 1932 geboren wurde. Ole Buck, Jahrgang 1945, ist selbst im eigenen Land ein „Geheimtip“, und so kamen zu seinem 70. Geburtstags-Konzert erstaunlich viele Besucher, die Ole Bucks Musik endlich mal leibhaftig erleben wollten. (Wie im Booklet erzählt wird, waren die Zuhörer sehr erstaunt und berührt von dem, was sie da zu hören bekamen von der Athelas Sinfonietta unter ihrem Dirigenten Jesper Nordin.)

Und so ging es mir auch, als ich diese Musik zum allerersten Mal vernahm. Noch dazu, wo eine Klarinette ihre unvergleichlichen Melodien singt – vor allem, wenn die so gespielt wird wie im ersten Stück von 1991 „fiori di ghiaccio“ für neun Instrumente. Eine Komposition, die mit so wenig „Material“ auskommt und dennoch nie die Langeweile mancher Minimal Music aufkommen lässt, im Gegenteil. Sie zieht einen förmlich soghaft in ihren Bann, der einen nicht mehr loslässt. Über Stück und Komponist sowie die Ausführenden bietet das Booklet erschöpfend Auskunft.

Genau so fesselnd die anderen Stücke: „A Tree“ (1996) für 13 Spieler, – ganz anders als das erste Stück, Klänge und Rhythmen, die eine pflanzenhafte  Struktur hervorrufen, wobei die Wurzeln der Tradition und die Verbindung zum Heutigen, die Äste das sich in die Moderne Erstreckende darstellen. Bis ins Raumhafte und Verschwindende oder ins Unhörbare oder in die Leere, wie eben auch ein Baum nicht einfach aufhört mit dem, was das Auge sieht oder den Ohren der „Baumklang“ sich mitteilt.

Das Dritte, ein Stück ohne Titel (2010) für 8 Instrumentalisten, intensiv rhythmisch fast  wütend beginnend mit harschen Klängen, die von tiefen Instrumenten kontrapunktiert werden. Diese unterschwellige „Wut“ durchzieht das ganze Stück rhythmisch wie auch klanglich, auch wieder mit ganz wenig Tonmaterial, das aber sehr intensiv wieder und wieder, fast maschinenhaft ertönt.

Als längstes die „Flower Ornament Music“ für 17 Instrumente, das mit dem ersten die größten Gemeinsamkeiten hat. Mal erinnert der Beginn an Tony Scott’s „Music For Zen-Meditation“, so “japanisch“ kommt der Begin  daher, dann wieder halten Liegetöne die Spannung zum nächsten rhythmischen Übergang, an dem von Bongos bis zum Gong verschiedenste Instrumente sich beteiligen. Übrigens sind alle Stücke Ersteinspielungen auf dieser CD.

So schön und spannend kann Musik sein, die mit wenigen Tönen spielt, mit Rhythmen und Klängen jongliert und auch ohne großes Brimborium den Hörer anspricht und mitnimmt auf eine Klangreise, die es in sich hat. Für den, der sich nichts darunter vorstellen kann: Es ist ein bisschen, als würde die aus sich selbst sich entwickelnde Unendlichkeits-Klangwelt Per Nørgårds mit dem Moll-Archaismus von Arvo Pärt eine Ehe eingehen, die in eine unbekannte erfüllende Zukunft verweist.

Dass Ole Buck auch Musik für Tänzer und Theater-Musik geschrieben hat, er, der heute auf dem Land lebt und arbeitet, macht neugierig auf mehr von diesem intensiven Klangmagier.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Leider hochaktuell…

Die letzten Tage der Menschheit
Karin Wagner, Klavier   Csongor Szántó, Bariton   Fritz Schuh, Sprecher

Österreichische Kriegslieder vs. Texte von Karl Kraus

Gramola 99116
9 003643 991163

So erschreckend die Zusammenstellung von Liedern, die den Krieg (wenigsten den ersten Weltkrieg damals) verherrlichten und scheinbar notwendig werden ließen gegen die übermächtigen Feinde rings um die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich – und damals waren ja bis auf ganz wenige Ausnahmen wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht fast alle, auch die Besonnenen, für die militärische Auseinandersetzung –, und den geradezu hellsichtigen und auf den Punkt genauen Texten des Österreichers Karl Kraus (1874-1936) auch ist: Sie ist leider auch heute noch oder wieder fürchterlich aktuell, wie man ja auch am Erstarken des Rechtsradikalismus hier und überall sieht.

Dass sich Komponisten wie Robert Stolz (1880-1975) oder Carl Michael Ziehrer (1843-192), Emil Hochreiter (1872-1938 oder Ralph Benatzky (1884-1957) für solche „patriotischen“ Machwerke hergaben, wundert heute vielleicht keinen mehr, denn die meisten hatten ihren „common sense“ damals zu Hause gelassen; im Booklet stehen einige erschreckende Zeugnisse sogar von Arnold Schönberg (1874-1951) und Anton Webern (1883-1945)!

Der Kontrast zwischen den durchaus überzeugend vorgetragenen Liedern – die Pianistin und der Sänger geben fast zu viel Herzblut darein, was aber beabsichtigt zu sein scheint – und den auch heute noch bezwingenden Kraus-Texten gegen den Wahnsinn der Kriegsmaschinerie, angeheizt durch eine entsprechende Presse – die Parallelen zu heute sind geradezu schockierend – ist dennoch schwer auszuhalten, denn Sprecher Fritz Schuh lässt die Unerbittlichkeit (und da steckt ja das Wort „bitter“ durchaus drin!) mit beklemmender Intensität Wirklichkeit werden. Man denkt natürlich auch an die einmalige Sprachkunst des Helmut Qualtinger, wenn Schuh seine ganzes Können in den Dienst dieser auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren habenden Texte des Mahners Karl Kraus stellt und sie in all ihrer Wahrhaftigkeit gestaltet. Oft läuft es einem kalt den Rücken hinunter ob der furchterregenden Übereinstimmung mit heutigen Phänomenen. Und das ist sicher beabsichtigt von einer CD, die genau diese Abgründe zwischen „gut“ gemeint und „böse“ geworden, zwischen objektiver Klarheit und oberflächlichem Mitläufertum schauererregend erlebbar werden lässt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Was soll man dazu noch sagen?

LSO Live, LSO0770; EAN: 8 22231 17702 9

Valery Gergiev dirigiert das London Symphony Orchestra live mit den ersten beiden Symphonien (den beiden ohne programmatischen Titel) von Alexander Scriabin. Die Solisten im Finale der an Beethovens Neunte angelehnten ersten Symphonie sind Ekaterina Sergeeva (Mezzo-Sopran) und Alexander Timchenko (Tenor), es singt der London Symphony Chorus.

Es gibt Aufnahmen, über die ließen sich Romane schreiben, es könnten seitenweise Kritikpunkte aufgelistet werden, es könnte die Musikalität und die feine Abstimmung ausführlich gelobt werden – und dann gibt es Aufnahmen, die verweigern sich geradezu einer schriftlichen Fixierung der gehörten Beobachtungen. Ein Paradebeispiel dessen ist die hier vorliegende Doppel-CD mit den ersten beiden, höchst ambitionierten Symphonien Scriabins mit Valery Gergiev und dem London Symphony Orchestra.

Es ist gerade heraus zu formulieren: Diese beiden Aufnahmen grenzen an absolute Perfektion. Das Orchester spielt mit selten zu hörender Reinheit und Sauberkeit, die Musiker sind bestens aufeinander abgestimmt und der entstehende Klang ist von feingliedrig luzider Durchsichtigkeit. Wenn nicht auf Lappalien wie eine gelegentlich etwas zu schwach vernehmbare Nebenstimme mit potentiell größerer Aussagekraft oder dem leicht verwaschenen Rhythmus im vierten Satz der ersten Symphonie (eigentlich keine Kleinigkeit, doch gibt es aktuell kein mir bekanntes A-Orchester, welches den rasend punktierten Rhythmus präziser spielen könnte) herumgeritten werden soll, lässt sich absolut nichts Negatives über diese Live(!)-Einspielungen sagen, die mit eindrucksvoller Klangkontrolle und uhrwerkhafter Präzision prunken. Die beiden Solisten Ekaterina Sergeeva und Alexander Timchenko passen sich vorzüglich in das instrumentale Gerüst ein und brillieren mit glasklarer und innerlich erfühlter Linienführung. Der Einsatz des Chores, hier des London Symphony Chorus, erregt immer wieder Gänsehaut, unweigerlich wird der Hörer erinnert an das grandiose Finale von Beethovens Neunter und gleichzeitig ist es solch eine transzendentale Welt, die mit allen Mitteln der beginnenden 20. Jahrhunderts erschaffen ist, dass eine unvergleichliche Symbiose entsteht, der man sich nur hingeben kann.

Und obgleich es definitiv eine der besten Aufnahmen dieser Symphonien auf dem Markt ist, bin ich nicht vollkommen glücklich mit ihr. Warum? Meine Antwort ist, dass die Aufnahme dermaßen perfekt einstudiert und kaltschnäuzig auf Brillanz getrimmt ist, dass ihr damit auch die Seele herausgeschnitten worden ist. Vor lauter Reinheit spricht mich dieser Scriabin nicht mehr an, die Musik hat ihre wendige und pathetische Aussagekraft verloren, steht nur mehr da wie ein prototypischer französischer Garten aus der Retorte, wunderschön und über alle Zweifel erhaben, und doch des Lebens beraubt.

Lediglich das grandiose Chorfinale der Ersten kann durch Eintreten der menschlichen Stimme auch die Menschlichkeit zurückholen, die zuvor und auch in der Zweiten hermetischer Vollendung makellos polierten Schönklangs als Selbstzweck geopfert wurde.

[Oliver Fraenzke, September 2016]

Alte Musik? Oh, je…

William Lawes 1602-1645

Complete Music for solo lyra viol
Richard Boothby , lyra viol

Harmonia mundi HMU 907625
0 93046 76252 0

Historizismus ist ja gut und recht, und Musik auf dem ältesten noch erhaltenen Instrument zum Leben zu erwecken, ist an und für sich ehrenwert, aber der Rezensent – erfahren in Alter Musik und grundsätzlich sehr bewegt von  Gamben-Consort-Musik –hat bei dieser CD mehr als eine Schwierigkeit, diese Töne – und es sind immerhin 35 Sätze, die hier vorgestellt werden – überhaupt als in sich bezügliche, irgendwie auch nur im kleinsten Zusammenhang erfahrbare Musik wahrzunehmen. Abgesehen vom Klang des zeitweise faszinierend klingenden Instrumentes, der Lyra Viol, einer speziellen Gambenart, über die das Booklet informativ berichtet, ist das, was an die Ohren dringt erstens auf die Dauer und zweitens auch im Kleinen richtungslos und folgerichtig ausgesprochen langweilig. Es fehlt jeglicher rhythmische Fluss, der schon im Ansatz fortwährend ausgehebelt wird durch mechanische „Rubati“, die jedes Mal auftreten, wenn ein Akkord die leider auch nicht vorhandene melodische „Linie“ – so man von einer solchen überhaupt ab und an sprechen will – abrupt und wie ein Schluckauf unterbricht. Dabei ist die Melodie ja gerade bei der englischen Gambenmusik der lineare Grund, auf dem dann auch die ausgefallensten Harmonien sich ereignen können, wie man beispielsweise bei Purcells Fancies von 1680 unschwer nachvollziehen kann.  Lawes’ Consort-Musik ist doch auch alles andere als ein unzusammenhängendes Lavieren von einem Ton zum anderen.

Und die Frage, ob eine CD, die ein komplettes Werkganzes für eine Besetzung vermitteln will, dieser Musik nicht außerdem einen Bärendienst erweist, sei am Rande zusätzlich eingeworfen. Denn auf diese philologisch akkurat geordnete – und klanglich extrem kontrastarme – Art sind die Stücke auf der Lyra Viol zu Lawes’ Zeit am Stück sicher niemals aufgeführt worden, und waren auch nicht zu solch enzyklopädischem Zweck gedacht. Da hilft selbst das apart aufgemachte Äußere dieser CD dem Gesamteindruck nicht auf die Sprünge.

Hauptkritikpunkt jedoch bleibt der völlige Mangel an erlebbarer melodischer Beziehung zwischen den Tönen, und damit einhergehend natürlich der Verlust der elementaren Tanzcharaktere und die offene Frage, wie denn die Musik als originelle Äußerung eines schöpferischen Geists, der Lawes ja zweifelsohne ist, überhaupt würde.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Siebzig Jahre Klaviermusik von den Darmstädter Ferienkursen

NEOS 11630 (7CDs), LC 15673; EAN: 4 260063 116308

Wohl kein Ort der Welt scheint nach 1945 so mit dem Begriff der „Musikalischen Moderne“ verknüpft wie Darmstadt mit seinen berühmt-berüchtigten Ferienkursen. Von den etwa tausend bei den dortigen Begleitkonzerten aufgeführten Klavierwerken hat jetzt das Label NEOS auf sieben CDs eine kluge Auswahl als „Darmstadt Aural Documents – Box 4 · Pianists“ vorgelegt, die dem Hörer gut die mannigfaltigen ästhetischen Positionswechsel der letzten siebzig Jahre demonstriert. Dabei hatte die Klaviermusik, vergleichbar mit dem Streichquartett in früheren Epochen, immer eine Schlüsselfunktion inne. Unter den Aufnahmen etlicher für die Interpretation von neuer Klaviermusik prägender PianistInnen – darunter viele CD-Erstveröffentlichungen – finden sich auch einige echte Schätze, gerade aus den Anfangsjahren. Das komplette Programm der Box findet man hier.

In der Reihe Darmstadt Aural Documents widmet sich die vierte Veröffentlichung bei NEOS (nach Orchesterwerken, John Cage und Ensemblemusik) endlich der Darmstädter Auseinandersetzung mit der Klaviermusik. Die 7-CD-Box enthält 54 Werke von 49 verschiedenen Komponisten mit insgesamt über 8½ Stunden Musik. Im Gegensatz zur großen Anthologie Musik in Deutschland 1950-2000 (RCA), die dem Hörer Stücke oft nur häppchenweise vorsetzt, sind hier zum Glück aus mehreren Teilen bestehende Werke immer vollständig zu hören. Das unerwartet dünne Booklet enthält neben der Trackliste zunächst nur ein Vorwort sowie einen schönen Text von Stefan Fricke, der die historische Position des Klaviers nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Veränderung beleuchtet. Nachfolgend versucht Michael Zwenzner zwar, die meisten der vorgestellten Werke innerhalb ihres konkreteren ästhetischen Kontexts zu verorten – tatsächliche Werkbeschreibungen zu den einzelnen Stücken fehlen aber. Dies kann und soll diese Besprechung natürlich nicht nachholen.

Die Verteilung der Musik auf die 7 CDs entspricht so sicher nicht ganz ihrer anteiligen historischen Bedeutung für Darmstadt. CD1 enthält Klavierwerke vor 1950 – hier findet man neben Arnold Schönbergs opp. 19 u. 23 und einigen zu Unrecht vergessenen Raritäten (Wolpe, Sessions, Apostel) z.B. auch die Klaviersonate von Béla Bartók (1926), was zunächst verwundern mag, da diese heute allenfalls gemäßigt modern erscheint. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die erste Aufgabe der Darmstädter Ferienkurse darin bestand, dem interessierten Publikum und den (jungen) Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Musik zugänglich zu machen, die während des Dritten Reichs schlicht verfemt war (Stichwort: Entartete Musik). Auch in der Aufführungsstatistik etwa der Münchner Musica-Viva-Konzerte während der 1950er-Jahren hatte Bartók einen erstaunlich hohen Stellenwert. CD2 ist allerdings etwas unbefriedigend: Auf nur einer CD erscheinen die Werke der 50er und 60er-Jahre unterrepräsentiert, da gerade diese zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere auf Reflexionsebene, in Darmstadt hatten – nicht zuletzt dadurch, dass die Kurse bis 1970 noch jährlich stattfanden (danach im Zweijahreszyklus). Hier bedauert man auch die Entscheidung der Herausgeber, Werke für zwei Klaviere ganz herauszunehmen. Die komplexesten Werke dieser Zeit sind oft gerade für diese Besetzung konzipiert. CDs 3-6 präsentieren jeweils ca. ein gutes Jahrzehnt (1970-2010). Die zweite Hälfte von CD6 und CD7 sind dann Stücken gewidmet, bei denen das Klavier modifiziert ist (andere Stimmung, Präparation, Hinzunahme von Tonbändern oder Live-Elektronik, computergenerierte Klänge etc.), oder aber der Pianist noch andere Aktionen – etwa als Sprecher – ausführen muss bzw. gänzlich fehlt (Player Piano).

Darmstadt stand jahrzehntelang nicht nur für einen wichtigen Aufführungsort Neuer Musik – das war Donaueschingen bereits seit den Zwanzigerjahren – sondern vor allem auch für den Ort kritischer Reflexion unter Komponisten und Musikwissenschaftlern. Bezeichnend ist hier allerdings das fast dogmatische Festhalten an einem bestimmten, sicher auch ideologisch geprägten Fortschrittsbegriff, wie ihn etwa Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger vertraten. Dieser fordert eine rational herstell- und analysierbare Materialstimmigkeit („Materialfortschritt“), die auf der anderen Seite musikalische Begrifflichkeiten wie etwa „Ausdruck“ völlig ignoriert und so auch – besonders deutlich im Fall von Pierre Boulez‘ 3. Klaviersonate – quasi das „Fehlen des Autors“ geradezu heraufbeschwört.

Vielleicht lässt sich diese (Fehl?)entwicklung anhand der ersten beiden CDs für den Hörer gut nachvollziehen. So finden wir hier eine Darbietung von Anton Weberns Variationen op.27 durch den Uraufführungspianisten Peter Stadlen, dem der Komponist 1937 mit auf den Weg gegeben hatte, das hochkonstruktive Werk quasi romantisch und mit Rubato vorzutragen. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schon die erste Phrase nicht nur ein Palindrom in  zeitlicher Richtung, sondern auch noch in der Vertikalen spiegelsymmetrisch ist. Tatsächlich folgt der Pianist in seiner Wiedergabe von 1948 dieser Aufforderung überzeugend. Und wenn man Stadlens Interpretation von Schönbergs op. 23 (das letzte Stück, der Walzer, ist das erste offizielle Zwölftonwerk Schönbergs) mit der staubtrockenen, rationalen Aufnahme von Schönbergs eigentlich expressionistischen Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 unter den Händen von Eduard Steuermann – seinerseits Widmungsträger der Webernschen Variationen – aus dem Jahre 1957 vergleicht, wundert man sich nicht schlecht über den ästhetischen Wandel des Klavierspiels, der da stattgefunden hat. Wenn Weberns hermetische Kunst einer konsequenten Materialbeschränkung von den „Darmstädtern“ (insbesondere Boulez und Stockhausen) quasi zur Prämisse erklärt wurde, so war der Weg zur seriellen Musik unaufhaltsam. Dass diese dann (Ligeti erklärt dies bereits in einem frühen Aufsatz mit unweigerlich auftretender Entropie) irgendwie immer „gleich“ klingt, führte sehr schnell – bereits ab 1955 – zu einer Abkehr von simpler Reihentechnik, aber dafür zu noch komplexeren Ableitungen des Ausgangsmaterials unter dem Gesetz der Zahl – teilweise aber bereits unter Einbeziehung von Zufallsentscheidungen, die man in Darmstadt durch John Cage kennengelernt hatte. Auf CD2 finden sich hintereinander gleich zwei Schlüsselwerke dieser Periode: Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (gespielt vom legendären David Tudor) und Pierre Boulez‘ Troisième Sonate. Letztere ist ein work in progress geblieben; von den fünf geplanten Sätzen –  hier: Formanten – sind nur zwei im Druck erschienen (Trope und Constellation/Miroir). Die übrigen Sätze wurden nie fertig. Die vorliegende Aufnahme ist ein ganz besonderes Tondokument, da sie nicht nur die stupenden Fähigkeiten von Boulez auch als Pianist zeigt. Er spielt hier eine vorläufige (bei den unveröffentlichen Formanten noch sehr rudimentäre) fünfsätzige Fassung. Immerhin erscheint es bei der ganzen Gehirnakrobatik hinter dieser Komposition als menschlich, dass selbst der Komponist es nicht schafft, sauber einen Weg durch das von ihm erschaffene Labyrinth zu finden: Boulez lässt – offensichtlich aus Versehen – etliche Wege in Miroir (das später gedruckte eine Notenblatt misst 3,47m x 59,6 cm!) aus, die er eigentlich obligatorisch spielen müsste. Dem oben erwähnten John Cage ist zwar eine eigene CD in der Reihe der Darmstadt Aural Documents gewidmet; in der Klavierbox fehlen aber leider auch die anderen wichtigen Vertreter der New York School (so Morton Feldman oder Earle Brown), die wichtige Bezugspunkte für Darmstadt geliefert haben.

Bei CD2 empfehle ich dringend, den CD-Player auf jeweils ein Werk zu programmieren und dies eventuell mehrfach anzuhören. Beim ersten Hören ist sonst die Gefahr in der Tat groß, sich schon im nächsten Stück – eines anderen Komponisten! – zu befinden, ohne etwas davon gemerkt zu haben. Ob so Werken wie der 3. Boulez-Sonate (über die es ein halbes Dutzend umfängliche Dissertationen gibt) etwas abzugewinnen ist, sei jedem Hörer selbst überlassen.

Es ist interessant, dass gerade das Klavier mit seinem monochromen Klang über die Jahre so wichtig für die Vertreter der seriellen Schiene geblieben ist, obwohl es auch die Schwächen dieses Komponierens mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Vielleicht ist das Klavier aber auch – schon als Möbelstück geradezu das Repräsentationsobjekt des Bürgertums – einfach historische Reibungsfläche par excellence; man denke nur an die geradezu genüsslichen Klavierdestruktionen nicht erst der Fluxus-Bewegung.

In Darmstadt hielt man länger als irgendwo sonst an seriellen Konzepten fest. Wer damit nicht konform ging, wurde oft schlicht hinausgeekelt (etwa Hans Werner Henze). So entstand eben nicht nur ein Ort gegenseitiger künstlerischer Befruchtung, sondern auch zerbrochener Freundschaften und unerledigter Diskurse – später etwa um den Begriff einer musikalischen Postmoderne, die manchem von vornherein als regressiv galt. Als selbst Adorno die aktuelle Entwicklung kritisch hinterfragte (in seiner Schrift Vers une musique informelle, 1961), erntete er überwiegend „zementierte“ Reaktionen.

Trotzdem hinterließen auch die „Abweichler“ in Darmstadt unweigerlich ihre Spuren: Als vielleicht typische Beispiele für die musikalische Postmoderne der 70er- bzw. 80er-Jahre höre man z.B. Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (Neo-Expressionismus?) und Wilhelm Killmayers Klavierstück Nr. 7 (unverschämter Weise mit tonalen Zitaten, die einzigen in der Box). Nachdem die Postmoderne-Diskussion Anfang der 1990er urplötzlich abbrach, komponierten etliche Jüngere anscheinend ein wenig unbeeinflusster von „Trends“, gerade bei der Klaviermusik allerdings oft in quasi ironisch gebrochener Weise – und auch der „Komplexismus“ ist bis heute keineswegs aus Darmstadt verschwunden.

Ob manche der in der Box vorgestellten Werke nach 1970 irgendwann – und wenn auch nur aus historischen Gründen – Repertoirestücke werden, wird erst die Zeit entscheiden. Lob verdienen auf jeden Fall die Ausführenden: Sowohl die Beispiele virtuoser Entgrenzungen (Xenakis, Boucourechliev, Ferneyhough, Sciarrino, Rothman…) als auch sich solchem verweigernde Gegenpole (Febel, Tanaka, Lang…) werden hier absolut überzeugend dargeboten – nicht von ungefähr darf ein Großteil der hier tätigen Pianisten als creme de la creme bei der Bewältigung Neuer Musik gelten. Wirklich überragend – auch gerade im Vergleich mit späteren Einspielungen – seien stellvertretend Alois Kontarsky mit Xenakis‘ Evryali und Claude Helffer mit Boucourechlievs Six études d’après Piranèse genannt.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl für die Box auch auf solche Werke gelegt, bei denen das übliche Gespann – Pianist(in) plus wohltemperiert gestimmter Konzertflügel – verworfen wird. Hier finden sich einerseits Stücke, die den normalen Tonvorrat in Richtung Mikrotonalität verändern oder erweitern (Roland Kayns Quanten, Jean-Etienne Maries Trois pièces brêves, Pascal Critons Thymes) – andererseits solche, die den Pianisten völlig ignorieren (Player Piano bzw. Computerrealisationen mit und ohne Live-Elektronik bei Barlow und Zuraj) oder aber zusätzliche Aktionen wie Singen oder Sprechen von ihm abfordern (Aperghis, Baltakas). Stockhausens Luzifers Traum oder Klavierstück XIII (1981) ist ja eigentlich auch eine Opernszene: aus Samstag aus »Licht«.

Man sollte hoffen, dass die Quintessenz des Ganzen nicht so schlimm ist, wie sie Steffen Krebber (*1976) in seinem witzigen faire signe (für Automatenklavier und einen Lautsprecher) von 2014 ironisch zu ziehen scheint. Das Stück beginnt – vom Tonband – mit dem Text: „Es lohnt sich nicht zuzuhören, weil spätere Kunst sicher besser sein wird. Bitte verlassen Sie den Saal!“

Aufnahmetechnisch ist die Box nicht zu beanstanden. Der Digital-Transfer gerade auch vieler älterer, monauraler Aufnahmen (beginnend 1948) ist gut gelungen, die zeitüblichen Störungen wurden weitgehend herausgefiltert – bei ein, zwei Aufnahmen war wohl etwas Jitter nicht zu beheben. Einige der Einspielungen zeigen neben ihrem historischen Wert die jeweiligen Interpreten auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Möglichkeiten – zudem hört man gleich drei Komponisten (Boulez, Castiglioni und Lachenmann) in der eher seltenen Rolle als Pianisten mit ihren eigenen Werken. Dass viele der dargebotenen Werke bisher gar nicht in anderer Form auf CD zugänglich waren, spricht alleine schon für eine Kaufempfehlung – allerdings eher nur für hartgesottene Fans moderner Musik. Dies ist alles andere als leichte Kost!

[Martin Blaumeiser, August 2016]

Bürgerschreck-Kollektion

Modernisten werden vorgestellt auf der neuen (nunmehr neunten) CD von Alarm Will Sound, zu hören sind The Beatles, Charles Wuorinen, Augusta Read Thomas, Wolfgang Rihm, John Orfe und Edgard Varèse, Dirigent ist Alan Pierson.

Obgleich durchaus gut gemacht, fällt es mir schwer, das Album „Alarm Will Sound Presents Modernists“ so ganz ernst zu nehmen (nicht zuletzt auch wegen des herrlich schrillen Covers), zu schnell schleicht sich das Bild der gehobenen bürgerlichen Hausdame ein, welche beim sittlichen Dinieren diese CD einlegt und den feinen Gästen eine nicht enden wollende Serie an schockierender Geräuschmusik um die Ohren schmeißt. Die Musiker sind allesamt professionelle und den großen Herausforderungen gewachsene Künstler, und doch ist die Überladung an Effekten, an Geräuschen, an Brüchen und an Chaos zu groß, als dass man das ewig Bürgerschreckhafte in dieser Zusammenstellung mit mehr als nur Humor nehmen kann.

Interessant gestalten sich insbesondere die beiden Klangstücke, die hier für Instrumentalensemble arrangiert einmal nicht elektronisch, sondern manuell ausgeführt erklingen. Revolution 9 von The Beatles stellt ihre Auseinandersetzung mit der Musik Stockhausens und Cages dar, es handelt sich um ein Gebilde aus wiederkehrenden Samples – für die vorliegende CD bearbeitet von Matt Marks. Varèses Poème électronique wurde bearbeitet von Evan Hause, auch dieses ist in der ursprünglichen Fassung eine rein elektronische Abfolge verschiedenartiger Ereignisse. Ein vergleichsweise dichtes Stück ist Big Spinoff von Charles Wuorinen, Wolfgang Rihms Will Sound (für das Ensemble als Kompositionsauftrag von „The Carnegie Hall Corporation“ geschrieben) hingegen verliert sich schnell im strukturlosen Chaos, welches nachzuvollziehen sich als Ding der Unmöglichkeit erweist. „Final Soliloquy of the Interior Paramour“ von Augusta Read Thomas setzt mehrere Ebenen des Klangs zwischen instrumental, gesungen und gesprochen zu einem recht ansprechenden Puzzle zusammen, das immer wieder von plötzlichen Aufschreien unterbrochen wird. Hektisch eilend gibt sich Orfes „Journeyman“, welcher stellenweise gar swingende Elemente einbezieht und geradezu etwas an Broadway gemahnt.

Alarm Will Sound unter Leitung von Alan Pierson zeigen ein etabliertes Verständnis der zeitgenössischen Musik und spielen in einstudierter Routine, die trotzdem nicht den Spaß am Musizieren überwiegt. Die ungehemmte Spielfreude ist den Musikern ein zentrales Anliegen, welches auch deutlich hörbar wird, wenngleich darüber einige Details verlorengehen und die Musiker gelegentlich noch schneller im Chaos dieser Musik versinken, als von den Komponisten ohnehin intendiert. Allerdings finden die Musiker auch in den verzweigtesten Passagen rhythmisch zusammen und bleiben durchweg synchron abgestimmt, die instrumentale Qualität ist – ohne je im Verlauf abzufallen – auf hohem Niveau. Während der Countertenor Caleb Burhans stellenweise hörbar mit den enormen Lagenwechseln in Thomas‘ Werk zu kämpfen hat, besticht die Altistin Kirsten Sollek mit glänzender Reinheit und geschmeidigem Ton.

Dass Alarm Will Sound nicht nur auf geräuschhafte, oberflächliche Effekte angewiesen sind, sondern tatsächlich auch klassische Qualitäten besitzen, zeigt ausgerechnet – man mag es kaum glauben – das Stück von Varèse. Die ursprünglich elektronischen Flächen instrumental darzustellen verlangt lang gehaltene Spannung, langsame und kontinuierliche Steigerungen fernab von Ungleichheiten, und einen klaren, deutlichen Ton. All dies bringt das Ensemble mit und wird von Pierson zu konzentrierter Linienführung angehalten, wodurch das finale Stück Varèses eindeutig zum Highlight dieser interessanten – und meines Erachtens auch nach wie vor amüsanten – Zusammenstellung avanciert.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Hinreißender Mozart, wie er schöner nicht gespielt werden kann

Wolfgang Amadeus Mozart – Streichquintette Vol. 2
Streichquintette D-Dur, KV 593; Es-Dur, KV614; Fragment a-Moll, KV515c, alternatives Finale zu KV593
Chilingirian Quartet mit Yuko Inoue (zweite Bratsche)
Label: crd; Art.-Nr.: crd3523 / EAN: 708093352326

Das listenreiche Chilingirian Quartet hat beim britischen Traditionslabel crd eine Reihe mit Mozarts Streichquintetten begonnen und legt nun den zweiten Teil aus dieser Edition vor. Die Einspielung überzeugt mit berührender Emotionalität und einer faszinierenden musikalischen Leistung sowie mit einem makellosen Aufnahmeklang.

Mozarts Streichquintette hat wahrscheinlich jeder, der sich ernsthaft mit klassischer Musik befasst, schon früh auch auf Tonträger erworben, wahrscheinlich in einer der vielen gelungenen Einspielungen aus der Vergangenheit. Es kursieren ja gerade für dieses Repertoire einige „Referenzen“, wobei allerdings auch manche häufiger genannt werden, die objektiv musikalisch betrachtet wohl eher wegen des „großen Namens“ eines berühmten Ensembles auf der Referenzliste gelandet zu sein scheinen, und weniger wegen dessen musikalischer Leistung.
Hier soll es aber um eine Neuerscheinung gehen, die musikalisch sehr überzeugt, bei der jedoch der Name des ausführenden Streichquartetts (samt Gast an der zweiten Bratsche) vielleicht nicht jedem gleich geläufig ist. Daher zunächst einige Worte zu den Musikern: Das Chilingirian Quartet wurde bereits 1971 von Levon Chilingirian und Cellist Philip de Groote gegründet. Es zählt somit zu den „Veteranen-Ensembles“ im bunten Reigen der Streichquartette, und daher wundert es nicht, dass sich seit Gründungstagen die Besetzung einige Male änderte. Unveränderlicher Bestandteil des einzigartigen Sounds dieses Quartetts ist jedoch Gründer Levon Chilingirian an der Ersten Violine. Mit Susie Mészáros, die Erste Bratschistin unter Sándor Végh bei dessen Ensemble Camerata Salzburg war, Ronald Birks, der bis 2005 zweiter Violinist des berühmten Quartetts „The Lindsays“ war, und Steve Orton, der bis heute als Erster Cellist der Academy of St Martin-in-the-Fields wirkt, hat Levon Chilingirian eine wirklich aufsehenerregende Truppe um sich versammelt, die mir anhand dieses neuen Mozart-Albums eines der wunderbarsten Streichquintett-Erlebnisse des bisherigen Jahres beschert hat. Dass man hier nicht mit vermeintlich „historisch informierter“ Aufführungspraxis gegängelt wird, liegt bei diesen Musikern eh auf der Hand.

Ich bin wirklich begeistert: Hier wird Mozart mit Leib und Seele, mit Überzeugung und Zuneigung musiziert. Es gibt Momente im Vortrag des Chilingirian Quartets, die so berührend sind wegen ihrer Innigkeit, ihrer Verletzlichkeit, ihrer anscheinenden emotionalen Nähe zum Geist von Mozarts Musik, dass es schwer fällt, dies adäquat in Worten auszudrücken. Technisch ist diese Gruppe sowieso mit allen Wassern gewaschen, und so will ich hier nicht schon wieder von irgendeiner „Referenz“ faseln, auch wenn man sich bei diesem Album wohl nicht dafür schämen müsste, sondern möchte vielmehr eine warme Empfehlung aussprechen, diese außergewöhnlich gute Gruppe anhand dieses Albums kennenzulernen.

Bei crd erscheint der Mozart der Chilingirians auf einem traditionsreichen Label. Es ist das Label, das mit der Vivaldi-Einspielung des English Concert unter Trevor Pinnock (die später als Lizenzaufnahme beim Alte Musik-Ableger der Deutschen Grammophon (Archiv) veröffentlicht wurde) schon früh einen All-Time-Hit der klassischen Musik landen konnte, das aber trotzdem bis heute zumindest in Deutschland kaum bekannt ist. Das mag womöglich auch an der seit vier Jahrzehnten beständig gruseligen bis Übelkeit erregenden Covergestaltung dieser Firma liegen, von der man sich jedoch nicht über die hier enthaltene, außergewöhnliche musikalische Qualität hinwegtäuschen lassen sollte.

Das Chilingirian Quartet hat vormals schon für EMI, Sony/BMG, Chandos, Harmonia Mundi, Nimbus, Virgin Classics, Hyperion und viele andere namhafte Firmen aufgenommen. Ihr Mozart erscheint nun eben bei crd. Klanglich ist das Album ebenso auf der Höhe wie die gebotene musikalische Leistung. Dieses fantastische Album sollte man unbedingt gehört haben, meiner Meinung nach sollte man es sich auch kaufen, denn es ist dies ein seltenes Beispiel für eine Mozart-Einspielung, die das Zeug dazu hat, einen ein Leben lang zu begleiten und immer wieder aufs Neue zu erfreuen. Es ist auf alle Fälle die schönste Mozart-Kammermusikaufnahme, die ich im bisherigen Jahr gehört habe.

[Grete Catus, August 2016]

Eduard Erdmann in Berlin

 

Der Berliner Kreis um Eduard Erdmann war Fokus des Symposiums „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste in Berlin am 26. und 27. August 2016. In der Akademie am Hanseatenweg Berlin fanden an zwei Tagen Vorträge über Erdmann und einige seiner wichtigsten Berliner Zeitgenossen statt, an beiden Abenden gab es zudem Konzerte mit seiner Musik.

Der 1896 in Riga geborene Eduard Erdmann ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, weder werden seine großartigen Kompositionen gelegentlich gespielt, noch spricht man weiter von ihm als einem der größten Pianisten und Musiker des vergangenen Jahrhunderts. Bereits zu Lebzeiten galt er als einer der überragenden Pianisten aller Zeiten, er musizierte regelmäßig unter anderem vierhändig mit Walter Gieseking oder im Duo mit der Ausnahmegeigerin Alma Moodie, von deren laut Ohrenzeugen unvergleichlichem Spiel bedauerlicherweise kein Ton in Aufnahmen erhalten ist. Heinz Tiessen hatte in Erdmann seinen ersten bedeutenden und kreativsten Kompositionsschüler vor Sergiu Celibidache. Unmittelbares Erleben, intensivstes Erhören und ein unübertroffenes Gespür für die kadenzierenden Kräfte über lange Strecken prägten Erdmanns Spiel, was zumal in den späten Schubert-Sonaten zu vollendetem Ausdruck kommt. Die begnadet feinfühlige Pianisten Lucy Jarnach, Enkelin des Komponisten Philipp Jarnach (des Schülers von Busoni, engen Freundes von Erdmann und Lehrers von Kurt Weill), nannte Eduard Erdmann neben Arturo Benedetti Michelangeli und Dinu Lipatti als bedeutendsten Pianisten, von dem heute noch Aufnahmen erhalten sind – eine Trias, der zugestimmt werden kann. Doch auch als Komponist schuf Erdmann bedeutsame Werke. Gerade von der Dritten wird oft als einer der ganz großen Symphonien des 20. Jahrhunderts gesprochen – leider ist sie derzeit nur in einer schäbigen Aufnahme unter Israel Yinon erhältlich, der wohl nicht eine einzige Probe vor der Aufnahme ansetzte, und dem auch das Wissen um Phrasierung und Spannungsentwicklung vollständig fehlte. Neben Erdmanns vier Symphonien sind unter anderem noch die Monogramme, die Capricci, das Klavierkonzert sowie das Klavier-Konzertstück, das Ständchen für kleines Orchester (mit dem Titel war Erdmann später unglücklich, da er zu „harmlos“ klang für diese Musik), ein Streichquartett und die symphonisch angelegte Sonate für Violine Solo zu nennen.

Im Berliner Symposium „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste ging es nicht um ausführliche biographische Details oder intensive Werkanalyse, hier wurde hauptsächlich gesprochen von dem großen Kreis, den Erdmann in Deutschlands Hauptstadt um sich hatte, über ihn und seine Lehrer, Freunde und Kammermusikpartner. So konnte ein umfassendes Bild der vielseitigen Persönlichkeit Erdmanns entstehen und der Hörer erfuhr Hintergründe und Aspekte des Lebens eines außerordentlichen Künstlers, die in dieser Ausführlichkeit der Zeitzeugenschaft selten sind. Seine unschätzbare Bibliothek, sein umfassendes Wissen quer durch alle Bereiche bis hin zu seinen familiären Umständen wurden thematisiert. Persönliche Begegnungen mit direkten Nachkommen Erdmanns und sogar noch mit ehemaligen Schülern und Freunden des 1958 Verstorbenen ergänzten dies in authentischer Weise.

Den Startschuss machten kurze Begrüßungen des Leiters der Akademie der Künste Werner Grünzweig, welcher eine konzentriert-informierende allgemeine Einführung in das Symposium gab, und dem Vorsitzenden der Eduard-Erdmann-Gesellschaft Horst Jordt, der die wundersame Welt der Irene Erdmann, der Gattin des Meisters, beleuchtete. Sie war ebenfalls eine Künstlerin von Rang – wenngleich sie ihre Gemälde nicht ausstellen ließ – und ermöglichte es überhaupt, dass ihr Mann sich so intensiv mit der Musik und seinen Büchern beschäftigen konnte, während sie die Aufgaben der Kindererziehung wie der Briefkorrespondenz übernahm – allgemein gesprochen, den konstanten Kontakt zur Außenwelt hielt. Eine allgemeine Einführung in das Symposium gab der zweite Vorsitzende Gerhard Gensch.

Den ersten großen Vortrag hielt Christoph Schlüren über „Symphonische Formung in freitonaler Linearität“, womit er das subtil-künstlerische Verhältnis zwischen Erdmann und seinem Lehrer Heinz Tiessen auf musikalisch-ästhetischer Ebene offenlegte. Schlüren sprengte sein Thema, erklärte als zentralen Punkt seines Beitrags auf bislang unerhörte Weise die Phänomene der sogenannten Dodekaphonie, welche er als rein theoretisch funktionierendes Konstrukt beschrieb, im Gegensatz zu der freitonalen Musik Erdmanns, Tiessens und anderer. Auch der Begriff „Atonalität“ wurde angesprochen und verworfen, da auch in der seriell komplexesten Tonorganisation Quintbeziehungen entstehen, die für kurze Zeit tonale Zentren schaffen, welche nur – ebenso wie auch bei Regers kaum durchdringbar mäanderndem Dauer-Modulieren auf engstem Raum – stets schnell wieder entgleiten. Anhand von sechs Tönen Erdmann-Musik ließ er Spannungsverhältnisse verstehen und miterleben. Der Vortrag Schlürens war zweifelsohne für Fachpublikum mit Vorkenntnissen ausgelegt und einige anwesende Nichtmusiker dürften von dem geballten Inhalt eher verschreckt worden sein. Doch wer über allgemeines Wissen über essenzielle musikalische Grundlagen verfügt und sich auch der eigenwilligen, dem „Mainstream“ diametral entgegengesetzten Ansicht ohne Insistieren auf konventionellen Akademismus öffnen konnte, durfte hier eine faszinierende Welt entdecken und einen heute kaum begangenen Weg mit-erkunden, Musik zu verstehen und aus den subtilen Spannungsverhältnissen heraus zu hören und zu erleben. Hier wird ein neuer, wenngleich absolut natürlicher Zugang zur Musik gebahnt, der ununterbrochen aktive Wahrnehmung erfordert, den Hörer dadurch aber unweigerlich belohnt. Es entsteht ein Verständnis von der Musik, die sich von Mechanisierungen löst, jede Tonkombination und somit jede Phrasierung wird einzigartig und muss für sich individuell erspürt werden. Und dies wurde hier erklärt anhand von Beispielen von Tiessen und Erdmann – und wer aktiv mitging, wird die Beziehung der Komponisten intensiver begriffen haben als es ein rein biographisch arbeitender Vortrag je auch nur ansatzweise es hätte vermitteln können.

Volker Scherliess hätte über die Beziehung zwischen Eduard Erdmann und Artur Schnabel sprechen sollen, doch erkrankte er und musste Werner Grünzweig seinen Text „Hüten Sie sich vor Geschicklichkeit!“ anvertrauen, der sich auf eine Warnung Schnabels an seinen Schüler Erdmann bezieht. Auf umfassender Quellenlage beruhend beschrieb Scherliess – durch Grünzweig eindringlich vorgetragen – auch private Aspekte des freundschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses und lieferte ein detailreiches Bild vom Zusammenwirken zweier großartiger Pianisten bis hin zu Erdmanns teilweiser Aufführung von Schnabels als Jugendsünde abgestempeltem und nicht zur Aufführung gedachtem Klavierkonzert unter Pseudonym eines unbekannten Komponisten.

Der zweite Symposiumstag wurde eingeläutet von einer kurzen Einführung durch Manfred Schlösser, welcher trotz vollständiger Ertaubung auf unwahrscheinlich eloquente Art in das von ihm gemeinsam mit dem bereits verstorbenen Christof Bitter herausgegebene Buch „Begegnungen mit Eduard Erdmann“ einging und einige besondere Passagen herausfischte. Es war zutiefst beeindruckend, wie Schlösser trotz des Handicaps nicht nur stringent und charmant vortrug, sondern durchgehend präsent war, die Beiträge der anderen mitlesend und via Diktier-App kommunizierend. Hier stand eine Legende der Erdmann-Forschung vor uns, dessen Buch mit substanziellen Beiträgen aus Erdmanns Umfeld weit mehr als ein Must Have für jeden ist, der sich mit der Person oder dem Künstler Erdmann beschäftigen will. Dies ist wirklich eines der schönsten, vielseitigsten und umfassendsten Bücher der gesamten Musikliteratur (sowie Leitquelle für die meisten gehaltenen Vorträge), eine Besprechung wird in Bälde auf The New Listener erscheinen.

Dem folgte ein Vortrag über den „eigenwilligen Trabanten“ Hans Jürgen von der Wense, der nach seinem Umzug nach Berlin 1920 gerade mit Erdmann und Krenek eine intensive Freundschaft pflegte. Von der Wense darf schlichtweg als Universalgelehrter gelten, er war neben seinen schriftstellerischen Fähigkeiten ein ambitionierter Komponist und Übersetzer aus allen möglichen Sprachen, von welchen er Dutzende beherrschte, zudem war er leidenschaftlicher Pilot und Wetterkundler. Reiner Niehoff (ausnahmsweise ohne Mitwirkung seiner Frau Valeska Bertoncini) brachte den Hörern das ungewöhnliche Leben von der Wenses, seine unverwechselbaren Eigenheiten und seine Verbindung zu Erdmann auf humorvolle und sympathische Weise näher – das Publikum war gebannt von seinen humoristisch-legeren und zugleich sachlich-informativen Ausführungen.

Zugegebenerweise verstehe ich nicht, warum es in diesem Rahmen einen Vortrag über den expressionistischen Maler George Grosz gab, stand er doch vermutlich – obgleich sie Zeitgenossen waren und in der selben Stadt lebten – nie in Kontakt mit Eduard Erdmann, doch hat auch Birgit Möckels Beitrag über ihn das facettenreiche Bild über Erdmann um einen weiteren wichtigen Zeitgenossen bereichert, dessen Kunst das Zeitgeschehen der Weimarer Republik auf einmalige Weise portraitierte.

Anhand des Briefwechsels zwischen Artur und Therese Schnabels eröffnete Julia Glänzel den Zuhörern persönliche Beobachtungen über Eduard Erdmann als Mensch und als Künstler, gab private und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Aussagen preis über einzelne Konzerte oder allgemein über die nachlässige äußerliche Erscheinung Erdmanns, dem beispielsweise sein Kleidungsstil vollkommen egal war, was wohl immer wieder für Befremdlichkeiten sorgte. Ergänzend zu den Berichten von und über Artur Schnabel spielte die ausgezeichnete Geigerin Judith Ingolfsson Ausschnitte aus der riesenhaften Soloviolinsonate Artur Schnabels.

Der letzte Beitrag beschäftigte sich mit Eduard Erdmanns Geigenpartnerin Alma Moodie, die als Wunderkind schon in frühestem Alter Max Reger begegnete und Carl Flesch vorspielte, dessen Schülerin sie später werden sollte. Ihr Spiel, von dem keine Aufnahmen erhalten sind, wurde anhand von Pressestimmen beschrieben, und die Referentin Birgit Saak betrachtete auch das Repertoire von ihr und Erdmann, welches sie in ihren beiden Phasen kammermusikalischer Kooperation (unterbrochen durch Erdmanns Umzug nach Köln und die Schwangerschaft der früh verstorbenen Violinistin) einstudierten.

Beide Symposiumstage wurden abgerundet von Konzerten, die zum großen Teil dem Komponisten Eduard Erdmann gewidmet waren. Am Freitag spielte Vladimir Stoupel am Klavier mit den Sängern Anna Gütter, Dirk Mestmacher und Jiří Rajniš Auszüge aus der Fragment gebliebenen Operette „Die entsprungene Insel“ op. 14. Trotz abstrusem Handlungsplot und einem eher weniger gelungenen Libretto schuf Erdmann hier Musik von großer Güteklasse, die Klavierstimme lässt eine geistreiche Instrumentation erahnen, und die Sänger fliegen in feingliedrigen Melodien von einzigartigem Charme. Stoupel ist ein Meister darin, kleine Ungenauigkeiten unauffällig zu kaschieren. Die Sänger leitete er verständlich an, und so gelang es, die fragmentarische Aufführung zu einem lohnenden Erlebnis werden zu lassen. Beeindruckend war die sängerische Leistung, die ungeachtet der Begleitung durchgehend ansprechend war. Am Samstag spielte Stoupel mit seiner Frau Judith Ingolfsson die Violinsonate von Heinz Tiessen und die Kreuzersonate Beethovens, die Geigerin spielte alleine die hochkomplexe und fast nie gespielte Soloviolinsonate Erdmanns, deren Intervallverhältnisse so schwierig auszuhören sind, dass bereits einige renommierte Solisten nichts mit ihr anzufangen wussten und sie aus oberflächlichem Unverständnis ablehnten.

Zweifelsohne lernte das Publikum sehr viel über den Pianisten, Komponisten und Menschen Eduard Erdmann, und wohl jeder ging bereichert aus diesem Symposium heraus. Ein weitreichendes Bild Erdmanns und seines Berliner Kreises wurde vermittelt aufgrund liebevoll detaillierter Beschreibungen. Sehr darf man sich auf den Symposiumsbericht mit allen Beiträgen freuen, um sie sich noch einmal genauer zu Gemüte führen zu können. Nächstes Jahr tagt die Erdmann-Gesellschaft in der lettischen Hauptstadt Riga, der Geburtsstadt des Komponisten und Pianisten – sicherlich ein guter Grund, dieser Stadt einen Besuch abzustatten!

[Oliver Fraenzke, August 2016]