Im Rahmen des eintägigen Berliner Festivals »Schwelbrand Overkill« im Heimathafen Neukölln am 31. Juli 2016 bezwang der belgische Pianist Daan Vandewalle das legendäre »Opus Clavicembalisticum« des englischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988), eines der längsten und zugleich schwierigsten Klavierwerke überhaupt, auf beeindruckende Weise; leider vor fast leerem Auditorium.
Der Rezensent hatte bereits 1983 im Rahmen des Bonner Beethovenfestes die Gelegenheit, die deutsche Erstaufführung des Opus Clavicembalisticum mit dem australischen Pianisten Geoffrey Douglas Madge mitzuerleben. In völliger Unkenntnis dessen, was einen dort – mit einer geschenkten Karte – in der Beethovenhalle erwarten würde, war er seinerzeit nach über fünf Stunden Klaviermarathon wirklich schockiert und überrascht zugleich. Überrascht im positiven Sinne, dass ein echter Repräsentant der Avantgarde der späten Zwanzigerjahre (das Werk entstand 1929-30) doch so völlig unbekannt geblieben war und nun endlich zu Gehör gebracht wurde. Schockiert wie wohl die meisten Zuhörer darüber, was ein Komponist in geradezu „unverschämter“ Weise sowohl der Hörerschaft wie natürlich vor allem seinen Darbietenden abzuverlangen wagt. Denn das Opus Clavicembalisticum war nur dem Titel nach aus dem Guinness Buch der Rekorde bekannt, wo es seinerzeit – fälschlicherweise – als längstes (non-repetitives) Klavierwerk aufgeführt war. Erwartet hatte man eher ein meditatives, womöglich langweiliges Werk etwa in der Art der damals aufkommenden langen Stücke von Morton Feldman, jedenfalls etwas, was vielleicht als Vorläufer einer Postmoderne einzustufen gewesen wäre. Trotz Kenntnis der großen virtuosen Klavierwerke der „Tastenlöwen“ um und nach der Jahrhundertwende (Busoni, Godowsky, Medtner usw.) war der Rezensent von der ihm damals zunächst nur als pure Gigantomanie erscheinenden Orgie an Komplexität und Klangmassierung völlig erschlagen. Nichtsdestotrotz ließ einen das Stück aber danach nicht mehr los. 1984 erschien Madges Utrechter Interpretation von 1982 – die erste nach der Uraufführung des Werks 1930 durch den Komponisten – auf Vinyl. In den Liner Notes waren auch einige Notensysteme abgedruckt, aus denen klar wurde, dass dieses Stück alles andere – einschließlich Stockhausen, Boulez und Xenakis – an Schwierigkeit übertraf. Bis eine Kopie der als Druck längst vergriffenen Notenausgabe (248 Seiten großes Querformat, ständig auf 3-5 Systemen notiert) greifbar war, vergingen noch etliche Jahre.
Madge war der erste Pianist, der vom Komponisten autorisiert wurde, das Werk öffentlich zu spielen; dies tat er sechs Mal, darunter zuletzt die zweite Aufführung in Deutschland (MaerzMusik, Berlin, 2002). Bekanntlich hat sich Sorabji ab ca. 1936 komplett als Pianist und Komponist aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, obwohl er bis ins hohe Alter weiter komponierte – u.a. noch acht weitere Klavierwerke, die das O.C. (so das Kürzel innerhalb der Fangemeinde) an Länge und Komplexität noch weit übertreffen und größtenteils noch immer auf ihre Uraufführung warten. Grund war nicht zuletzt die Befürchtung, dass sein Werk, wenn überhaupt, nur völlig unzureichend aufgeführt werden würde. So belegte er sein komplettes Oeuvre 35 Jahre lang quasi mit einem Aufführungsverbot – die Werke nach 1930 erschienen erst gar nicht im Druck. In Großbritannien blieb er jedoch zumindest als scharfzüngiger Kritiker dem Musikleben verbunden. Der berühmte britische Pianist John Ogdon (1937-89), dem Sorabji 1959 nach einer Privataufführung die öffentliche Wiedergabe des O.C. höchstpersönlich untersagt hatte, spielte das Werk 1988 kurz vor dem Tod des Komponisten trotzig zweimal in London. 2003 bzw. 2004 traten dann zwei Pianisten der jüngeren Generation hinzu, die – das muss man ganz deutlich sagen – das Niveau der O.C.-Interpretationen doch noch eine Stufe höher schrauben konnten: Jonathan Powell (bisher vier Aufführungen) und Daan Vandewalle, der das Werk nun in Berlin zum dritten Male – nach Brügge, 2004 und Madrid, 2009 – komplett zur Aufführung brachte.
Der ‚Heimathafen Neukölln‘ ist ein erst vor wenigen Jahren liebevoll renoviertes Theaterareal in unmittelbarer Nähe der Neuköllner Oper. Die erst dritte deutsche Aufführung von Sorabjis Opus Clavicembalisticum durch Daan Vandewalle (Jahrgang 1968) fand im Rahmen des kleinen, 12 Stunden non-stop dauernden Berliner Avantgarde-Festivals Schwelbrand-Overkill am 31.07.2016 statt. Angekündigt war eine Aufführungsdauer von 13 Uhr bis 18 Uhr – also fünf Stunden. Die Hauptspielstätte, der ehemalige Rixdorfer Ballsaal, war vorsichtig mit nur ca. 140 Sitzplätzen um den auf dem Parkett platzierten Steinway D-Flügel bestuhlt. Obwohl Einlass zwischen den zwölf Einzelsätzen des O.C. erlaubt und geplant war, betraten schon zu Beginn der Aufführung nur etwa 30 Zuhörer den Raum, darunter sicherlich der eine oder andere Anhang der Veranstalter. Die geringe Fluktuation während der zwei größeren Pausen änderte daran leider nichts. Dass dieses Festival im Vergleich etwa zur MaerzMusik nur über einen deutlich geringeren Werbe-Etat verfügt, erschien also als wirklich fatal. Auch der Rezensent hatte erst drei Tage vorher von dem Event erfahren. Zwar hatte die oben erwähnte Aufführung durch Madge 2002 auch nur knapp 100 Zuschauer (ein Kritiker schrieb damals von wahrem „Publikumsgift“), aber angesichts der Tatsache, dass hier eine echte Sternstunde des Klavierspiels stattfinden sollte, war die geringe Publikumsresonanz doch enttäuschend. Die Akustik des Saals erwies sich allerdings sogleich als Glückstreffer: genau die richtige Mischung aus nicht zu langer Nachhallzeit und dennoch warmem, eben nicht zu trockenem Klang. Dies ist gerade bei diesem Stück, das ständig alle sieben Oktaven der Klaviatur nutzt (gerade den Diskant noch exzessiver als z.B. Messiaen), schon mal äußerst hilfreich.
Vandewalle erweist sich als technisch wie intellektuell überlegener Interpret. Dass er – äußerlich – während fünf Stunden Netto-Spielzeit (die Aufführung dauerte dann doch bis 19 Uhr!) keinen einzigen Schweißtropfen verliert, soll nur als Hinweis gelten. Madge hat Krawatte und Anzug geradezu zerlegt. Bei allen waghalsigen Schwierigkeiten gelingt Vandewalle zu jedem Zeitpunkt, den Klang des Flügels vollständig zu kontrollieren: Durchsichtigkeit über alle Register, niemals „Gedresche“ und ein intelligenter Einsatz des Pedals, der bei Sorabji eine ganz besondere Herausforderung darstellt, da der Bass meist über längere Zeit gehalten werden muss und gleichzeitig beide Hände in den oberen Registern mehr als genug zu tun haben. Dauernde Sprünge, für normal große Hände ungreifbare Akkorde, beidhändiges Skalenspiel in irrational verschobenen Rhythmen – alles kein Problem für den flämischen Pianisten. Aber auch die lyrischen Momente, konzentriertes Piano, oft geheimnisvolles Pianissimo und ein schönes Legatospiel gelingen – soweit das Handwerk.
Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica (1910) kann man als Hommage an J. S. Bachs „Kunst der Fuge“ betrachten – so wird dort etwa die unvollendet gebliebene Quadrupelfuge (Contrapunctus XIV) zu Ende geführt. Umgekehrt ist das O.C. eine Hommage auf eben das Busonische Stück. Bereits auf der ersten Seite des kurzen I. Satzes (Introitus) erscheint – wie beim Vorbild – die Choralmelodie „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘“, der II. Satz ist wie der Beginn der Fantasia contrappuntistica mit Preludio-corale betitelt, um nur erste Parallelen aufzuzeigen, und auch die Aufteilung der 12 Sätze in eine dreiteilige Großform (Pars prima, Pars altera, Pars tertia) kennt man von Busoni: aus seinem Klavierkonzert. Nur ist bei Sorabji alles ins Überdimensionale gesteigert. Seiner Liebe zu Quadrat- bzw. Kubikzahlen ist etwa die völlig aus dem üblichen Rahmen fallende Anzahl der Variationen in den beiden Interludien – 49 im VI. Satz, 81 in der Passacaglia des IX. Satzes – geschuldet. Die Variationssätze sind dennoch die Sahnestücke für den Zuhörer: Hier, besonders in der Passacaglia, gelingen Sorabji und auch Vandewalle Momente von unfassbarer Schönheit. Andererseits wird gerade hier gleichzeitig klar, dass Sorabji eben nicht zur Gruppe spätromantischer Eklektiker gehört, sondern eindeutig zur Avantgarde. Das Thema der Passacaglia würde sich ohne weiteres für eine quasi romantisierende Bearbeitung eignen, aber hier wird keine Vergangenheit im Sinne einer Verklärung der Renaissance evoziert, sondern aktuelle, zum Teil beißend ironische, gar sarkastische Kulturkritik betrieben – der vielbeschriebene Tanz auf dem Vulkan zwischen den zwei Weltkriegen wird gebrochen zur Sisyphusarbeit. Zu dieser doch sehr bipolaren Sichtweise hat Daan Vandewalle die nötige intellektuelle Einsicht wie auch den erforderlichen emotionalen Zugang, der sich auch über die Längen aufs Publikum überträgt.
Das eigentliche Problem beim O.C. sind jedoch für den Interpreten wie für die Hörer die Fugen – wie es auch Vandewalle in einem Interview fürs Programmheft beschreibt: [siehe hier] „sie sind extrem lang und monochrom. Man kann leicht in die Falle geraten, dass man sie einfach so runterspielt, dass es immer weitergeht und weitergeht und weitergeht. Ich möchte die Fugen diesmal viel lyrischer spielen. Nicht der Rhythmus soll dominieren, sondern die melodische Linie.“ Es gibt vier Fugen (die Sätze III, V, VIII u. XI), die sich von der einfachen bis zur Quadrupelfuge steigern, aber auch in ihrer Länge bis hin zu einer Dreiviertelstunde („die letzten Fugen sind fast inhuman“). Trotz Sorabjis intensiver Beschäftigung mit Bach und Palestrina sind sie alle schwierig zu hören, da sie weder über prägnantes thematisches Material verfügen, als auch bereits einfachste kontrapunktische Regeln tonaler Satzlehre (Note gegen Note) ignorieren. Die Schlussfuge mit ihrer Coda-stretta grenzt in der Tat schon fast ans Absurde: nicht mehr wirklich manuell ‚greifbar‘, aber auch als Konstruktion bereits ‚unbegreifbar‘, obwohl es eigentlich nur um altbekannte Fugentechniken geht. Hier ist Sorabji seiner Zeit voraus, schon ganz nah bei Xenakis (etwa dessen auf elf Systemen notiertem Soloklavierpart im Klavierkonzert Synaphai) oder vielleicht auch Camus‘ Existentialismus im Mythos des Sisyphos. Kulturgut gerät gefährlich ins Kippen und wird zur Gratwanderung. Vandewalles größte Leistung an diesem langen Nachmittag ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, nicht nur die Fugen – zumindest bis zur sensationell bewältigten Tripelfuge – sondern das Werk als Ganzes zusammenzuhalten. Da erübrigt sich auch jede Diskussion über vielleicht stellenweise zu langsame Tempi. Natürlich verlangt dies auch vom Zuhörer große Konzentration – einige der wenigen Jüngeren im Publikum übermannte irgendwann die Müdigkeit.
„Es gibt immer wieder überdimensionierte Kulturzeugnisse. Es gibt kürzere Bücher und längere Bücher, aber es gibt auch Proust. Wenn man Proust liest, ist man auch nicht entspannt, man muss das auch durchhalten.“ (Vandewalle)
Etwas unglücklich war die Position der Pausen: Hatte Vandewalle ursprünglich mit einer einzigen auskommen wollen? Nicht am Ende der Partes I bzw. II, sondern nach den Interludien – die eigentlich am Anfang der beiden letzten Teile des Werks stehen – gab’s die längeren Unterbrechungen. Dem Steinway hätte da ein Nachstimmen gutgetan. Aus den Pausengesprächen konnte man erfahren, dass der größere Teil der Zuhörer das Werk zumindest schon von der CD (Madge, Chicago 1983, auf BIS) her kannte oder die Berliner Aufführung 2002 gehört hatte. Einige waren wie der Rezensent von weither angereist. Scheint also doch ein grundsätzliches Problem zu sein, für so ein Wahnsinnsstück neues Publikum zu rekrutieren. Am Schluss minutenlanger Applaus für den dann doch erschöpft aber erleichtert und zufrieden wirkenden Pianisten – eine musikalische Meisterleistung war das ohne Zweifel!
Die Veranstalter haben das Ereignis professionell in Bild und Ton mitgeschnitten. Man kann nur hoffen, dass das Ergebnis irgendwann einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
[Martin Blaumeiser, August 2016]
Die Rezension habe ich mit großem Interesse gelesen. Gerade, weil ich nicht zu den Sorabji Kennern gehöre, sondern eher zufällig zu dem Vortrag kam, hat sie nachträglich viel zum Verständnis des Werkes beigetragen. Tatsächlich hätte ich wohl nicht die ganzen sechs Stunden durchgehalten, wenn Vandevalle nicht so grandios gespielt hätte.
Ausführliche Informationen über Sorabji und sein Werk findet der interessierte Leser in „Opus Sorabjianum“ (engl., 2013-) von Marc-André Roberge, das (in regelmäßigen Intervallen aktualisiert) kostenlos als Download verfügbar ist: http://www.mus.ulaval.ca/roberge/srs/07-prese.htm