Archiv für den Monat: Mai 2016

Eine tanzende Klarinette

Musikmuseum 23, CD13022; EAN: 9 079700 700108

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Schon seit längerer Zeit verfolge ich die Aktivitäten des Innsbrucker Orchesters der Akademie St. Blasius unter Leitung seines Chefdirigenten Karlheinz Siessl. Immer wieder beeindruckt dieser Klangkörper mit reflektierten Darbietungen und interessanten Ausgrabungen nahezu vergessener Komponisten. Gerade der romantische Tiroler Symphoniker Rufinatscha wäre vermutlich ohne dieses Orchester auch weiterhin komplett in der Versenkung verschwunden geblieben. So konnte ich mir selbstverständlich auch die bislang neueste CD dieses Orchesters mit dem Titel „Veitstänze“ nicht entgehen lassen.

Der Tonträger enthält 23 größtenteils recht kurze Nummern in meist romantisierendem Gestus. Den Beginn machen die „Dance Preludes“ von Witołd Lutosławski, scheinbar flüchtig hingeworfene Stückchen von unsagbarem Witz und Spielfreude. Und zweifelsohne ist das große Genie Lutosławskis auch in diesen fast fragmentarischen Stücken auf der Basis polnischer Volkstänze unüberhörbar. Johann Baptist Gänsbacher, ein Schüler von unter anderem Antonio Salieri und Abbé Vogler, erweist sich in seinem Konzert für Klarinette und Orchester Es-Dur als ein sehr wacher Geist und bezaubert durch wendige und vielseitige Melodien und einen stets spannenden Dialog zwischen Solist und Orchester. Hier hat das Orchester der Akademie St. Blasius wieder einmal einen wertvollen Komponisten aus seiner Heimatstadt ausgegraben, für den ebenso wie für Rufinatscha ansonsten gar nichts geschehen würde. Die Suite aus „The Victorian Kitchen Garden“ von Paul Reade führt den Hörer weiter nordwestlich, nach England. Sie ist eine Umarbeitung von Teilen der Musik zur gleichnamigen Fernsehserie, welche große Popularität genoss und dem Komponisten den Ivor Novello-Preis einbrachte. Die fünf Sätze erweisen sich als ansprechende wie harmlose Stimmungsbilder von verzaubernder Schlichtheit. Zurück nach Innsbruck nimmt Michael F. P. Huber mit seinen titelgebenden „Veitstänzen“ mit. Mittlerweile ist Huber geradezu als „Stammkomponist“ des Orchesters der Akademie St. Blasius zu bezeichnen. Hier kommt man nicht darum herum, das Wort „leider“ anzuhängen; natürlich hat er mit dem Klangkörper großartige Vorkämpfer seiner Werke und die Gewährleistung, dass seine Werke auch gespielt werden, doch ist es bedauernswerterweise zugleich fast das einzige Orchester, welches seine großartige Musik aufführt. (Es sollte nicht vergessen werden, dass das Kammerorchester INNSTRUMENTI wie ebenso das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck auch Weltpremieren von Huber gaben, doch sind auch dies Klangkörper aus seiner Heimatregion.) Dieser Komponist hätte es mehr als verdient, über die Grenzen Innsbrucks und Österreichs hinaus bekannt, von einem großen Verlag unterstützt und auf internationalen Bühnen gespielt zu werden. Für die vorliegende CD steuerte er acht Veitstänze bei, Orchestrierungen für Klarinette, Schlagwerk und Streicher von früheren Kammermusikwerken, die bereits in verschiedenen Besetzungen existieren. Die Musik ist genauso vielschichtig wie ihr Name, der zum einen auf einen mittelalterlichen Tanz, andererseits aber auch auf eine Krankheit mit Symptomen wie unkontrolliertem Zucken der Gliedmaßen zurückgeht. Rhythmische Prägnanz, grenzenlose Inspiration und eine gepfefferte Prise Humor prägen diese Tänze, die so locker aus dem Handgelenk geschüttelt scheinen. Die Titel der Tänze sagen einiges über ihren Inhalt aus: Frisch und munter, Etwas störrisch, Nervös, Launisch, Flüchtige Vision, Nonchalant, Frech und Fröhlich, Flüchtiges Finale. Bestechend ist nicht zuletzt die große Gabe der Orchestration, die Huber beherrscht wie wenige andere Komponisten unserer Zeit. Die Besetzung wirkt, als wäre sie niemals anders als genau so geplant gewesen, wobei gleiches auch über die früheren Fassungen gesagt werden kann, die mir vorliegen. Zwei kurze Werke folgen auf Hubers Tänze: Heinrich Joseph Baermanns Adagio für Klarinette und Streicher, ein stimmungsvoll-lyrisches romantisches Gemälde, welches nach Hubers mitreißenden Veitstänzen simpler scheint, als es eigentlich ist, und Eduard Demetz‘ UE1 für Klarinette, Bassklarinette und Elektronik. Fast wirkt letzteres, das modernste Stück der CD wie fehl am Platz nach solch romantisch durchwehter und eingängiger Musik, doch weist es auch einige witzige und kecke Passagen auf, und es ist trotz der (übrigens recht interessant eingesetzten) Elektronik in der Dynamik der Form primär auf Töne und Melodien (nicht auf Geräusche) bezogen und bietet dem Hörer somit noch eine Art Struktur, an die er sich festhalten kann.

Peter Golser wird den Hörern von MusikMuseum sicherlich bekannt sein, wenngleich nicht als Musiker, ist er doch bei dieser Reihe schließlich Tontechniker, und auch hier ist er für Technik, Schnitt und Mastering zuständig. Auf dieser Einspielung ist er jedoch auch einmal vor dem Mikrofon, es ist sein CD-Debüt als Klarinettist. Seine langjährige Arbeit hinter der Bühne mit dem Orchester und seinem Dirigenten zahlt sich nun auch in dieser Einspielung aus. Seine Solostimme ist mit dem Orchester stets in exakt Übereinstimmung und verschmilzt mit ihm zu einer Einheit. Er tritt in ständigen Dialog mit seinen Mitstreitern, kann teils sogar mit sich selbst dialogisieren. Sein Spiel ist ausgesprochen klar und wendig, verliert dabei nie an Lockerheit und Gelassenheit. Wie ein Chamäleon passt sich Golser den Anforderungen der Werke an, kann sowohl die klassisch-romantischen Töne als auch die Stimmungsbilder und die vielseitig-epochenübergreifenden Veitstänze gut erfassen und dem Hörer glaubhaft vermitteln. Alles ist bei ihm im Fluss auf einer ständigen Reise durch unzählige Tongebungs-Schattierungen vom klaren quasi-Flötenton über tiefe celloartige Klänge bis hin zu hexenhaftem Aufbäumen. Katja Lechner steht ihm in Raedes Suite als Harfenistin zur Seite mit voll klingendem, leicht hallig aufgenommenem Spiel von perlender Schönheit und Zartheit. In UE1 von Eduard Demetz ist es Jürgen Federer an der Bassklarinette, der einen exzellenten Duettpartner abgibt, sie stimmen ihr Spiel äußerst fein aufeinander ab und klingen förmlich wie aus einem Mund. Das Orchester der Akademie St. Blasius, hier nicht bloßer Hintergrund, sondern bedeutungsvoller Widerpart zu Peter Golser, musiziert wie immer äußerst reflektiert und mit fesselnder Plastizität. Das Zusammenspiel dieses Orchesters ist stets außergewöhnlich präzise und auch tatsächlich „gehört“, Karlheinz Siessl achtet minutiös auch auf das Vortreten der wichtigen Nebenstimmen und lässt weit mehr als farbenprächtige Vielfalt entstehen. Auch der diffizil zu erarbeitende Humor in Hubers Veitstänzen kommt tadellos über die Rampe.

Hier prallen verschiedenste Welten aufeinander, in der Mitte entsteht dabei etwas Tänzerisches und Munteres. Alles ist dargeboten in höchster technischer und musikalischer Qualität voll Witz, Keckheit und unverkennbarer Freude an der Musik.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Wem Gott will rechte Gunst erweisen

Friedrich Theodor Fröhlich: The Complete String Quartets
Rasumowsky Quartett
Dora Bratchkova, Violine
Ewgenia Grandjean, Violine
Gerhard Müller, Viola
Alina Kudelevic, Violoncello
cpo 555017-2
EAN  761203501724

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Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.

Wer kennt nicht dieses strahlend optimistische Marsch-Wanderlied aus dem Anfang von Joseph Freiherr von Eichendorffs erzromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts? Aber kaum jemand kennt den Aargauer Komponisten Friedrich Theodor Fröhlich (1803-1836). Von ihm stammt (kaum älter als der Text) die Melodie dazu. Erst recht unbekannt sind seine vier Streichquartette, die nun erstmals komplett auf vorliegender Doppel-CD vom Rasumowski Quartett eingespielt wurden.

Weil es großartige Musik ist, obendrein großartig eingespielt, wird man traurig über den allgemeinen Stumpfsinn gegenüber Fröhlichs Werk, damals wie heute. Weil diese Ignoranz exemplarisch steht für die Rezeption von „Nicht-Titanen“, möchte ich mich dazu etwas breiter auslassen: In Wikipedia lesen wir: „Fröhlichs Musik ist durch erfrischende und natürliche Melodizität und Sinn für das Einfache und gleichzeitig Effektvolle gekennzeichnet. Seine Musik ist reich an gefühlhaftem Ausdruck und an unerwarteten Wendungen im Bereich des Harmonischen. Doch auch das starr Formelhafte und Schematische sowie die vielfachen Satzfehler in seinen Werken sind nicht zu übersehen. An diesen Mängeln wird erkennbar, dass Fröhlich wohl nicht nur an der provinziellen Enge seiner Umwelt, sondern auch an der wachsenden Einsicht in seine eigene künstlerische und kompositorisch-technische Unzulänglichkeit verzweifelte“. Ich musste erstaunt feststellen, dass viele gerade aus diesem sehr fragwürdigen Beitrag wörtlich abgeschrieben haben. Solche Worte gäben Fröhlich auch heute noch Grund genug, sich gleich noch einmal in die Aare zu stürzen. Ich konnte nicht herausbekommen, wie dieser Wikipedianer zu seiner „Meinung“ gelangt war. Wie dem Mitteilungsblatt des Naturschutzvereins Kloten (Schweiz) zu entnehmen ist, starb er (seinen Namen behalte ich für mich) 2010 (zwei Jahre nach seinem Beitrag über Fröhlich) im Alter von fast 83 Jahren, hoch geehrt für „sein Engagement für den Verein und für die Musik“. Über Musik zu schreiben war, neben seiner Vorstandstätigkeit im Verein, offenbar sein Hobby.

Wesentlich besser kommt Fröhlich bei Edgar Refardt, dem hochverdienten Hans Huber-Biographen, im alten MGG (Bd. 4, 1955) weg, der ihm eine „geradezu hochromantische Harmonik […] , eine Zartheit, Innigkeit und Intensität des Empfindens […], Stärke seiner Erfindung, Differenzierung der Gefühlsstimmung […]“ und „[…] eine außergewöhnliche Begabung für Erfindung charakteristischer Instrumentalfiguren […]“ attestierte, aber derlei eigenständige Beobachtung ist leider die Ausnahme.

Wenn Sie noch mehr Fundiertes zu Friedrich Theodor Fröhlich erfahren wollen, so empfehle ich Ihnen die Lektüre des sehr guten Booklet-Texts zur vorliegenden Einspielung, verfasst von Anneliese Alder. Dort kann man lesen: „Das mangelnde Interesse an einer Gesamtedition mag in den wenigen Untersuchungen begründet liegen, die den Streichquartetten handwerkliche Mängel wie Quintparallelen attestieren und Plagiate nachweisen.“  Zum Thema  Quintparallelen fällt mir ein: Am 25. Mai1826 schrieb der einflussreiche Zeitgenosse Carl Friedrich Zelter (generöses Lob für Fröhlich: „Schweizer, das hast du brav gemacht“) an seinen Freund Goethe über seinen Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy (es geht um das fünfte Brandenburgische Konzert): „In der Partitur eines prachtvollen Konzerts von Sebastian Bach gewahrte mein Felix, als er zehn Jahre alt war [1819], mit seinen Luchsaugen sechs reine Quinten nacheinander, die ich vielleicht niemals gefunden hätte …“  Über Zelter bemerkte Fröhlich einmal bitter: „Ihm allein habe ich es zu verdanken, dass meine größeren Kompositionen noch nicht bekannt sind.“ Zum vorgeblichen Plagiats-Problem (W. Labhart: „Fröhlicher Themenklau“), das ja auf Gustav Mahler immer wieder angewendet werden könnte, fällt mir ein anderes prominentes Beispiel ein: Der Choral des vierten Satzes von Brahms‘ erster Symphonie erinnert oberflächlich, und wirklich nur oberflächlich, an Beethovens Finale aus seiner „Neunten“. Auf diese „Merkwürdigkeit“ angesprochen soll Brahms geantwortet haben: „[…] und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört!“ In Fröhlichs Streichquartetten findet man in der Tat mehrere Zitate, und wir freuen uns, wenn wir (als zuhörende Esel) etwas wiedererkennen. Da beginnt das g-Moll-Quartett  mit einem „verhalten melancholischen Thema“ (Alder) und auf einmal moduliert es nach Dur und mündet in „ … Blühe Deutsches Vaterland“ (genauer: Joseph Haydn, op. 76, Nr. 3, also das Kaiserquartett – den Text, den heute unsere Fußball-Nationalmannschaft singt, gab es damals noch nicht). Ich habe in diesem g-Moll-Quartett noch etwas Wunderschönes entdeckt: Carl Maria von Webers Freischütz war damals erst ein paar Jahre alt, aber Fröhlich hat die Oper sicher gekannt. In Agathes Arie „Leise, leise …“ ist die Stelle „Lied, erschalle! Feiernd walle …“ genau der Anfang und die Keimzelle von Fröhlichs Largo cantabile (hier allerdings dann mit einer ganz anderen Fortsetzung).

Es ist nicht einfach, Fröhlichs Kompositionsstil zu beschreiben; manchmal klingt er eher wie Schubert (z.B. im 1. Satz des f-moll-Quartetts), manchmal etwas nach Schumann, oft auch wie Weber (z. B. im 4. Satz des f-moll-Quartetts). Jemand, der frühromantische Musik liebt, aber nicht auf Namen fixiert ist, wird große Freude an diesen Streichquartetten haben, und obendrein: Er kann sie Freunden vorspielen und sie raten lassen – das wird sicher spannend! Kaum zu glauben, dass solch gute Musik bisher kaum beachtet und derart verschmäht wurde.

Noch ein paar Worte zum Rasumowsky Quartett: Ich muss (zu meiner Schande) gestehen: Zunächst dachte ich, hier habe das für seine „Nischen-Produktionen“ bekannte Label cpo  auch gleich noch einem unbekannten Ensemble eine Chance geben wollen. Weit gefehlt!: Das Quartett, zu dessen Kernrepertoire die Wiener Klassik gehört, und das auch schon zeitgenössische Werke (z. B. von dem mir unbekannten Leo Dick) uraufgeführt hat, ist schon für seine Gesamtaufnahme der 15 Streichquartette Schostakowitschs weithin mit Lob überhäuft worden. Was mir an der vorliegenden Einspielung so gut gefällt, ist das Unprätentiöse der Darstellung: Vielleicht auch, weil es nicht die dreihundertste Aufnahme der Streichquartette eines Beethoven oder Schubert ist, hatten die vier Musiker es gar nicht nötig, ihre Programmwahl durch eine sensationell neue Art der Interpretation zu rechtfertigen. Worte wie „exzentrisch“ „aufwühlend“ oder „atemberaubend“ sind hier fehl am Platz. Exzellent aufeinander eingespielt, bekennen sie sich zwar zur sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis, haben aber kein Interesse daran, alles unbedingt „gegen den Strich“ zu bürsten. Vielmehr dienen sie „selbstvergessen“ der Darstellung dieser Musik mit vitaler Musikalität und Spielfreude. Und ihre Schostakowitsch-Quartette werde ich mir jetzt auch noch anhören!

[Hans von Koch, Mai 2016]

Swinging Victoria

Tomás Luis de Victoria: alio modo
Musica Ficta
Raúl Mallavibarrena, Leitung und Schlagwerk
Sara Águeda, Harfe
Lore Agustí, Sopran
Gabriel Días, Contratenor
Beatriz Oleaga, Alt
Javier M. Carmena, Tenor
Íñigo Casali, Tenor
Simón Millán, Bass
CD 45 Min.,8/2015
©& Enchiriadis 2015
EN 2044
EAN  8  437012  545441

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Für uns Klosterschüler war es immer eine höchst eindrucksvolle, ja beinahe surreale Wahrnehmung, wenn wir am Bergwandertag unseren Präfekten, anstatt im gewohnten Mönchshabbit, auf einmal in Jeans und Pullover vor uns herlaufen sahen. Wie sehr doch die Kleidung die gesamte Ausstrahlung eines Menschen verändern kann! Ähnlich erging es mir mit der CD des Ensembles Musica ficta, wo der Leiter Raúl Mallavibarrena sich vorgenommen hat, „Victoria from a different perspective“ (deshalb der Titel „alio modo“) darzustellen.

Der überragende spanische Komponist und Jesuitenmönch Tomás Luis de Victoria (1548-1611) hielt sich die meiste Zeit seines aktiven Lebens in Rom als Nachfolger Palestrinas auf. Zurückgekehrt nach Spanien leitete er die Kapelle des kaiserlichen Klosters De las Descalzas de Santa Clara (der barfüßigen Nonnen) und war nebenbei der persönliche Kaplan der verwitweten Kaiserin Maria. Bis jetzt konnte ich mir Victorias Musik, der ausschließlich sakrale Werke komponiert hat, nur in der hallig-feierlichen Akustik eines Kirchenschiffes und „im Weihrauchnimbus“ vorstellen. Hier nun hören wir Victoria „da camera“, sozusagen unplugged, was natürlich nicht stimmt, weil jeder Sänger (ganz im Trend in einfacher Besetzung) sogar ein eigenes Mikrofon hat. Im Booklet-Text, Autor ist der Leiter des Ensembles selbst, erfahren wir, welch großen Eindruck Andrew Parrots Aufnahmen mit dem Taverner Consort auf den Neunzehnjährigen damals gemacht hatten: „The way of interpreting religious polyphony, closer in style to the madrigal, was new to me. It thrilled me. And then I thought:  […] Could vocal lines be rescued from choral anonymity, be given back their individuality, be stripped, albeit partially, oft that all-unifying blanket of cathedral reverberation? […] “ Das, was sich Raúl Mallavibarrena für die Produktion dieser Victoria-CD vorgenommen hat („I call them ‚motets with swing‘“), hat er auch verwirklicht. Der Gesang seiner Ensemble-Mitglieder klingt in der Tat eher profan, also durchaus voller Wärme und Emotionalität. Und dabei ist nicht beabsichtigt (und auch nicht nötig), es an Sauberkeit der Intonation mit den Reinheitsfetischisten aufzunehmen, derer es heute genug gibt (vielleicht mehr als zu Victorias Zeiten…). Aber es bleibt zumindest Geschmackssache, ob man Victoria in dieser Weise aufführen soll. Wem dies gefällt, dem gefallen Madrigale beispielsweise von Luca Marenzio vielleicht noch besser.

Das Beiheft ist (bis auf Mallavibarrenas subjektive Anmerkungen) leider sehr dürftig ausgefallen. Jemand, der heute noch (trotz der zahlreich im Netz angebotenen Streaming-Dienste) auf das haptische Vergnügen einer CD nicht verzichten will, der möchte vielleicht auch beim Hören in einem gemütlichen Sessel ein schönes Begleitheftchen dazu lesen (Spitzenreiter sind hier z. B. die cpo-Booklets), obwohl er auch im Netz genug Informationen finden könnte. So habe auch ich mir helfen können: Das spanische Ensemble Musica Ficta wurde 1992 von Raúl Mallavibarrena gegründet und ist nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen, 1988 gegründeten kolumbianischen Trio, das sich ebenfalls mit Alter Musik aus Spanien befasst. Über die Harfe, die Sara Águeda spielt, habe ich erfahren: Es ist eine Arpa de dos órdenes, eine Harfe des spanischen Barock, die mit gekreuzten Saiten bespannt ist. Übrigens sind für mich ihre drei eingestreuten Soli wahre Highlights dieser Produktion. Wer mehr von Sara Águeda hören will, dem empfehle ich die vorzügliche Einspielung Un viaje a Nápoles beim gleichen Label. Auch über Tomás Luis de Victoria erfährt man im Booklet so gut wie nichts, aber Mallavibarrena hat wohl eher an einen Hörer gedacht, der den Komponisten schon gut kennt, ihn aber jetzt einmal anders – „alio modo“ eben – hören möchte. Oder er hatte eine sehr junge Zielgruppe im Auge. Das wäre dann auch eine mögliche Erklärung für die Wahl des Bonustracks Gaudete Christus est natus. Dieses bekannte mittelalterliche (oder ist es wirklich siglo XVI, wie Mallavibarrena angibt?) Weihnachts-Carol, wiederum mit viel Swing dargeboten und mit einem fading out am Ende, sollte die CD vielleicht noch zusätzlich ein wenig aufpeppen. Wer auch etwas sehen will, der kann sich Benedicta sit Sancta Trinitas (mit Kommentar von Mallavibarrena) und das Weihnachts-Carol zudem auf YouTube ansehen. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, dass Musica Ficta hier eine sehr kurzweilige und schwungvolle Interpretation, einen Swinging Victoria kreiert haben. Als Einstieg zum Kennenlernen dieses (vielleicht neben Palestrina, Lasso und Byrd) letzten großen Renaissance-Komponisten ist sie eher nicht geeignet. Das ist aber wohl auch nicht beabsichtigt.

[Hans von Koch, Mai 2016]

Zwischen den Welten – Der Pianist und Komponist David Ianni

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David Ianni (Foto: Vito Labalestra)

Seine musikalische Heimat liegt außerhalb der uns heute geläufigen Kategorien – und ist doch tief in Traditionen und Genres verwurzelt: Der Pianist und Komponist David Ianni.

Der 1979 in Luxemburg als Sohn eines italienischen Vaters und einer luxemburgischen Mutter geborene Musiker genoss früh eine klassische Musikausbildung und schloss bereits mit 15 Jahren sein Klavierstudium ab, worauf er mit Liszt 2. Klavierkonzert debütierte. Noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag nahm er zwei klassische Alben auf, wonach er sich allerdings von der Öffentlichkeit zurückzog, in eine Sinnkrise geriet und seine wahre musikalische Identität suchte. Dies brachte Ianni unweigerlich zum Komponieren, das ihn seit seinen frühesten musikalischen Studien in den Bann zog. Er stellte fest, dass das Schaffen einer eigenen Kunst seine eigentliche Aufgabe darstellt und nicht das bloße Wiedergeben bereits existierender Werke. Seitdem schrieb er weit über einhundert mit Opuszahlen versehene Werke, wobei dem Klavier eine zentrale Rolle zufällt, und auch der geistlichen Chormusik. Ein Oratorium und eine Kinderoper entstammen seiner Feder. Zwei CDs seiner Klaviermusik und zwei CDs mit Bearbeitungen gregorianischer Choräle für Chor und Klavier sind mittlerweile erschienen.

„Die Sehnsucht nach einer Musik, die ich nicht bei anderen finden konnte, hat mich von Anfang an angetrieben, meine eigene Musik zu schreiben“, erzählt David Ianni. Und tatsächlich ist seine Musik eine vollkommen eigene, die sich von traditionellen Stilvorgaben bewusst absetzt. Die Musik existiert zwischen den Welten, zwischen den klassischen wie romantischen Idealen einerseits und der aktuellen Populärmusik und Filmmusik andererseits, wobei teilweise auch weitere Elemente wie etwa Jazz oder Minimal Music hinzu kommen. Von den klassisch-romantischen Traditionen entstammt die spieltechnisch diffizile Virtuosität und Komplexität, außerdem lassen sich Einflüsse großer Instrumentalkomponisten wie Frédéric Chopin, von Meistern der Wiener Klassik oder russischen Komponisten finden. Die Harmoniegestaltung ist allgemein recht vielseitig und interessant, es begegnen einem bewusst eingesetzte Dissonanzen und plötzliche, unerwartete harmonische Umschwünge. All dies wird durch typische Elemente der Populärklaviermusik für die heutige Zeit aufbereitet, so treten etwa durchgehende repetitive Begleitfiguren auf, die Musik ist klar an der Taktstruktur ausgerichtet und „groovt“, die Akkordik schwankt durchgängig zwischen Dur und dazugehörigem Moll, was dem Ganzen den leicht fasslichen Pop-Anstrich verpasst. Leichtigkeit und Melancholie gehen in dieser Musik Hand in Hand. Doch die Einengung als reine Populärmusik wäre keineswegs zutreffend, Begleitfiguren und Melodiebögen sind länger und komplexer, außerdem ist die Musik spürbar anspruchsvoller für den ausführenden Musiker als etwa in stilistisch vergleichbarer Filmmusik üblich. Somit hebt Ianni die Pop-Sphäre auf ein außergewöhnlich anspruchsvolles Niveau, welches Klassikanhänger wie die Freunde entspannten Nebenbei-Hinhörens gleichermaßen ansprechen kann, er bringt die sonst einander so fremden Welten zum Verschmelzen. Nicht zuletzt in seinen Titeln ist das sichtbar, so komponiert David Ianni kurze „Songs“ ebenso wie großformatige „Sonaten“ – zentrale Werkformen beider Herkunft vereint er gleichberechtigt in seinen Konzertprogrammen und spielt sie mit einer angenehm fesselnden minimalistischen Schlichtheit und lichten Klarheit, ohne jedoch je musikalisch einförmig beziehungsweise undifferenziert zu werden. Die für seine Musik so typischen raschen und pianistisch anspruchsvollen Figuren präsentiert David Ianni am Klavier mit spielerischer Leichtigkeit. Komposition und Aufführung sind bei ihm absolut untrennbar und übereinstimmend im Ausdruck, als ein tänzerisches Gesamtkunstwerk.

Seine ihm selbst gestellte Aufgabe vor Augen, die Tiefe und Schönheit der menschlichen Existenz mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen, motiviert den luxemburgischen Pianisten immerzu, weitere neue Musik zu schreiben und seinem Ideal dabei jeweils ein Stück näher zu kommen. Wohin diese Reise führen wird, lässt sich nicht sagen, doch wird sie weiterhin die Grenzen der Stile sprengen, die Welten verbinden und neue Gefilde entdecken. Für den Zuhörer ist diese Gratwanderung schon jetzt ein zugleich spannendes wie entspannendes Erlebnis, außerdem eine harmonisch berührende, dem absoluten Schönklang verpflichtete Entdeckung, die man nur empfehlen kann. Musik, die jeder verstehen kann, die dabei kein bisschen primitiv ist und immer ihr subtiles Geheimnis bewahrt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016, München]
Erschienen in der „Slam!“ Luxemburg im März 2016

Alte Musik – Neu erlebt

ALTE MUSIK – NEU ERLEBT

REIS GLORIOS
L’influence de la musique arabe dans la mytholigie occitane

Les Saqueboutiers
Ensemble de cuivres anciens de Toulouse

Pierre-Yves Binard, baryton
Renat Jurié, baryton, récitant

Jean-Pierre Canihac, cornet à bouquin
Philippe Canguilhem, chalmie, bombarde, flûtes à bec médievales
Daniel Lassalle, sacqueboute
Lucile Tessier, bombarde, flûtes à bec médievales
Jodël Grasset-Saruwatari, Luth médiéval, rebec, oud, psaltérion à archet
Florent Tisseyre, tambour, daf, pandereta, derbouka, bûche, cloches

Musiciens invités:
Pierre Hamon, flûtes à bec médievales, flûte double, frestel, bansouri, cornemuse
Driss El Moloumi, oud, chant

Bertran de Born, Bernard de Ventadorn, Buhuri Zade Mustafa Hiri, Girau de Bornhelh, Johannes Ciconia, Livre vermeil de Montserrat et anonyme.

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Um den arabischen Einfluß auf die abendländische Musik des frühen Mittelalters, darum geht es auf dieser CD des französischen Ensembles „Les Sacqueboutiers“. Die Musikerinnen und Musiker spielen – wie in Ensembles mit alter Musik oft – verschiedenste Instrumente, die und deren Spielweise sie teilweise neu entdecken.

Über all die Hintergründe – und auch die gesungenen Texte – gibt das Booklet ausführliche Informationen, wenn auch nur auf französisch und englisch.

Das eigentlich faszinierende an dieser neuen CD aber ist die Musik, die in einer fabelhaften Art und Weise dargeboten wird. Das „groovt“ und „swingt“ daher, fährt einem nicht nur in die Ohren, sondern in die Beine und in den Leib, dass es eine wahre Wonne ist. Wenn „Alte Musik“ so lebendig und überzeugend gespielt wird, dann ist der alte Staub, der musikalischen Darbietungen dieser Art oft anhaftet, wie weggeblasen. Auch die Stimme des Sängers Driss El Moloumi, angenehm und doch kraftvoll und verständlich, trägt zum positiven Eindruck dieser so lang zurückliegenden Musik bei.

So wird aus der „Alten Musik“ eine unerhört „Neue Musik“. Dem Ensemble ist weitere Popularität zu wünschen, und uns Zuhörern noch mehr Entdeckungen dieser hinreißenden Art.

[Ulrich Hermann Mai 2016]

Fantasien

Georg Philipp Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle
Welt-Ersteinspielung
Thomas Fritzsch, Viola da gamba
CD 84‘46 Min.,10/2015
©& Coviello Classics 2015, COV 91601
EAN  4  039956  916017

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Als sich 1993 die Nachricht verbreitete, dass nach nunmehr 350 Jahren endlich ein Beweis der Fermat’schen Vermutung gelungen sein sollte, da rieben sich selbst eingefleischte Mathematiker ungläubig die Augen. Ähnlich ging es mir vor kurzem mit der Nachricht, dass jetzt, nach 280 Jahren, ein Druck von Telemanns verloren geglaubten 12 Fantasien für Bassgambe aufgetaucht sei. Die Metapher vom verschollenen Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik (zu finden im Booklet zu vorliegender Einspielung) trifft die Situation vor Thomas Fritzschs Sensationsfund (und Ersteinspielung) sehr gut. Ich habe die CD als Rezensionsstück bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich als Telemann-Aficionado wäre bereit gewesen, jeden Preis dafür zu bezahlen, und auch dann, wenn es eine drittklassige Einspielung gewesen wäre, und nicht wie hier die wahrhaft erstklassige des Gamben-Experten Thomas Fritzsch.

Die bisher einzige verfügbare Telemann’sche Fantasie für Sologambe, die Fantasia à Viola di Gamba senza Cembalo aus seinem Getreuen Music-Meister hat also endlich ihre 12 Schwestern (im Märchen wären es 12 Brüder) wiedergefunden. Davor mussten wir uns mit Ersatz zufrieden geben: Wir haben von Telemann nämlich noch zwei Dutzend (klingt nach „Dutzendware“, ist es aber beileibe nicht) ähnliche Werke für ein Soloinstrument ohne Generalbass: Im Lauf der Zeit wurden die 12 Fantasien für Solo-Traversflöte (TWV 40:2-13) dann auch auf der Blockflöte, der Violine, der Oboe (es gibt sogar eine Übertragung für das Fagott) eingespielt, und von den 12 Fantasien für Solo-Violine (TWV 40:14-25) ist eine sehr überzeugende Interpretation für Viola (da braccio!) von Ori Kam und für Violoncello von Viviane Spanoghe erhältlich, ja, ich habe in meiner Sammlung sogar eine Bearbeitung für Gitarre (Carlo Marchione). Aber gerade beim Vergleich der 12 „Cello-Fantasien“ mit den hier endlich vorliegenden Fantasien für Bassgambe kann man auch gut sehen: So groß ist der stilistische Unterschied nicht. Hier wie dort finden wir ebenso viel „Corellisierendes“ wie „Vivaldisierendes“, dann aber auch hin und wieder eine Bourrée oder eine Gigue oder sonstiges Französisches, versteckt hinter durchweg italienischen Tempobezeichnungen. Ganz wie bei den anderen Fantasien heißt dann zum Beispiel ein Menuett hier einfach nur „Vivace“. Wieder finden wir eine (auch ähnliche) Siciliana, wieder steht ein Drittel der Fantasien in Moll-Tonarten. Und übereinstimmend mit den Violin-Fantasien, bei denen auf die ersten sechs eher kontrapunktisch gearbeiteten Stücke sechs „Galanterien“ folgen, so finden wir, vielleicht  wegen ihrer Veröffentlichung in Zweiergrüppchen, diesmal die „Dolces“ und „Scherzandos“ bei den geraden, die Sätze von imitatorischer Bauart meist bei den ungeraden Nummern. Wer sich von dieser Neuentdeckung aber Werke im altfranzösischen Gamben-Idiom der vorhergehenden Generation erwartet hat, z.B. à la Sainte Colombe (père oder fils) oder De Machy, der wird enttäuscht sein. Dass Telemann so etwas auch gekonnt hätte, ist nachzuhören beispielsweise in der Ouverture für Gambe, Streicher und Generalbass (TWV 55:D6), wenn beim Double der Sarabande auf einmal die Sologambe einen wunderbar nostalgischen Kontrast setzt im reinsten „Marin-Marais-Stil“. Auch ein „Stylus phantasticus“ im Sinne Athanasius Kirchers oder Johann Matthesons ist hier nicht zu finden. Telemanns Fantasien erinnern nur noch dem Wortstamm des Titels nach daran, sind aber im Übrigen im Stil völlig à la mode: Anno 1735, zeitlich genau zwischen dem Druck der Musique de Table und der Nouveaux Quatuors galten als typisch französisch ein gewisser Charme und Esprit der rhythmischen und melodischen Einfälle als solcher, auch wenn sie mitunter „im welschen Rock“ daherkamen. Ausschlaggebend war dabei der gute Geschmack, und die Sinne der Musiker ebenso wie die der Zuhörer dafür zu kalibrieren war keiner besser im Stande als Telemann, nicht zu Unrecht der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit. Diese 12 Fantasien warten also nicht mit großen Überraschungen auf, sondern sind eben aus demselben Holz geschnitzt wie ihre 24 Geschwister TWV 40:2-25, und „altfranzösisch“ ist dabei eigentlich nichts außer der Wahl des Instruments, was sich Telemann dank seiner Popularität durchaus leisten konnte. Also haben wir jetzt einfach ein weiteres Dutzend nach gleichem Strickmuster? Ja, so gesehen schon, doch ist diese Musik einfach von solch inspiriert makelloser Qualität, dass man eben nicht genug davon bekommen kann.

Und welch ein Glück, dass gerade Thomas Fritzsch sie entdeckt und dann auch gleich eingespielt hat. Kein anderer wäre besser dafür geeignet gewesen. Er präsentiert diese Kleinodien mit exzellentem stilistischen Geschmack, Hingabe, Wärme und Spielwitz. Auch die „Fugen“, die es ja „einstimmig“ eigentlich gar nicht geben dürfte (ähnlich wie bei Bach funktionieren solche Gebilde über weite Strecken durch Intervallsprünge nach einer Art „Reißverschluss-Prinzip“), klingen bei Fritzschs Telemann angenehm unkompliziert, ganz im Sinne von Matthesons Vollkommenem Capellmeister: “Man gibt dem Frantzösischen Geschmack im Punct der Leichtigkeit darum den Vorzug, daß er einen aufgeräumten lebhafften Geist erfordert, der ein Freund des wolanständigen Schertzes, und der Feind alles dessen ist, was nach Mühe und Arbeit riechet.“

Besonderes Lob verdient auch das schöne Booklet: Da finden wir solch herrlich irrelevante wie unterhaltsame Informationen über die (in ihrer Akustik übrigens vorzügliche) Klosterkirche Zscheiplitz hinsichtlich Geologie (Formung der Landschaft durch die letzte Eiszeit), Historie (Gründung als Sühneleistung für einen Mord) und Kunst (romanischer Keller, gotisches Portal, usw.), aber auch einen sehr schönen und ausführlichen Beitrag von Thomas Fritzsch zur dargebotenen Musik – lediglich getoppt vom Autor selbst durch das Geschenk, das er uns im Beiheft seiner Weltersteinspielung (beim gleichen Label) der 2nd Pembroke Collection von Carl Friedrich Abel gemacht hat, wo er uns mit unübertroffenem Sachverstand und größter Ausführlichkeit (40 Fußnoten!) über den Komponisten und Menschen Abel erzählt. Dort erfahren wir auch mehr über die beiden phantastischen Instrumente aus dem 18. Jahrhundert, die in der vorliegenden Einspielung auch wieder verwendet wurden. Gern hätte ich auch noch erfahren (vielleicht mittels weniger kleiner Sternchen), bei welchen Stücken die Lady Amber, und wann das Instrument von Johann Casper Göbler zu Wort gekommen ist. Aber dieses kleine Manko tut der Qualität dieser exquisiten Produktion keinen Abbruch.

[Hans von Koch, Mai 2016]

Verschiedenste Einflüsse, wie aus einem Guss

Karl Weigl
Klavierkonzert für die linke Hand Es-Dur, Violinkonzert D-Dur

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Capriccio CD C 5232
ISBN: 845221052328

„Ich habe Karl Weigl immer als einen der besten Komponisten der alten Generation betrachtet; einer derer, die die glanzvolle Wiener Tradition weiterführen. Er bewahrt zweifellos die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt.“ So urteilte kein Geringerer als Arnold Schönberg über diesen Komponisten, der sich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 gezwungen sah, in Amerika neu zu beginnen. Doch sollten die Worte seines berühmten Kollegen Weigl nicht davor bewahren, ähnlich wie sein einstiger Lehrmeister Alexander von Zemlinsky, sein Leben und Werk 1949 im New Yorker Umfeld stillschweigender Ignoranz zu beschließen.

In Wien ein geschätzter Komponist und Lehrer, dessen Werke im Repertoire so berühmter Namen wie Furtwängler und Szell zu finden waren, blieb Musik des 1881 in Wien geborenen Weigl trotz prägender Freundschaft zum mehr als sechs Jahre älteren Schönberg der Spätromantik verhaftet. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, warum der im 1. Weltkrieg am rechten Arm amputierte Pianist Paul Wittgenstein ihn 1924 damit beauftragte, ein Klavierkonzert für ihn zu schreiben. Zu einer Uraufführung kam es jedoch nicht. Während die von Wittgenstein ebenfalls abgelehnten Auftragskompositionen für die linke Hand von Ravel und Prokofjew früher oder später ihren Weg ins Standardrepertoire der Pianisten nahmen, verschwand Weigls Konzert (wie auch dasjenige Hindemiths, das erst Leon Fleisher 2004 in Berlin erstmals zu Gehör brachte) ungehört und wurde 2002 von dem Pianisten Florian Krumpöck uraufgeführt. Seiner Interpretation ist es zu verdanken, dass dieses Werk in seiner Konzeption des sinfonischen Klavierkonzertes auf dieser Ersteinspielung von 2013 plastischen Ausdruck findet. Im Gegensatz zu Ravel und Prokofjew begreift Weigl das Klavier nicht als Widerpart des Orchesters, sondern als Teil des sinfonischen Organismus. Er versucht gar nicht erst, die Einsamkeit der linken Hand hinter einer scheinbaren Vielstimmigkeit zu maskieren, sondern legt sie vor allem im zweiten Satz in einer entrückten Arie über den orchestralen Klangkörper. Krumböck, dessen Virtuosität und Gestaltungskraft niemals zum Selbstzweck verkommt, weiß die cantablen Linien empfindsam nachzuzeichnen und die Vielschichtigkeit des Konzertes, das in seinem Aufbau und dem heroischen Gestus Beethovens fünftem Klavierkonzert durchaus nachempfunden ist, gekonnt herauszuarbeiten.

Auch das 1928 entstandene Violinkonzert D-Dur ist nicht nur in der Tonart von Beethoven inspiriert. Das Orchestervorspiel zu Beginn scheint in seiner Länge eher einem klassischen Vorbild zu entspringen. Umso mehr überrascht der ganz im spätromantischen Tenor eines Max Bruch gehaltene Einsatz der Violine. David Frühwirth stürzt sich hier beherzt ins philharmonische Getümmel und beherrscht die Szenerie von der ersten Note an. Ist der solistische Part im Klavierkonzert noch mehr in den sinfonischen Satz integriert, so steht die Violine hier dem Orchester im Dialog gegenüber. Frühwirths wunderbar durchphrasiertes Spiel vermag, sich deklamatorisch gegen die vielen Register der großen Besetzung zu behaupten. Im zweiten Satz besticht sein biegsamer, gesanglicher Ton, der den großen Bogen nie verliert. So wirkt das Miteinander verschiedenster Einflüsse, die die epischen Klangflächen eines Mahler ebenso wie die instrumentale Vielfarbigkeit eines Strauss beheimaten, stets aus einem Guss.

Die Norddeutsche Philharmonie Rostock hätte im Violinkonzert Frühwirth unter Krumpöck, ebenso wie im Klavierkonzert Krumpöck unter Manfred Hermann Lehner, als sinfonisches Gegenüber in der Gestaltung mehr zur Seite stehen können. Bleibt zu hoffen, dass diese beiden im Ganzen gelungenen Darbietungen der Solisten zukünftig dem Hörer Augen und Ohren für die Musik Karl Weigls öffnen.

[Raphael Buber, Mai 2016]

Bilder und Momente

Naxos 8.573469; EAN: 7 47313 34697 4

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Über siebzig Minuten Rachmaninoff gibt es auf der nunmehr dritten CD von Boris Giltburg für Naxos zu hören. Den zweiten Band der Études-tableaux Op. 39 und die zwanzig Jahre früher entstandenen Moment musicaux Op. 16 (wenn auch die Jahreszahlen auf der CD vertauscht wurden) spielt der 1984 in Moskau geborene Pianist.

Die unglaubliche Inspiriertheit von Sergei Rachmaninoff manifestiert sich nirgendwo monumentaler als in seinen Klavierminiaturen. Der lyrische Moment der nachklingenden Romantik ist in diesen auf vollendete Weise enthalten, sie haben eine fesselnde und mitreißende Wirkung, stets schillernde Bildhaftigkeit und auch pianistisch mehr als reizvolle Passagen. Sehr eindrücklich zeigen dies bereits die frühen Moments musicaux Op. 16 von 1896, von welchen vor allem die vierte Nummer in e-Moll berühmt geworden ist durch ihre packende Virtuosität, über die sich ein Thema erhebt, welches schlichter und eingängiger kaum sein könnte. Für mich der spannendste und vielleicht ausgereifteste Werkzyklus des Russen bleibt allerdings derjenige der Études-tableaux, der in zwei Bänden Op. 33 und Op. 39 erschienen ist. „Etüden-Bilder“, dieser Name trifft den Inhalt vorzüglich, weisen doch alle enthaltenen Stücke horrende technische Anforderungen auf (teils hintergründig und versteckt wie bei Op. 33, Nr. 3, doch beim Spielen durchaus merklich, denn gerade hier liegt die Herausforderung darin, die Stimmführung herauszumeißeln – auch das ist eine technisch nicht zu unterschätzende Aufgabe!) und sind doch allesamt keine reinen Übungsstücke, sondern abstrakte Illustrationen oder, wie Giltburg in seinem Booklettext schreibt, Kurzgeschichten, teils wie akustische Filmvorlagen. Die Etüden aus dem hier zu hörenden Opus 39 weisen zwar nicht die würzige Kürze und Unmittelbarkeit derjenigen aus Op. 33 auf, doch dafür einen viel weiter gespannten Bogen über mehrere Abschnitte hinweg, noch höhere pianistische Anforderungen und eine ausgereifte Vielstimmigkeit.

Boris Giltburg findet in den Werken einen durchwegs lyrischen Grundcharakter, eine gewisse Weichheit und bildliche Strahlkraft. Auch die vielstimmigen Akkorde erhalten einen vollen Ton und gleiten nicht in ein dumpfes Schlagen ab. Manuell kann Giltburg bis hin in enorme Tempi überzeugen, manch horrend schwieriges Stück gerät bei ihm gar noch schneller als vom Komponisten intendiert und lässt dadurch staunen.

Einiges verliert sich allerdings in Willkür, so werden die Tempi zu oft durch freie Rubati unterbrochen und jeder Grundpuls geht dadurch verloren, teilweise auch die innere Ruhe durch beschleunigenden Puls wie in Op. 39, Nr. 2. Die Ritardandi sind zudem vielerorts mechanisiert und treten automatisch an gewissen Stellen auf, meist beim Zulaufen auf den neuen Takt oder einen Themeneinsatz. Aus mir nicht erkennbaren Gründen, scheinbar unbewusst, durchlebt die Dynamik erhebliche Abweichungen von der in den Noten stehenden Vorzeichnung, wodurch einige Kontraste verloren gehen. Nicht zuletzt tauchen, hauptsächlich bei den Etüden, auch einige zentrale Melodien komplett in den Untergrund ab, die entscheidend für die melodische Aussage der Werke wären.

So wäre wirklich zu wünschen, Boris Giltburg würde intensiv daran arbeiten, die Stücke aus ihrer Unmittelbarkeit heraus zu erleben und aus mancherlei tradierten Willkürlichkeiten, Manierismen und Mechanisierungen zu befreien. Denn die Auffassungsgabe, den Kern aus der Musik herauszuholen, hat er eigentlich und kann es in manchen Stücken auch eindrucksvoll umsetzen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Der klingende Schutzschild

EAN: 9 783793 140825

0049

„Musik aus einer anderen Welt“ oder, wie die hier vorliegende überarbeitete Ausgabe heißt, „Musik in Auschwitz“, ist ein autobiographischer Bericht des Komponisten und Violinisten Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Herausgegeben von Frank Harders-Wuthenow und Elisabeth Hufnagel erschien er bei Boosey & Hawkes, Harders-Wuthenow verfasste zudem ein Künstlerportrait, welches ebenso wie ein Bericht von André Laks über seinen Vater der Ausgabe beigefügt ist.

Beizeiten fällt einem einmal ein Gegenstand in die Hände, der schon längere Zeit im Regal stand und bereits aus der aktiven Wahrnehmung verschwunden war. Doch beim Betrachten zieht er einen erneut in seinen Bann und es überkommt einen, sich auf der Stelle wieder all seinem Zauber zu widmen. Genau so erging es mir mit „Musik in Auschwitz“ von Simon Laks, welches ich Anfang 2015 in Berlin erhielt und mit großer Begeisterung regelrecht verschlang. Nun entdeckte ich dieses Buch wieder und konnte nicht anders, als es erneut ‚in einem Atemzug’ durchzulesen, mich in diese Welt zu vertiefen und das großartige musikalische Schaffen Laks‘ noch intensiver zu studieren, auf dass es seine Einzigartigkeit für mich entfesseln kann.

Der Bericht von Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von 1942 bis 1945 setzt sich durch eine Sache ganz klar vom Gros der Zeugnisse von Überlebenden ab: Er verzichtet so konsequent wie irgend möglich auf alle detaillierten Beschreibungen des Schreckens und Terrors im Lager, von Gewalt, Folter, Unterdrückung und Mord. Sein Hauptanliegen: Die Musikszene im Konzentrationslager zu beschreiben, seine Erlebnisse im Bezirksorchester mitzuteilen und allgemein eine reflektierte, nicht aus dem Trauma heraus völlig subjektiv entstandene Schilderung des Lagerlebens zu geben. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben (obwohl er der Hauptautor ist, stand er damals noch zusammen mit René Coudy als Verfasser da) und dreißig Jahre später überarbeitet, konnte Laks mit der Revision seine Gedanken sammeln und heilende, für Autor und Publikum guttuende Distanz zu den Schreckenserlebnissen gewinnen, um so ein objektiveres und detaillierteres Bild zu vermitteln – ein Bild, das der Leser versteht, da es in Worten und Vorstellungen niedergeschrieben ist, die ihm vertraut sind, obgleich er diese unvorstellbaren Zustände nicht miterlebt hat. So ist der Leser nicht paralysierter Zuhörer eines traumatisch verstörten Schreckensberichts, sondern wird aus seinen individuellen Erfahrungen heraus in diese „andere Welt“ hinein geworfen und kann mit dem autobiographischen Erzähler mitfühlen, sich in ihn hineinversetzen und es selbst miterleben. Das macht Simon Laks‘ Buch zu einem der am unmittelbarsten wirkenden und auch verständlich-informativsten Bücher über das Leben im Konzentrationslager. Nicht nur über das Grauen erfährt man, sondern auch über die sich langsam aufbauende Gesellschaftsordnung in Birkenau, über Handelssysteme und die Wege und Möglichkeiten, innerhalb des Lagers zur Prominenz aufzusteigen. Auch Einzelschicksale einiger Leidensgenossen werden beleuchtet, doch nur um das Bild zu vervollständigen, denn schließlich war jedes Einzelschicksal in Auschwitz zugleich Kollektivschicksal.

Zentral für das Schicksal von Simon Laks ist die Musik. Der Komponist und Violinist erörtert, wie er zum Lagerorchester kam und dort zeitweise sogar zum Dirigenten avancierte, wie dadurch die Musik ihn am Leben erhielt. „Die Geige, die ich halte, ist mein Schutzschild geworden“, so heißt es bereits auf der Titelseite der deutschen Ausgabe; dieser Satz ist Programm. Durch seinen gefragten Posten als professioneller Musiker, Notenschreiber, Violinist und Dirigent nämlich konnte sich Laks schnell Kontakte aufbauen zur Lagerprominenz und gehörte schon bald dazu – sprich, er konnte sich ausreichend Lebensmittel und andere für die Verhältnisse des Lagers unermesslich wertvolle Gegenstände beschaffen. So weiß Laks auch, skurrile Geschichten zu erzählen über besondere Vorlieben einiger Prominenter und SS-Männer, über besondere Musikideale und -vorstellungen. Doch vor allem der Alltag wird detailliert geschildert, die Funktion der Musik für die Gefangenen und für SS-Leute, die von Ermutigung zu Unterhaltung bis hin zur absoluten moralischen Abgründigkeit reichte.

Die Ausgabe bei Boosey & Hawkes bietet darüber hinaus alles, was man sich nur über so einen noch immer viel zu unbekannten Komponisten wünschen kann: Ein Verzeichnis aller Kompositionen Laks‘, die Diskographie und eine Portrait-CD liegen ebenso bei wie zwei absolute Schätze an Essays über Laks. Frank Harders-Wuthenow, zweifelsohne einer der feinfühligsten Musikverständigen in Deutschland und unter anderem mit seiner CD-Reihe „Poland Abroad“ ein beispielloser Vorreiter und Verbreiter der polnischen Musik in Deutschland, verfasst ein äußerst informatives und in prägnanter Kürze umfassendes Portrait über Simon Laks, außerdem erzählt André Laks, Sohn des Komponisten und derjenige, der für die internationale Verbreitung des Buchs Sorge trug, über die lange Geschichte hinter der Entstehung und Veröffentlichung des Buches.

Seit 2014 ist diese 1979 überarbeitete Fassung nun schon in deutscher Übersetzung von Mirka und Karlheinz Machel bei Boosey & Hawkes zu erwerben, doch noch immer ist das Echo darauf allzu gering angesichts des hohen Werts der Publikation. So sei knappe zwei Jahre später dieses Buch und die Musik von Simon Laks wenigstens hier ausdrücklich empfohlen. Egal ob Musiker oder nicht, jeder Leser wird von den sensitiven Schilderungen Simon Laks‘ gefesselt und mitgeschleift durch diese Welt und am Schluss leidet man gar mit ihm, als er einige Zeit nach seiner Befreiung mit echter Empörung sieht, dass die Waffenfabrik gesprengt wird, an deren Aufbau er die letzten Monate seiner Gefangenschaft mitarbeiten musste – war es doch schließlich auch „seine“ Fabrik.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Zurück zur Kindheit

Ars Productions, ARS 38 212; EAN: 4 260052 382127

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Impressions d’enfance“ für Violine und Klavier Op. 28 von George Enescu sowie die – weniger gespielten – ersten beiden seiner drei großen Violinsonaten sind zu hören auf dem Album „Childhood Impressions“ von Stefan Tarara und Lora Vakova-Tarara, erschienen bei Ars Productions.

Der große rumänische Komponist George Enescu wird schon viel zu lange nur am Rande der musikgeschichtlichen Wahrnehmung der Konzertgänger gepflegt. Vielen ist sein Name zwar ein Begriff, doch steht er nach wie vor nur in Ausnahmefällen auf dem Programm – und dann höchstens seine dritte Violinsonate „dans le caractère populaire roumain“ oder andere volksmusikalisch angehauchte Werke. Seine fünf Symphonien, von denen drei vollendet sind, die vier frühen Jugendsymphonien oder die Konzerte wie auch die Concertante für Cello sind im heutigen Konzertleben gar nicht präsent.

Nachdem sie vergangenes Jahr bereits die dritte Sonate gemeinsam mit Werken von Bloch, Ravel und De Zeegant für Ars Productions eingespielt hatten, widmen sich Stefan Tarara und Lora Vakova-Tarara nun den beiden Vorgängern, den Sonaten Op. 2 in D-Dur und Op. 6 in f-Moll, beide vor Enescus 20. Geburtstag entstanden. Und was ergänzte diese Jugendwerke besser als die „Impressions d’enfance“, die Impressionen aus der Kindheit, Op. 28, wenngleich der Rumäne zur Kompositionszeit bereits fast seinen sechzigsten Geburtstag erreicht hatte. Beide Sonaten warten mit erstaunlicher Reife, mit virtuosem und spielfreudigem Passagenwerk, belebender Frische, inniger Lyrik, und auch mit ansprechenden Klangeffekten auf. Sie sind jeweils in klassischer Dreisätzigkeit gegliedert mit einem langsamen Mittelsatz, der von zwei belebten Sätzen umrahmt wird. Überhaupt dienen klassische Formideale als zeitlose Vorbilder, wenngleich sie durchaus gelockert und teilweise kurzzeitig in Frage gestellt werden. „Impressions d’enfance“ hingegen ist ein zusammenhängender Zyklus aus zehn Miniaturen, von denen die kürzesten nur knapp über 20 Sekunden andauern. Diese Miniaturen werden unterbrechungslos gespielt, gehen also direkt ineinander über, tatsächlich wie Eindrücke aus der Kindheit, deren Bilder und Laute vor dem inneren Auge vorüberziehen und sich zu einer emotionalen Landschaft verbinden. Das Werk hat eine ausgesprochen bildhafte Sprache, und oft scheinen diese Bilder auch ohne Wissen um die Titel unmittelbar erkennbar. Impressions d’enfance ist ein wunderbar ausgereiftes Werk, welches einen stringenten roten Faden durch die Miniaturen zieht, der diese Charakterstücke unwiderstehlich eint.

Üblicherweise gehe ich auf Albumcovers nicht ein, aber hier kommt man absolut nicht drum herum. Bei Childhood Impressions ist auch das optisch Äußerliche schon ein Kunstwerk, abgestimmt mit bunter Schrift, Kindermalereien im Booklet, Fotographien vom Spielen auf dem Feld (Stefan Tarara wirft auf einem Foto seine Geige hoch in die Luft wie einen Ball – hoffentlich fängt er sie auch wieder auf!), und doch behält alles einen seriösen und künstlerisch hochwertigen Eindruck.

Beide Musiker harmonisieren ausgesprochen gut und hören genau aufeinander, stimmen ihr Spiel maßvoll ab. Lora Vakova-Tarara am Klavier gibt den Werken einen soliden, harten und kompakten Ton, der eine betont maskuline Attitüde zur Folge hat. Sie ist präzise und lupenrein in ihrem Spiel, kann auch feine Dynamikabstufungen minutiös in die Waagschale legen. Der Violinist Stefan Tarara bringt sehr innige und feinfühlige Klänge aus seinem Instrument hervor, die sich allen musikalischen Gegebenheiten anschmiegen – wodurch auch  gelegentliche minimal abweichende Intonation gar nicht stört. Gerade bei klangmalerisch abbildenden Effekten kann Stefan Tarara auftrumpfen, besonders offensichtlich bei der Klangillustration der Grille (Grillon) und dem Vogel (Oiseau) aus den Kindheitsimpressionen sowie auch im Mittelsatz der zweiten Sonate – vor allem die Tiere wirken fast naturalistisch echt! Als Duett wirken Stefan Tarara und Lora Vakova-Tarara gemeinsam in einer lockeren und beschwingten Art, von fast naiver Leichtigkeit und doch mit ausgesprochenem Verständnis für die musikalischen Bezüge. Beide leben im gerade erklingenden Moment und können diesen in aller Pracht entstehen lassen. Bei den langen Sonatensätzen kommt jedoch teils der große Bogen, der sich unweigerlich von der ersten bis hin zur letzten Note erstrecken muss, nicht zustande. Wesentlich leichter nachvollziehbar ist die Linie durch die zehn Miniaturen der Impressions d’enfance, die in der Darbietung von Tarara und Vakova-Tarara eine klare Struktur aufweisen und auch in den Übergängen mit zwingender Sinnhaftigkeit fesseln.

George Enescu schrieb eine immer aufs Neue faszinierende Musik, durchtränkt mit echtem rumänischen Geist und von seinen namhaften Lehrern Fauré und Massenet geprägter satztechnischer Eleganz. Es ist unglaublich schwierig, Enescu wirklich zu verstehen, seine Musik aus dem Volkstümlichen und Naiv-Schlichten heraus entstehen zu lassen, ohne gekünstelt und steril zu werden. Stefan Tarara und Lora Vakova-Tarara schufen hier eine eindrucksvolle Aufnahme, die eben die kindliche Leichtigkeit und das innere Gefühl bewahrt, auf stilvolle Weise scherzen kann und die Musik unprätentiös hervortreten lässt.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Leipziger Streichquartett: Erstes Album in neuer Besetzung

Jean Sibelius: Streichquartette Op. 56 „Voces Intimae“ und JS 183 (1889)
Leipziger Streichquartett
CD 63’13 min., 1/2016
MDG, 2016
MDG3071957-2
EAN: 7 60623 19572 8

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Das erste Album des Leipziger Streichquartetts ohne ihren bisherigen ersten Geiger Stefan Arzberger (der wegen einer ziemlich undurchsichtigen Kriminalgeschichte seit über einem Jahr in den USA in Untersuchungshaft festsitzt) ist in mancher Hinsicht eine Überraschung.
Erste Reaktion: Ausgerechnet Sibelius! Das ist ein Terrain, für das die Leipziger bislang nun nicht gerade bekannt waren. Zudem erscheint das Album zielsicher ein Jahr nach dem groß gefeierten Jubiläum des finnischen Komponisten, also in einer Zeit, in der anderenorts nach der großen Flut vorerst bei den meisten CD-Labels die „sibelianische Ebbe“ ausgebrochen ist.

Der neue Violin-Primus des Quartetts Conrad Mück ist wohlbekannt vom Berliner Petersen Quartett, das ebenso wie die Leipziger zu den bekanntesten Streichquartetten des Landes zählt. Ob diese Lösung allerdings dauerhaft bleiben wird, auch wenn Arzberger aus den USA wieder zurückkehrt, darüber lässt uns das Quartett vorerst im Unklaren, zumindest im Booklettext, wo lediglich davon gesprochen wird, Mück sei „seit 2016 Erster Violinist“.

Wie klingt nun das Leipziger Streichquartett in der neuen Besetzung? Er hat sich auf jeden Fall gewandelt, ist weicher geworden. Arzbergers Ton, der stets eine (nicht unangenehme) Schärfe aufwies, wird abgelöst vom eher lyrischen Tonfall Conrad Mücks. Insgesamt pflegt man weiter das Diktum einer vorbildlichen Durchhörbarkeit und Präzision. Allerdings gerät dabei nach wie vor (wie bei diesem Quartettensemble leider öfters beobachtet) die Phrasierung manchmal in den Hintergrund. Und wenn eines bei Sibelius wichtig ist, dann ist es Phrasierung. Offen gesagt: Das berühmte Streichquartett Op. 56 „Voces Intimae“ gerät auf diesem Album zur Enttäuschung. Manches klingt gar, als wäre es sauber aber seelenlos vom Blatt gespielt. Die innere Architektur des Werks erschließt sich in dieser technisch so blitzsauberen Aufnahme leider gar nicht. Manchmal hat man das Gefühl, das Quartett musiziere nachgerade am Werkkern vorbei. Die Linienführung wirkt oft seltsam unzusammenhängend, ein „großes Ganzes“ will sich selten einstellen. Kurz gesagt: Es gibt da viel bessere Aufnahmen am Markt.

Das seltener zu hörende Streichquartett von 1889 kommt den Leipzigern mit seiner „Jugendstiligkeit“ erkennbar viel besser entgegen. Hier ist vom Komponisten weniger in die Musik „hineingeheimnist“ worden, und man erkennt an dieser Musik vielleicht, dass Sibelius einmal bei Carl Goldmark in die Kompositionslehre gegangen ist. Hier finden die Leipziger alles was sie brauchen, um sich zurechtzufinden: Rhythmus, Leidenschaft, Romantik. Im Vergleich zu der „flächiger“ erscheinenden Anlage des „Voces Intimae“-Quartetts finden sich in dieser Musik viel mehr Ansatzpunkte, um ein Quartettensemble dankbar zu bedienen. Und die Leipziger greifen das auch dankbar auf. Man spielt hier auf wie befreit, findet endlich zu einem Ensembleklang.

Diese CD ist also eine janusköpfige Angelegenheit, und es wird sich zeigen in welche der beiden Richtungen das Leipziger Streichquartett fortan gehen wird. Der Abgang von Stefan Arzberger scheint jedenfalls trotz hochkarätiger Neubesetzung noch nicht verkraftet zu sein.

[Grete Catus, Mai 2016]

Hochseil-Sonaten

Cypres, CYP1674; EAN: 5 412217 016746

0047

Der belgische Pianist Stéphane Ginsburgh spielt für Cyprès alle neun mit Opuszahl versehenen Klaviersonaten von Sergei Sergejewitsch Prokofieff ein: Op. 1, Op. 14, Op. 28, Op. 29, Op. 38, Op. 86, Op. 83, Op. 84 und Op. 103.

Wie der Amerikaner George Antheil, wenngleich unvergleichlich begabter, gehört Sergei Sergejewitsch Prokofieff wohl zu denjenigen bekannten Pianisten, die man als Enfant Terrible bezeichnen würde. Bereits in seiner frühen Jugend geriet Prokofieff durch außerordentliche technische Fähigkeiten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Herausragendes Ereignis diesbezüglich war die Uraufführung seines zweiten Klavierkonzerts in der 1912/1913 entstandenen Originalfassung, die heute verschollen ist. Prokofieff spielte der Presse zufolge trocken und scharf akzentuiert, die Musik wirkte auf einen großen Teil abstoßend und ließ die Menge der Zuschauer im Saal schnell schütter werden. Doch Prokofieff, angespornt von dem divergierenden Getöse aus Ablehnung und Zuspruch, ließ sich dazu hinreißen, es gar da capo zu spielen, wie er es noch in seiner Autobiographie schelmisch erfreut beschreibt. Nun gilt es allerdings zu bedenken, dass Prokofieff zu dieser Zeit schon eine riesige Auswahl an Werken geschrieben hatte, für Klavier alleine sechs nicht mit Opuszahlen versehene Sonaten (die letzte davon ist nicht erhalten) und eine große Anzahl weiterer nicht gezählter Stücke, dann die ersten beiden nummerierten Sonaten f-Moll op. 1 von 1909 und d-Moll op. 14 von 1912, die noch heute gerne als Zugabe präsentierte Toccata d-Moll op. 11 von 1912 und kleinere Einzelstücke wie auch Etüden. Als junger Mann bereits dermaßen produktiv und vor allem technisch herausfordernd, behielt er seine prägenden Stilmerkmale bis zu seinem Tod am 5. März 1953, dem gleichen Tag wie Josef Stalin, bei, und schuf fundamentale Werke höchster Komplexität und Virtuosität in einem unverwechselbar eigenen Stil. Seine Musik ist hart, rhythmisch prägnant, mit einer gewissen Kühle versehen, wild und gerne dissonant, wobei durchweg eine tonale Grundlage unüberhörbar ist, die jedoch durch Harmoniechangierungen in wahnwitziger und kaum nachvollziehbarer Geschwindigkeit ins Virtuose gesteigert ist und für ein Verständnis auch den Hörer zu äußerst aktiv aktiver Hörhaltung zwingt.

Jede einzelne der insgesamt neun nummerierten Klaviersonaten ist für sich eine enorme Aufgabe und ein wahrer Hochseilakt. Der Belgier Stéphane Ginsburgh wagt sich nun in einer 3-CD-Box an eine Gesamteinspielung dieser neun Meilensteine. Der Pianist geht mit einem trocken-harten Grundgestus an diese Werke heran, der auch dem bekannten Klischee der  Sonaten entspricht. Dabei vermittelt er einen beschwingten und teilweise gar spielerisch leichten Charakter, der selbst in den physikalisch an die Grenzen des Machbaren reichenden Passagen beibehalten ist. Eine interessante Note verleiht Ginsburgh den Sonaten durch einen tendenziell lyrischen Ton in manchen Stellen, der bei genauem Blick in die Noten durchaus vorhanden und nur von den meisten Pianisten vollständig vernachlässigt ist. Aber tatsächlich, Prokofieffs Klaviermusik kann auch singen!

Weniger hält er sich hingegen an manche unerlässliche Angabe in den Noten, vor allem im Bereich der Dynamikbezeichnungen. So reicht sein Spektrum bisweilen meist nur bis in ein Mezzo hinab, die Piano- und Pianissimobereiche werden kaum tangiert. Dadurch werden als logische Konsequenz fundamentale Strecken des Spannungsaufaufbaus und -abbaus unkenntlich, lassen also die stringente, bei Prokofieff immer wieder im fortwährenden Precipitato-Charakter nach vorne weisende Form durch Gleichförmigkeit verfließen. Deutlich beispielsweise im wohl bekanntesten Satz aus der reichen Fundgrube der Klaviersonaten, dem ohnehin auch mit „Precipitato“ bezeichneten Finale der siebten Sonate. Der Satz wirkt eher entspannt als nach vorne treibend, der zwingende Aufbau der ersten 45 Takte vom Mezzopiano zum Fortissimo mit abruptem Abbruch zurück ins Piano bleibt vollkommen aus. Manche besonders sperrigen und strukturell undurchsichtigen Passagen geraten unförmig, beispielsweise der Kopfsatz sowie der Beginn des zweiten Satzes der vierten Sonate – hier scheint sich Ginsburgh mit der lupenreinen und sicherlich beachtlichen technischen Beherrschung begnügen zu wollen. Auch kommt es immer wieder zu mir nicht innerlich nachvollziehbaren Rubati.

Wesentlich packender gelingen vor allem die frühen Sonaten, die einsätzige erste Sonate in ihrem tänzerischen Schwung und ihrer Dualität zwischen Verspieltheit und Gewalt, die vielseitige und bis ins Brachiale sich steigernde Zweite sowie die stellenweise gar verträumte, wiederum einsätzige Dritte. Interessant gestalten sich auch die ersten beiden Sätze der Siebten, der toccatenhaft im strengen non legato gehaltene, perkussive Kopfsatz und der zweite Satz, hier gar als sachliche Nocturne genommen. Auch in guten Teilen der anderen, hier nicht dezidiert besprochenen Sonaten kann Ginsburgh seine Stärken gut ausspielen.

Trotz einiger Schwächen der Darbietung – was aufgrund der Tatsache, dass hier alle neun dieser Mammutwerke in weniger als einer Woche am Stück eingespielt wurden, schwerlich anders zu erwarten wäre – liegt hier doch eine recht hörenswerte Gesamteinspielung vor und so ist diese durchaus zu empfehlen, um einen umfassenden Einblick in das Klaviersonatenschaffen von Sergei Prokofieff bekommen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]

Zauberhaft, authentisch, berührend – Yamilé Cruz Montero und Christos Asonitis spielen kubanische Musik

Die 1985 in Havanna geborene Pianistin Yamilé Cruz Montero spielt in der Mohr-Villa in Freimann im Münchner Norden Werke kubanischer Landsleute, teilweise in Kollaboration mit dem griechischen Schlagzeuger Christos Asonitis. Neben Zeitgenössischem, darunter zwei vertrackten Kompositionen der bekanntesten kubanischen Komponistin Tania León und zwei Eigenkompositionen von Frau Cruz Montero, spielte sie auch Klassiker von Ernesto Lecuona und, als Zugabe und einziges Werk des 19. Jahrhunderts, Ignacio Cervantes.

Schon kürzlich berichtete the-new-listener.de von einem Konzert, in welchem Yamilé Cruz Montero ausschließlich zeitgenössische Werke von Komponistinnen, darunter mehrere Uraufführungen, vortrug. Und schon da war erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit, filigranen Feinnervigkeit, rhythmischem Groove und natürlicher Sanglichkeit sie agierte. Das Konzert in der Mohr-Villa – in eher etwas indifferenter Akustik auf einem zwar nicht makellosen, da nur bedingt modulationsfähigen, aber doch auch nicht allzu unbefriedigenden Hohner-Flügel – begann sie denn auch mit eben jener Danzón von der in Holland lebenden Keyla Orozco und den zwei virtuosen Stücken ‚Momentum’ und ‚Tumbao’ von Tania León, die sie bereits zuletzt im Programm führte. Und es war erfreulich, hören zu können, wie die Werke unter ihren Händen weiter reifen. Neu dann ‚Reencuentro’ von dem 1958 geborenen, komponierenden Klaviervirtuosen Ernán López Nussa, nunmehr unter so dezenter wie stimulierender Mitwirkung von Asonitis am Percussion-Set. Man darf staunen, wie wunderbar die beiden aufeinander eingespielt sind, und diese durchaus auf traditionellen karibischen Elementen aufbauende Musik swingte nicht nur in transparenter Zartheit, sondern entfaltete eine improvisatorische Anmut. Eine von geschmackvoller Sensitivität getragene Musik, die man gerne wieder hören möchte. Es schlossen sich vor der Pause noch, nunmehr wieder für Klavier solo, die Variationen über ein (innig romantisches) Thema von Silvio Rodriguez aus der Feder von Andrés Alén an – 1950 geboren, hat er sich einst auch seine Sporen als Pianist verdient. Man merkt seinem Zyklus an, dass er aufmerksam die großen Vorbilder in der Gattung studierte, und in einer Variation scheint tatsächlich Brahms eine kleine Stippvisite zu machen. Allerdings wirkt das Werk insgesamt auch etwas bemüht scholastisch und ist nicht von einem durchgehenden Spannungsbogen getragen. Yamilé Cruz Montero bemühte sich nach Kräften, der nicht allzu überzeugenden Entwicklung den durchgehenden Lebensimpuls einzuhauchen.

Was noch zu wünschen wäre: dass sie ihren sehr liebevoll und offenherzigen Einführungsworten etwas mehr Information über die hierzulande ja völlig unbekannten Komponisten hinzufügt.

Nach der Pause folgte, was Länge, Gehalt und stilistische Vollendung betrifft, zunächst das Hauptwerk des Abends, zwar kubanischer Herkunft, aber doch auch das einzige nicht kubanische Werk des Abends: die sechssätzige Suite Andalucia vom Nationalkomponisten Ernesto Lecuona. Hier konnte Yamilé Cruz Montero ihr ganzes Können ausspielen, in feinen Schattierungen und unwiderstehlichen Rhythmen, und es ist Musik, die ohnehin Vergnügen bereiten möchte und nur darauf wartet, dass jemand wie hier sein ganzes Herz und seine Ausdrucksstärken in ihren Dienst stellt. Ganz besonders zauberhaft die Sätze ‚Alhambra’ und ‚Malagueña’, und ganz besonders quirlig die ‚Gitanerias’. Danach erwarteten wir gespannt zwei Eigenkompositionen der Pianistin: ein schlichtes, erstaunlich fein gesponnenes und in den Fortschreitungen durchaus kraftvolles Stück, das im Verhältnis von Können und Wollen stimmig erschien. Danach, nun wieder unter Mitwirkung des Schlagzeugs, das Schauspielmusik-Extrakt ‚El dragón en la luna’, mit vielen zündenden Momenten, aber auch nicht so organisch etwickelt wie das vorangehende Solo-Präludium, sondern eher eine geschickte Montage unterschiedlicher Elemente. Die beiden boten dann noch von dem afro-kubanischen Jazzmusiker Aldo López Gavilán ‚El pájaro carpintero’ dar, sehr zur Freude des begeistert mitgehenden, zahlreich erschienenen Publikums, das mit dieser Musik so richtig „in Fahrt“ gekommen war und gar keine Anstalten machte, nach Hause gehen zu wollen. Also folgte noch einmal Lecuona, diesmal mit einem kubanischen Tanz unter Mitwirkung des etwas zu kräftigen Schlagzeugs (dadurch werden vor allem die tiefen Register des Klaviers sehr übertönt), und zum Schluss Yamilé Cruz Montero alleine mit einem populären Klassiker von Cervantes.

Beide Künstler verdienen den Enthusiasmus, der ihnen entgegenschlug. Christos Asonitis ist ein so einfallsreicher wie unaufdringlicher, hochkultivierter und hellwacher Schlagzeuger, der dem kleinen Set einen großen Reichtum an Nuancen entlockt und nicht in routinierte Mechnizität abgleitet. Und Yamilé Cruz Montero wünscht man noch sehr viel Erfolg, und dies wahrlich aus mehr Gründen als der durchaus zauberhaften Erscheinung wegen! Was wir so oft vermissen auf dem Podium: ein durchweg aufrichtiger Mensch und authentischer Künstler, ohne jegliche Prätention, gewiss zu menschlich und bescheiden für das Ellenbogen-Business der Starkult-Klassikwelt, dafür berührend und echt in allem, was sie tut. Und durchaus auch mit dem Potential für eine Virtuosin von Rang versehen. Wir sind gespannt, was sie noch alles für uns entdecken wird.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Mai 2016]

Gefilde der seligen Geister

Matinée am 5. Mai 2016 um 11 Uhr im Prinzregententheater
Symphonieorchester Wilde Gungl München
Dirigent: Michele Carulli; Moderation: Arnim Rosenbach

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Am strahlenden Himmelfahrtstag ein strahlendes Konzert im ausverkauften Saal des Prinzregententheaters, das ist ein treffliches Zusammenkommen. Und solch ein Konzert können die Münchner nur mit „ihrer“ WILDEN GUNGL erleben! Aufforderung zum Tanz hieß das Motto nach dem berühmten Stück von Carl Maria von Weber – das natürlich auch zu hören war im bunten Strauß der Stücke, die dieses Himmelfahrts-Konzert ausmachten. Viele davon waren die sogenannten Reißer, der Blumenwalzer aus dem „Nußknacker-Ballett“ von Tschaikowsky, der Kaiserwalzer von Strauß, Kontretänze des jungen Beethoven, zu Beginn ein Mozart-Menuett aus dem Divertimento KV 317. Also alles Stücke, die man durchaus kennt und sicher auch schon oft gehört hat. Auf CD, im Radio oder sonst wo. Aber:

So, wie sie heute die Musikerinnen und Musiker des Symphonieorchesters Wilde Gungl entstehen ließen, wie es eben doch nur bei einem Live-Konzert zu erleben ist, das hat wieder einmal die ganze Kraft und Energie der Tonkunst gezeigt. Keine noch so gute Aufnahme, kein noch so guter Mitschnitt kann eben das leibhaftige Entstehen von Musik ersetzen, da hatte Maestro Celibidache einfach Recht.

Und wie die Kompositionen heute entstanden! Anmoderiert auf seine unnachahmlich charmante Art vom Konzertmeister Arnim Rosenbach ergab sich aus dem Programm mit den vielen Einzelstücken ein wunderbarer Bogen von Mozart bis zu den zwei Zugaben, die sich das begeisterte Publikum erklatschte. Und gerade bei den scheinbar ach so oft gehörten „Ohrwürmern“ kam durch die Klangentfaltung und durch das Wahrnehmen der einzelnen Orchestergruppen oder Solisten das „Gungl-Wunder“ – wie es der Präsident Kurt-Detlef Bock hinterher beschrieb – eben jene Magie auf, die Musiker und Zuhörer gleich verzauberte und mitnahm in die „Gefilde der Seligen Geister.“

Natürlich hatte Maestro Michele Carulli daran den Anteil, den er als Dirigent an all den drei Konzerten, die ich bisher das Vergnügen hatte, zu hören, als „Anfeuerer“, als tänzerischster „Begeisterer“ eben einfach hat. Seine intensive und mitreißende Körpersprache, sein völliges Aufgehen im Augenblick der Gestaltung eines Stückes, sind umwerfend, eben con anima e corpore, wie ich schon einmal schrieb. Nur waren es heute eben Aufforderungen zum Tanz, die ein leider zum Stillsitzen verurteiltes Publikum eben nur innerlich – immerhin – erleben konnte. Der schon beim letzten Konzert im Herkulessaal ausnehmend weiche und dennoch füllende Klang der Streicher wurde aufs Schönste und Passendste ergänzt und gesteigert durch die Bläser und in einigen Stücken natürlich auch durch die Pauke, die Harfe (!) und verschiedenste „Schlagzeuge“. Den Solistinnen und Solisten galt denn auch nach jedem Stück Maestro Carullis Dank, den er – wie zum Schluss auch einigen Damen des Orchesters die Rosen – vollendet „gentlemanlike“ zum Ausdruck brachte.

Im letzten Stück des offiziellen Programms – einem Ausflug nach Brasilien mit der Komposition „Tico-Tico“ von Zequinha de Abreu – brach ein Beifallssturm los, den das Orchester zusammen mit Maestro Carulli mit zwei Zugaben beantwortete. Im letzten, einem Galopp des Namensgebers des Orchesters Josef Gung’l machte er sich mit perfekt geschauspielertem „Entsetzen“ über seine „Rolle“ als Dirigent lustig: nach dem Goethe’schen Motto „Wer sich nicht selbst zum Besten halten kann, der ist gewiß nicht von den Besten!“

Und das kann man von ihm und „seinem“ Orchester“ nach diesem wunderbaren, herzbewegenden Konzert sicher nicht sagen.

(Ceterum censeo: Auch die Münchner Presse täte langsam gut daran, die Konzerte der „Wilden Gungl“ endlich einmal angemessen zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen!)

[Ulrich Hermann, Mai 2016]

Gewohnte Qualität in verbesserungswürdiger Optik und Akustik

Kurt Atterberg: Symphonie Nr. 3, Op. 10 „Västkustbilder“; Drei Nocturnes, Op. 35bis; Vittorioso, Op. 58
Göteborger Symphoniker
Neeme Järvi
CD 66’21 min., 1/2015
Chandos 2016
CHAN10894
EAN 0 95115 18942 9

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Neeme Järvis Atterberg-Zyklus ist erst der zweite am Markt, neben demjenigen von cpo mit Ari Rasileinen. Bislang hinterließ die Reihe ein insgesamt gelungenes Bild. Nun erscheint der vierte und mutmaßlich vorletzte Teil.

Um es gleich vorweg zu sagen: Musikalische ist hier bis auf marginale Abstriche vieles im tief grünen Bereich: Die Symphonie Nr. 3 mit dem Beinamen „Västkustbilder“ zählt zu Kurt Atterbergs schönsten Orchesterwerken überhaupt. Und Neeme Järvi macht mit den Göteborger Symphonikern daraus ein Fest der Klangfarben und Stimmungen. Warum ist diese CD trotz allem ein großes Ärgernis? Weil sie eine CD ist!

Zugegeben, das klingt kryptisch für denjenigen, der die Atterberg-Reihe bislang nicht regelmäßig mitverfolgt hat. Es lohnt dann zu berichten, dass die ersten drei Teile des Zyklus auf SACD erschienen waren (was u.a. bei Chandos ein anderes Layout der seitlichen Beschriftung der Alben zur Folge hat). Nun hat der Sammler also Teil 1-3 in der braunlila-farbenen Optik der Chandos-SACDs im Regal stehen, und nun erscheint Teil 4 des Zyklus als „gewöhnliche CD“, die ein völlig anderes Layout eröffnet. Sammler hassen es, wenn sich das Layout innerhalb einer laufenden Reihe ändert.

Zudem haben wir ja schon einen Atterberg-Zyklus auf CD von cpo. Ein wichtiges Verkaufskriterium für den Atterberg-Zyklus bei Chandos war das SACD-Format, das aus Göteborg bislang in einem umwerfenden Klangbild geliefert wurde und vor allem auch im Mehrkanalton reichlich Spaß generieren konnte. Nun wird also der treue Käufer dieser Reihe plötzlich auf Standardniveau zurückgesetzt und auch noch mit einer Layout-Änderung bestraft. Was das soll, kann wohl nur das Label verstehen.

Musikalisch hat diese Veröffentlichung nämlich auch wieder das aus Göteborg inzwischen gewohnte Rhythmusproblem. Atterbergs Dritte ist rhythmisch nämlich durchaus vertrackt (vor allem im zweiten Satz, der tonmalerisch einen „Sturm“ in die schwedische Westküstenlandschaft zeichnet). Und wie schon bei den vorangegangenen Teilen versagen die Göteborger Symphoniker leider kläglich in Fragen der rhythmischen Präzision. Rasilainen hatte da mit der NDR Radiophilharmonie und dem Radiosinfonieorchester Frankfurt des hr die besseren Orchester zur Hand. Wie schmerzt das, wenn man im Vergleich dazu etwa die sensationellen Schostakowitsch-, Sibelius- oder Nielen-Aufnahmen aus den 1990er- oder 1980er-Jahren zum Vergleich auflegt, bei denen die Göteborger Symphoniker fraglos zu den besten Orchestern der Welt gezählt werden mussten.

Immerhin, was Neeme Järvis Atterberg-Auslegung deutlich von der Rasilainens bei cpo unterscheidet, ist die „Seele“, die Järvi dieser Musik verleiht. Das ist nach wie vor ganz großes Kino, wie Järvi es versteht, einen Orchesterklang zu diesem samtig-sahnigen Schmelz zu vereinen, wie ihn nur Järvi hinbekommt. Leidenschaft und Feuer lodern hier, gehen vielleicht manchmal sogar mit den schwedischen Musikern durch, was vielleicht zu den genannten rhythmischen Nickeligkeiten beigetragen haben könnte. Aber was für einen Spaß macht das! Und wie viel Spaß würde es erst im SACD-Mehrkanalklang machen ..!

Denn Atterbergs Dritte ist ein geradezu rauschhaft schönes Stück, glänzend orchestriert, mit einem Klangfarbenreichtum, den man selbst bei den gestandenen Sinfonikern des 20. Jahrhunderts nicht häufig findet. Ganz zu Recht wurde diese Sinfonie nach ihrer ersten Berliner Aufführung als eine der schönsten und besten Sinfonien ihrer Zeit gehandelt, wurde (wie uns das gut geschriebene Booklet aufklärt) mit den besten Symphonischen Gemälden eines Richard Strauss verglichen.

Atterbergs fortschrittliche Spätromantik war in den Jahren 1914 bis 1916, als diese Sinfonie entstand, auf einem ersten Höhepunkt. Und es ist ja auch interessant zu sehen, dass hier ein weiterer Komponist eine fast schon naturmystische Sinfonie in den Wirren des Ersten Weltkriegs komponiert hat. Eine spannende Parallele findet sich ja etwa in Ralph Vaughan Williams‘ „Pastoral Symphony“.

Die „Drei Nocturnes“ und vor allem das schwungvolle, mit schwedischer Melodik durchwobene, sehr effektvoll komponierte „Vittorioso“ sind sehr willkommene, ausgesprochen schöne Zugaben zu der mehr als 36-minütigen großen Sinfonie. Beide sind Weltersteinspielungen. Schön, dass man diese hübschen Werke nun in so guter Qualität anhören kann!

Kurz und gut: Neeme Järvis Atterberg-Zyklus bleibt trotz der üblichen kleinen Abstriche auf dem Rhythmussektor auch mit Folge Nr. 4 zurzeit die Erste Wahl. Auch ist trotz einer schlichtweg ärgerlichen Veröffentlichungspolitik des Labels, das mitten in der laufenden Veröffentlichungsreihe von SACD auf CD umgestellt hat, dieser Zyklus bis jetzt einfach der musikalischere und emotionalere im Vergleich zu dem Ari Rasilainens auf cpo, der die besseren Orchester haben mag, dem im Vergleich zu Järvis Einspielungen aber Leidenschaft, Begeisterung, „Feuer“ fehlt.

[Grete Catus, Mai 2016]