Die Münchner Philharmoniker spielen am 04., 05. und 06. Februar 2016 in der Philharmonie des Gasteig München unter Juraj Valčuha Werke aus Tschechien, auf dem Programm stehen „Vodník“ (Der Wassermann) von Antonín Leopold Dvořák, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinů sowie die Sinfonietta von Leoš Janáček. Für The New Listener besuche ich die dritte und letzte der Vorstellungen.
Nur schlecht besucht ist die Philharmonie im Gasteig am Abend des 06. Februar, das rein böhmische Programm scheint kein besonderer Publikumsmagnet zu sein. Es ist sehr bedauerlich, dass diese Werkauswahl auf kein größeres Interesse stößt, ist sie doch mehr als spannend und vielseitig: Der Wassermann, Vodník, die erste der (nach der letzten Symphonie entstandenen) fünf späten Tondichtungen Dvořáks, ist ein mitreißendes Werk in ausgereiftem und vollendetem Personalstil, das durch absolute Ausreizung des einprägsamen Grundmaterials lange Zeit im Kopf zu bleiben vermag. Doppelbödige Kantabilität und schroffe Gewalt wechseln einander ab in einer wilden Handlung, die im Mord an der Tochter gipfelt. Einen ganz anderen Weg beschreitet Martinů in seinem an das barocke Concerto Grosso angelehnten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, das mit rhythmischer Durchschlagskraft und voller orchestraler Wirkung trotz kleiner Besetzung besticht. Stets ein klanglicher Höhepunkt ist die Sinfonietta Janáčeks, in deren Randsätzen neben der eh bereits großen Orchesterbesetzung noch dreizehn weitere Trompeten, zwei Tenortuben und zwei Basstrompeten zum Einsatz kommen (später hat Chatschaturian in seiner bombastischen Dritten Symphonie etwas Vergleichbares versucht). Die Sinfonietta ist ein monolithisches Spätwerk voll sanglicher Melodik, mit virtuoser Instrumentation, als Hörerfahrung immer wieder zutiefst beeindruckend.
Mit dieser pathosbeladenen Musik gelingt es dem Dirigenten Juraj Valčuha, den Münchner Philharmonikern wieder eines zurückzugeben, was in letzter Zeit selten anzutreffen war: die Spielfreude. Man denke beispielsweise an den vollkommen unterprobten Prokofieff-Zyklus unter Gergiev oder ein erstaunlich farbloses Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy, wo wenig Hingabe zur Musik zu spüren war. Heute ist dies anders, das Orchester hat Lust und Spaß an dem mächtigen Programm und spielt wieder aus vollem Herzen. Besonders farbenreich erscheint die Musik Antonín Dvořáks, der schlichten und dauerpräsenten Motivik gewinnen die Philharmoniker etliche feine Farbnuancen ab und genießen immer wieder die volltönenden Höhepunkte. Das Orchester kennt und mag die musikalische Sprache des Tschechen und weiß, dies ansprechend umzusetzen. Besonders erfreulich gestalten sich die häufigen phraseninternen Instrumentenwechsel, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und eine imaginativ räumliche Wirkung evozieren.
Weniger Verständnis zeigen die Streicher für die eigentümliche Musik von Bohuslav Martinů, dessen Stil uns noch immer unvertraut und neuartig erscheint. Was auch bei Dvořák und Janáček als Grundtendenz vorliegt, wird hier zum Extrem: Es ist stets zu laut, und wiederholt werden Pianoangaben schlicht nicht beachtet, dafür ist die Musik im Forte zu pauschal mächtig, zu wenig differenziert ausgestaltet und kontrastlos, wodurch einige Längen entstehen. Hinzu kommt eine ungünstige Aufstellung mit Klavier und Pauken hinter den Streichern, wobei der Pianist den Dirigenten frontal anschauen kann. Resultat der Kombination der beiden Aspekte ist, dass die beiden Solisten kaum hörbar sind (und das, obwohl ich einen akustisch sehr guten und mittigen Platz habe). Zwar stimmt es, dass die Pauke eher eine ergänzende Rolle spielt als solistisch hervorzutreten, aber der Klaviersolist sollte doch als zentrale Säule stets deutlich vernehmbar sein. Die grundsätzliche Aufteilung in zwei antiphonisch agierende Streichorchester wird dadurch geradezu hinfällig, und man nimmt die konzertierend wettstreitende Teilung kaum wahr. Allem Anschein nach ist den Veranstaltern der Pianist auch nicht wichtig, wird dieser (wie auch der Paukist) doch nicht einmal im Programm erwähnt. Der Pianist hat das Konzert auch scheinbar nicht wirklich als Solistenstück erarbeitet, seine Stimme klingt eher nach einem soliden Accompagnement denn nach der zentralen Rolle im Wechselspiel mit den beiden Streichorchestern als drittem Widerpart. Natürlich liegt hier kein Klavierkonzert im klassischen Sinne vor und der Flügel spielt bis auf kurze kadenzartige Abschnitte im Mittelsatz eher innerhalb des Orchesters denn solistisch hervorgehoben, doch hier wurde eine Nivellierung erreicht, die den Charakter verfälscht.
Als sich nach der Pause die dreizehn zusätzlichen Blechbläser erheben, senkt sich auch das letzte Programmheft und der „kollektive Astmaanfall“, der zwischen den Sätzen eines Konzerts nicht mehr aus dem heutigen Konzertleben wegzudenken ist, ist plötzlich ausgeblendet. Der späte Stil von Leoš Janáček wirkt so verblüffend attraktiv, so unmittelbar und so wirkungsvoll, das sich einfach keiner dieser Musik entziehen kann. Er ist schlicht und volkstümlich, aber doch enorm ausgearbeitet und von riskanter Komplexität. Hier können sich die Musiker einmal austoben, und das nutzen sie voll aus; Valčuha versucht erst gar nicht, das Orchester zurückzuhalten. Der enorme Blechapparat, der normalerweise auf die ersten Kiekser nur warten lässt, intoniert absolut lupenrein und gibt sich freudig schmetternd, das Holz wartet mit virtuosen Läufen auf (immer wieder herrlich, wenn Flöte und Piccolo ihre rasenden Linien ziehen, die von anderen Holzbläsern aufgegriffen werden), auch die Harfe tritt mit brillanten Einsätzen hervor, das Schlagwerk ist gut abgestimmt und die Streicher bewältigen ihre rhythmisch verzwickten Passagen mit imponierender Lockerheit. Hier zeigt sich einmal, dass die Münchner Philharmoniker doch ein wirkliches Spitzenensemble sein können, das ganz vorne mitspielen kann – schwer verständlich, dass sie dies in letzter Zeit ein paar Mal vergessen ließen. Sehr hoffe ich darauf, sie in nächster Zeit öfter mit solch hinreißender Spiellaune und musikalischem Gestaltungswillen zu hören wie heute bei Dvořák und Janáček. Juraj Valčuhas oft schon übermäßiges Pathos wirkt bei diesen Stücken teils auch recht förderlich, wenngleich er Martinů zerbröckeln lässt. Er kann durchaus für große Effekte und Prägnanz garantieren, so dass ich mich bis heute an sein Konzert mit Rudolf Buchbinder im Concerto in F von George Gershwin von 2014 zurückerinnere, das nicht zuletzt dank seines Enthusiasmus zu einem unvergleichlichen Erlebnis geworden ist. Dies tut den Münchner Philharmonikern nach wie vor gut, aber dennoch wäre es generell wünschenswert, den animierenden Vorwärtstrieb etwas im Zaum zu halten und eben wenigstens nicht durchgängig ungebändigt walten zu lassen.
Das Publikum ist am Ende des Konzertabends nicht zu Unrecht begeistert – noch immer unter der enormen Unmittelbarkeit der Sinfonietta stehend. Solch ein Werk live zu hören, ist etwas ganz Besonderes und wird mich noch einige Zeit begleiten.
[Oliver Fraenzke, Februar 2016]