Ars Produktion Schumacher, ARS 38 189; EAN: 4 260052 381892
Sonaten für Violine und Klavier aus der großen Umbruchszeit um 1900 sind auf der neu erschienenen CD „Identity“ von Noé Inui und Mario Häring zu hören. Auf dem Programm stehen Werke von Karol Szymanowski, Claude Debussy, Erwin Schulhoff und Leoš Janáček.
Lange Zeit war der Sonate eine recht klar definierte Form zugesprochen, doch irgendwann schien das alte Formmodell ausgeschöpft und nicht mehr zeitgemäß – so wurden neue Wege gesucht. Den berühmten Umsturz initiierte wohl die h-Moll-Sonate für Klavier von Franz Liszt, die erstmals die zyklische Einsätzigkeit erprobte, welche später vielfach weitergeführt wurde, beispielsweise von Alexander Scriabin und Dmitri Schostakowitsch. Andere Möglichkeiten bieten die hier präsentierten Komponisten: Karol Szymanowski schuf ein eher klassisch anmutendes, hoch virtuoses Sonatenmodell mit drei Sätzen, dessen Kopfsatz der längste und gewichtigste ist. Claude Debussy arbeitete an sechs dezidiert „französischen“ Sonaten, die sich von der „deutschen“ Form absetzten, unter denen die Violinsonate die dritte und zugleich das letzte Werk vor seinem Tode war, ohne dass er sein Projekt hätte vollenden können. Erwin Schulhoffs zweite Violinsonate entzieht sich einer klaren Beschreibung, sie steht wie so manches seiner Werke zwischen den Stilen und weist gleichsam intensive Auseinandersetzung mit Komponisten wie Richard Strauss oder Béla Bartòk auf wie auch einschlägige Volksmusikelemente, wohingegen der bei Schulhoff oft festzustellende Jazzeinfluss hier fast vollständig zurückgedrängt ist. Die vielleicht eigensinnigste Sonate dieser Aufnahme ist diejenige von Leoš Janáček, der uns heute bedauerlicherweise nur mit sehr wenigen Werken vertraut ist wie der depressiven Klaviersonate 1. X. 1905, von welcher nach der Vernichtung durch den Komponisten zwei der drei Sätze rekonstruiert werden konnten, der Sinfonietta dank der einzigartigen Besetzung mit 14 Trompeten, dem eigenwilligen Concertino für Klavier und Kammerensemble und natürlich einigem aus seinem großen Opernschaffen. Seine einzige Violinsonate sucht vollständig neue Wege des Zusammenspiels der Duopartner, der Komponist spielt neben der mehr als ungewohnten und vorzeichenreichen Tonartenwahl mit minutiösen Verschiebungen, ungewohnten Motivübernahmen, intensivem Mit- und Gegeneinander der Melodielinien sowie solistischer Behandlung, was alles im furiosen Finale aufgipfelt und ein wahrhaft einzigartiges Modell der Formbewältigung zeugt. Zuletzt folgen Notturno e Tarantella Op. 28 von Szymanowski, was einen virtuos-repräsentativen und auch eingängigen Abschluss der CD bildet.
„Identity“ wurde nach höchsten technischen Standards aufgenommen und besticht mit einem nahezu wie ein Liveerlebnis wirkenden Klangbild von größter Unmittelbarkeit. Dem prägnant-informativen Booklettext sind Zitate der Musiker im Gespräch mit Sarah Grossert eingeflochten.
Der Violinist Noé Inui erweist sich als ein technisch ausgezeichneter Solist mit farben- und nuancenreichem Ton. Sein Klang ist recht robust. Er kann durchaus kräftig und bestimmt spielen mit Hang zur akzentuierten Rhythmisierung, vernachlässigt aber auch nicht die zarten Linien. Das Vibrato verwendet er zwar relativ häufig, und konsequent auf langen Tönen, jedoch macht er es sehr dezent mit kleinem Ambitus, so dass es zu keiner Zeit als essentiell störend oder aufdringlich empfunden wird. Sehr überzeugend bei Inui ist sein voller und strahlender Ton mit klarer Aussagekraft. An seiner Seite wirkt der durch enorme Anpassungsfähigkeit überzeugende Pianist Mario Häring mit äußerst klarem und feinem Anschlag. Sein Spiel ist leicht und schillernd, wobei auch er gegebenenfalls durchaus „in die Vollen“ gehen kann, ohne dadurch jedoch die Geige zu überdecken. Auffällig bei ihm ist eine enorme Fähigkeit, die Oberstimme über der anspruchsvollen linken Hand herauszumeißeln und auszugestalten, was ihr herrliche Singkraft verleiht. Darunter leidet jedoch in manchen Fällen leider die Unterstimme, die eigentlich auch vielerorts bemerkenswerte melodische Wertigkeit besitzt und von den hohen Lagen vollständig übertönt wird, wodurch einiges an wesentlicher Kontrapunktik verloren geht. Außergewöhnlich ist seine Makellosigkeit an den extrem leisen Stellen, wo jeder Akkord sauber abgestimmt und jede rasche Begleitbewegung noch immer huschend und rhythmisch exakt erscheint.
Als Duett sind die beiden Musiker minutiös aufeinander abgestimmt und können sich gegenseitig gut zuhören, was ihre Stimmen vielerorts verschmelzen lässt. Das Zusammenspiel ist meist ideal, nur an wenigen Passagen im Kopfsatz der Debussy-Sonate und in der bis auf 32stel-Ebene agierenden Janáček-Sonate sind die Instrumente rhythmisch minimal auseinander. Inui und Häring nehmen sich einige Freiheiten in der Partitur, was Dynamik – gerade bei Szymanowski – und Rubato angeht. Alle Veränderungen im Notenbild wirken aber natürlich und passen in den Kontext, ohne als Willkürlichkeiten aufzufallen. Insgesamt nehmen die Solisten den Titel „Identity“ sehr ernst und bringen auch ihre Persönlichkeit stark in die Aufnahme ein – alle Stücke sind mit einer individuellen Note aufgenommen und verströmen das Gefühl des innerlich Empfundenen, auf dass dem Hörer sogleich bewusst wird, wie sehr die Werke den Musikern am Herzen liegen. Das Streben nach Höherem und nach etwas „hinter“ der Musik wird deutlich und lässt das Hören zu einer sehr interessanten Entdeckungstour werden.
[Oliver Fraenzke; Januar 2016]