Archiv für den Monat: Dezember 2015

[Rezensionen im Vergleich 3b] Himmel und Hölle mit Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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Der Musikkritiker und Journalist Volker Tarnow verfasste anlässlich des 150. Geburtstags von Jean Sibelius, stattfindend am 8. Dezember 2015, die aktuellste Biographie, erschienen beim Henschel Verlag.

Eine biographische Würdigung des wohl bedeutendsten finnischen, aber schwedisch aufgewachsenen Komponisten Jean Sibelius ist eine sehr zu begrüßende Unternehmung, allein schon angesichts der immer noch spärlichen Literatur und Forschung zu dieser faszinierenden Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum. Umso erfreulicher ist es dann auch, wenn Volker Tarnow auch bislang unübersetzte finnische Quellen wie beispielsweise Tagebucheinträge mit einbezieht. Herausgekommen sei dabei, so die Verlagsinformation, eine „Biografie, die ebenso den Menschen wie den Künstler im Fokus hat und zugleich eine ganze Epoche skizziert.“

Im Großen und Ganzen betrachtet erfahren hier tatsächlich ein Künstlerleben und dessen Zeitumstände eine eingehende Betrachtung, teilweise um kleinste Details und um literarisch-künstlerische wie historische Aspekte des damaligen Europa und Skandinaviens bereichert. Mehr noch, Tarnow versteht es, in einem Stil zu schreiben, der alles andere als trocken wirkt und den Leser in einem clever inszenierten Drama um den einzigartigen Künstler und Menschen Sibelius mitzureißen versteht.

Dabei mutet es jedoch etwas befremdlich an, dass viele Stellen (vor allem zeittypische Rezensionen) mit Belegen gespickt sind, während wiederum andere Passagen es scheinbar nicht nötig haben, nachgewiesen zu werden. Anders gesagt: Tarnow spart nicht damit, Behauptungen aufzustellen, die der nachvollziehbaren Grundlage entbehren. So lautet ein Beispiel von S. 127: „Dass der Geförderte (…) drei Monate lang in Berlin blieb und Sauern mit Persiko trank, (…) schockierte Freund Carpelan und Frau Aino doch ziemlich.“ Gewitzt konterkariert Tarnow dann in Bezug auf weitere Geldspenden, die Sibelius erhielt: „(…) niemals davor und danach tätigte Finnland eine bessere Investition.“

Sätze von solcher Art finden sich immer wieder, es fängt bereits beim Inhaltsverzeichnis der chronologisch aufgebauten Biographie an, wo romantisierende und modische Begrifflichkeiten wie „Karelische Träume“ und „Beethoven-Matrix reloaded“ einzelne Abschnitte aus Sibelius‘ Leben zu versinnbildlichen scheinen. Das sind allerdings nur sprachliche Kleinigkeiten, die ins Auge fallen. Tarnow gibt sich hinter seiner plakativen Inszenierung sehr wohl alle Mühe, ein differenziertes Bild von Jean Sibelius zu zeichnen, was ihm zum guten Teil auch gelingt. Es wirkt sogar ziemlich sympathisch, einen im Grunde eher egomanischen Komponisten zu skizzieren, der es trotz aller Tiefen und Abstürze im Leben am Ende zu etwas gebracht hat. Gleiches gilt für andere gewichtige zeitgenössische Kollegen Sibelius’ und deren Haltung zu ihm. Ein überraschendes Beispiel hierzu liefert Gustav Mahler, dessen Vorurteile gegen skandinavische Musik – für einen Weltkomponisten! – hier schonungslos präsentiert werden (vgl. S.160). Was dabei immer wieder unterschwellig ins Auge fällt, ist eine recht tendenziöse Art, die immer wieder Kopfschütteln auslöst. Es geht gar nicht so sehr um den häufig kolportierten Alkoholismus des Komponisten; der Autor möchte, trotz aller literarischen Raffinesse und Reflexion, Sibelius doch als den einzig ganz großen Musiker des 20. Jahrhunderts darstellen, während alle Musiker seinerzeit, trotz aller Würdigung, diesen Status niemals erreichen können. Warum sonst sollte Tarnow solche Sätze äußern wie ganz am Ende auf S. 277: „Irgendwann wird es sich herumsprechen, dass mit ihm die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft.“ Sicherlich war Sibelius eine singuläre Erscheinung und sowohl seinerzeit als auch in der Folge einflussreicher, als es manch deutschsprachiger Musikwissenschaftler eingestehen wollte. Dennoch könnte man bei Sätzen wie dem eben zitierten meinen, es handle sich mehr um einen Anti-Adorno-Reflex als um ein differenziertes Künstlerporträt.

Auch wenn es sich hier um keine wissenschaftliche Arbeit handelt, so hat diese Biographie doch deutlich ehrgeizige intellektuelle Ansprüche. Nun werden die daraus resultierenden Erwartungen, wie man vielleicht meinen könnte, keineswegs regelmäßig enttäuscht. Stimmig etwa beschreibt Tarnow den inneren Identitätskonflikt des Komponisten, was seine schwedischen und finnischen Wurzeln anbelangt, wodurch zumindest einige Charakterwidersprüche erklärt werden können. Besonderen Wert legt der Autor auch auf Seismogramme wichtiger Freundschaften, die der Komponist Zeit seines Lebens pflegte, wie zum Dirigenten Robert Kajanus. Doch sind auch diese Versuche nicht gänzlich frei von Überzeichnungen, zumal auch hier oftmals von einem Sibelius die Rede ist, der sich aller Förderung zum Trotz als undankbarer, zugleich auch eifersüchtiger Künstler und Freund erwies, wohingegen Kajanus offenbar von unendlicher Gutmütigkeit war (siehe etwa S. 165).

Erwähnenswert sind auch die musikalischen Analysen seiner Symphonien sowie zahlreicher anderen Opera. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf Gelegenheitswerke, Kammermusik sowie Bühnen-Auftragswerke wie Kuolema oder die vielgespielte Karelia-Suite. Nicht zu vergessen sind die Beschreibungen seiner zahlreichen Liederzyklen, wobei Tarnow gerne das literarische Milieu der Liedtexte in Augenschein nimmt, dabei auch kompetente Einblicke in skandinavische Lyrik gibt. Sieht man auch hier von dem Eindruck, Sibelius immer wieder alleingültig zu glorifizieren, sowie der ziemlich blumigen Wortwahl ab, so kommen doch auch für gestandene Sibelius-Experten einige neue Erkenntnisse ans Tageslicht. Gerade in den Beschreibungen der Symphonien verfolgt Tarnow einen roten Faden, an dem sich Sibelius’ künstlerischer Werdegang ablesen lässt, und liefert informatives, aber niemals langweilendes Wissen beispielsweise zur Fassungs- und Deutungsproblematik der 5. Symphonie in Es-Dur Op. 82. Gleichzeitig findet sich auch hier wieder das oben beschriebene Problem: Tarnow behält seinen fantasievollen, ja kapriziös interpretierenden Erzählstil auch in den Analysen bei, wodurch bisweilen ein religiös verbrämter Beigeschmack entsteht (vgl. S. 227: „Sie [die Sinfonie Nr.5] verweist auf Kräfte, die größer sind als der Mensch, von ihm aber geahnt und ehrfürchtig bewundert werden können.“).

Als Fazit ist zu vermerken, dass die vorliegende Lektüre in ihrem Inhalt mit Bedacht zu genießen sei. Doch ist Tarnows schillernder Beitrag zum Jubiläumsjahr im Großen und Ganzen lohnend und verdienstvoll und möge die Beschäftigung mit Sibelius sowie dessen wissenschaftliche Würdigung gerade auch nach dem Jubiläum noch weiter vorantreiben!

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3a] Das Leben des Jubilars

Volker Tarnow
SIBELIUS
Biografie

Henschel-BärenreiterVerlag 2015

ISBN 978-3-89487-941-9 (Henschel)
ISBN 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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„Gott aber öffnete seine Tür für einen Augenblick – und sein Orchester spielte … VALSE TRISTE“  (S. 277)

Volker Tarnow, der ja schon zusammen mit Helga Schönweitz ein sehr informatives und lesenswertes Buch schrieb mit dem Titel „Das Romantische Schweden“, legt diesmal hier ein Werk über Finnland vor, besser über Finnlands bekanntesten und für das heutige Konzertleben bedeutendsten Komponisten, Jean Sibelius.
Anders als das sehr voluminöse und nicht immer einfach zu lesende Sibelius-Kompendium von Tomi Mäkelä (Breitkopf & Härtel, 2007) ist Tarnow hier eine Biographie gelungen, die sich herrlich leicht liest – auch deswegen, weil die Anmerkungen hinten einen eigenen Platz im Buch bekommen und so der Lesefluss nicht unterbrochen wird.
Nach diesen Ausführungen über Sibelius‘ Leben und dessen Begleitumstände habe ich noch mehr Lust, mich mit dem einzigartigen Werk dieses Komponisten – von dem mir bislang (abgesehen von einigen der vielgespielten Werke wie dem Violinkonzert) recht wenig bekannt war – intensiver zu befassen. Wie gut, dass da unlängst gerade bei ARTE die Aufführung der 1. Symphonie mit den Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle zu sehen war, der alle großen symphonischen Werke des Finnen bereits auf CD einspielte. Die Reihe im Fernsehen soll fortgesetzt werden – hoffentlich. Denn das Lesen der Noten, das unter anderem mit der leider sehr teuren, erst vor kurzem erschienenen Gesamtausgabe bei Breitkopf möglich gemacht wird, wird wunderbar ergänzt durch das Anschauen der Orchester-„Arbeit“ am Bildschirm.
Tarnow erzählt die Lebens- und die Zeitgeschichte mit leichter Hand, manchmal fast zu anekdotisch flott, dafür liest sich alles eingängig, und man bekommt nicht nur trockene Daten oder Fakten zur Musik, sondern auch die entsprechenden – oft feuchtfröhlichen – Hintergründe mitgeliefert. Gerade, dass Sibelius ein großer Raucher und Trinker vor dem Herrn war – eine zeitweilige Abstinenz wurde bald wiederaufgegeben – und wie die Zusammenhänge zwischen Jugendzeit, Ausbildung und Familienleben das Komponieren wieder und wieder beeinflussten und auch oft irritierten, wird so dargestellt, dass das finnische Urgestein unbändig hervortritt.
Auch die überbordende Reiselust in den frühen und mittleren Jahren, oft aus dem Zwang heraus, woanders als zu Hause gerechter beurteilt und anerkannt zu werden, nimmt entsprechenden Raum ein.
Am hervorstechendsten sind natürlich die Beschreibungen der Musik, wobei Tarnow trotz seines Studiums nicht davon ausgeht, dass die Leserin oder der Leser alle Fachausdrücke versteht, also sind sie kurz und bündig erklärt. Der Überblick über Sibelius’ Kompositionen auch im Zusammenhang mit seinen Zeit- und Landesgenossen – seien es Musiker oder Maler, Dichter oder andere Musengeküsste – ist bemerkenswert und lässt darauf schließen, dass Tarnow „seinen“ Sibelius sehr genau kennt und schätzt.
Insgesamt ein Buch, das eine ideale Lektüre zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius am 8. Dezember 2015 bildet. (Den wir mit „meinem“ Ensemble „DIE ALTEN RÖMER“ und einigen Gästen mit oben erwähntem „VALSE TRISTE“  zu feiern vorhaben.)

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Musik für Bauch und Seele mit Spaßgarantie

Cpo 777 875-2; EAN: 761203787524

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Manche Familien sind über Generationen hinweg der Musik verbunden. Die Familie Jurowski ist so eine Familie: Opa Vladimir – Komponist, Sohn Michail – Dirigent, Enkel Vladimir – ebenfalls Dirigent (wurde kürzlich unter etwas merkwürdigen Umständen zum Chef des RSO Berlin erklärt). Schön ist es, wenn sich die Generationen quasi die Hand reichen, so, wie auf diesem neuen Album des Labels cpo.

Michail Jurowski dirigiert hier zwei sehr reizvolle Werke seines Vaters Vladimir Jurowski. Jener war bei niemand Geringerem als Nikolai Mjaskowski in die Lehre gegangen, der bekanntlich zu den zwar noch immer vernachlässigten, nichtsdestotrotz aber bedeutenden Sinfonikern Russlands im 20. Jahrhundert zählte. Mjaskowski (der selbst bei Glière, Liadow und Rimsky-Korsakow studierte) hat einige der wichtigsten Komponisten der UdSSR ausgebildet, darunter u.a. Aram Chatchaturjan, Dmitri Kabalewski und Boris Tschaikowsky. Wer in Mjaskowskis Kompositionsklasse ging, der hatte auf jeden Fall Chancen auf eine Karriere in Sowjetrussland.
Vladimir Jurowski hingegen verstarb früh, und sein Œuvre geriet vielleicht auch deswegen in Vergessenheit. Zugegebenermaßen ist die auf diesem Album zu hörende fünfte Sinfonie und die Kollektion „sinfonischer Bilder“ die den neugierig machenden Titel „Russische Maler“ trägt, auch kompositorisch nicht dasselbe Niveau wie man es bei den prominenteren Schülern Mjaskowskis finden kann. Auch das ausführende Norrköping Symphony Orchestra lässt in fast allen Orchestergruppen durchscheinen, dass es nicht zur Elite der nordeuropäischen Sinfonieorchester gezählt werden kann, wenngleich es sich sehr erfolgreich bemüht, seine allerdings allzu offensichtlichen Schwächen vergessen zu machen.
Trotz dieser Einschränkungen möchte ich diese CD mit russischer Sinfonik jedem wärmstens ans Herz legen, der sich für tonale russische und nordeuropäische Orchestermusik des 20. Jahrhunderts begeistern kann. Warum? Weil diese Platte einfach Laune macht!
Diese CD ist schlicht und ergreifend eine große Spaßmaschine: Diese einfach klasse klingende Musik, die sofort ins Ohr geht, riesig besetzt und sehr effektvoll in Szene gesetzt, diese Anklänge an die Musik von Jurowskis Zeitgenossen, die eine Vergleichbarkeit mit Werken etwa Kurt Atterbergs, Gavriil Popovs oder in Teilen auch Dmitri Schoastakowitschs durchaus erlauben. Das ist einfach so unterhaltsam, dass man dran bleibt, und es verliert auch nach einigen Durchläufen keinen Reiz – was wiederum durchaus für die Kompositionen spricht.
Die fünfte Sinfonie ist riesig besetzt, inklusive einer megalomanisch eingesetzten Kirchenorgel im – am wenigsten überzeugenden – letzten Satz. Am meisten begeistert mich der erste Satz mit seiner sinistren Hintergründigkeit, seinem effektvollen Dynamikspektrum, den schlau eingesetzten Bläserpartien, den nachtglänzenden Streichern und dem „schostakowitschesken“ Schluss. Das hat man zu Jurowskis Zeit in den USA auch nicht besser oder effektvoller gemacht.
Leider fallen die beiden anderen Sätze der Sinfonie im Vergleich zum ersten etwas ab, was die Jurowski-Fünfte im Endeffekt daran hindert, zu den wirklich großen Werken ihrer Zeit gezählt werden zu können.
Die „Russischen Maler“ sind im Vergleich zur Sinfonie geradezu brav, was wohl auch die Bilder gewesen sein mögen, die der Komposition zum Vorbild dienten – zumindest legen deren Titel das nahe. Bilder, die Titel tragen wie „Iwan Tsarewitsch reitet den Grauen Wolf“, „Winterszene“ oder „Porträt einer unbekannten Frau“ klingen dann eben musikalisch entsprechend.
Ein Fazit für diese CD zu ziehen ist also alles andere als einfach: Einerseits haben objektiv betrachtet weder die Werke noch die Interpreten eine unumwundene Empfehlung verdient, andererseits macht dieses Album einfach so viel subjektiven Spaß, dass ich es immer wieder in den CD-Player schiebe und mich daran erfreue. Wer also den Kopf ausschalten kann, bekommt hier Musik für Bauch und Seele mit viel russischem Flair und einer 1A-Spaßgarantie.

[Grete Catus, November 2015]

Pfiffige Bläser auf Pionierreise

Arcana A 391, ISBN: 3 760195 733912

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Das Bläserensemble Zefiro spielt unter Leitung seines Gründers Alfredo Bernadini Werke von Michael und Franz Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Friedrich Witt, Gioacchino Rossini, Gaetano und Giuseppe Donizetti, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Schubert und Louis Spohr.

Nicht ohne Augenzwinkern wird man schon den Titel der vorliegenden CD des Labels Arcana, nunmehr Teil des Outhere music-Imperiums, zur Kenntnis nehmen. Dabei ist es ein durchweg seriöses Anliegen, welches der versierte Oboist Alfredo Bernadini mit einigen Gleichgesinnten hier zum Ausdruck bringen möchte. Es handelt sich, wie man dem sehr ausführlichen und historisch fundierten Booklettext Bernadinis entnehmen kann, um zweierlei: Zum einem um die Tatsache, welch eigenständige, aber gerne unterschätzte Rolle Bläserensembles und -orchester in der Musikgeschichte spielten; zum anderen um die Faszination des neuzeitlichen Europa für morgenländische Exotismen in der Kunst, die generell als „Türkerien“ bezeichnet wurden. Beide Phänomene, sowohl an und für sich als auch in der Symbiose, interessierten diverse namhafte Komponisten, und die daraus resultierenden künstlerischen Ergebnisse haben nun Bernadini und dessen Zefiro-Ensemble zu einem Konzeptalbum vereinigt.

Den Start dieser Pioniertat, die im Januar diesen Jahres in der Gustav Mahler-Halle in Toblach mitgeschnitten wurde, macht Michael Haydn mit einem Türkischen Marsch für Bläser. Dafür, dass dieser Meister oft auf die Rolle des Salzburger Dommusikmeisters eingeschränkt erscheint, beweist der Marsch erstaunliche Frische und Einfallsreichtum, was die Zefiri mit Neugier und Spielfreude direkt umsetzen. Einen angenehmen Kontrast dazu bietet die Introduzione zum zweiten Teil der Sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuze von Franz Joseph Haydn in einer Fassung für Bläser. Sehr zu loben ist bei den authentischen Instrumenten und deren Nachbildungen das Wiener Kontrafagott von Augustin Rorarius, welches Maurizio Barigione rein und stimmig beherrscht, was gerade bei historischen Instrumenten und deren Stimmung nicht selbstverständlich ist.

Insgesamt ist es der reizvolle Wechsel zwischen Wiederentdeckungen und „Altbekanntem“ (in neuem Gewand), was die CD so lohnenswert macht. Hierzu trägt ein weiterer Komponist im Schatten seines prominenten Bruders bei: Giuseppe Donizetti. Zwar musste Bernadini dessen Marsch für Mahmud in F-Dur entsprechend bearbeiten, doch ist dies eine von zwei Ausnahmen auf der CD, zumal es sich hier um Musik handelt, die sich nicht hinter dem Werk Gaetanos zu verstecken braucht.

Vor allem jedoch ist es der musikalische Anspruch, den Bernadini und seine Musiker bei aller Liebe zu historischen Details verfolgen. Besonders beim Concertino für Oboe und Harmoniemusik von Friedrich Witt – lange fälschlicherweise Carl Maria von Weber zugeschrieben – beweisen die Mitwirkenden, dass sie mehr können als nur musikalische Baisers zu bieten. Mit Leichtigkeit, Ernst und Sinn für das Konzertante geben sie dieses Kleinod wieder.

Auch ein Nocturno in C-Dur MWV P.1 Felix Mendelssohn-Bartholdys, das dieser mit gerade 15 Jahren schrieb, weist eine ähnliche Großanlage auf. Wenn hier das Allegro vivace eintritt, macht sich der Begriff „Harmoniemusik“ auf andere Art bemerkbar: Mit stetem klanglichen Zusammenhalt präsentieren die Zefiri einen symphonischen „Frühwurf“ des Komponisten, der trotz seiner großen Anlage keineswegs überladen, sondern transparent und durchdacht wirkt. Lediglich an einigen leisen Stellen vergreift sich die Flöte mal, doch wäre es kleinlich, daraus ein großes Manko zu konstatieren.

Gelegenheit zur solistischen Gestaltung erhalten die Hornisten Dileno Baldin und Francesco Meucci in den ersten zwei Minuten der Kleinen Trauermusik Franz Schuberts D 79. Gerade für alte Hörner ist es nicht leicht, einen sauberen und musikalischen Duktus zu finden, zumal in einer Tonart wie es-Moll. Das gelingt den beiden Musikern hier jedoch tadellos. Im gemessenen Grave-Rhythmus und unsentimental formen sie diese Trauermusik, auch zusammen mit anderen Bläsern, als schönen Gegenpol zum vorhergehenden Nocturno. Nichtsdestoweniger ist es die eher heitere Seite, die das Ensemble Zefiro insgesamt hauptsächlich vertritt, so auch beim großen Abschluss der CD, dem Notturno Op. 34 von Louis Spohr. Nicht umsonst erinnert der erste Satz in C-Dur dieses sechssätzigen Werkes wiederum an Haydns Türkischen Marsch. Umso differenzierter komponiert ist das folgende Menuetto allegro, in c-Moll stehend, zugleich auch beschwingter. Ganz im Stile seiner Zeit klingt das Thema des dritten Satzes, eines Andante von variazioni. Und gerade hier zeigen die einzelnen Musiker, wie viel Leben, Virtuosität und Facettenreichtum sie aus ihren Instrumenten hervorlocken können, zumal man nicht unbedingt den Eindruck bekommt, es handle sich hier um radikale „historische Aufführungspraxis“.

Keine Türkerie, aber sehr wohl ein historischer Exotismus ist die folgende Polacca mit Trio, und auch hier fehlen niemals die Spielfreudigkeit und klangliche Ausgewogenheit des Ensembles. Geht man davon aus, dass ein Nocturno eher ruhig und dunkel zu klingen habe, so erfüllt diesen Stereotyp am ehesten das darauffolgende Adagio, welches die Zefiri mit gleichmäßigem Fluss sowie mit Ernst ohne Schwere zu spielen vermögen. Doch schließt Bernadini seinen Booklettext nicht umsonst mit folgendem Satz: „Es mag überraschen, dass so viele laute Instrumente für eine Nocturne vorgesehen sind… Aber wer sagt denn, dass die Zeit der Nacht beständig ruhig sein soll?“ Die Antwort liegt im letzten Track der CD, dem Finale vivace, einem Rondo. Darin offenbaren die Musiker, vor allem die Klarinetten, nochmals ihr ganzes technisches und musikalisches Können, ohne dabei zu eilig oder gar lärmend zu klingen, und beschließen somit ihre pfiffige Pionierreise durch die Zeit, die zugleich ein kleiner Beitrag zum eher vernachlässigten Repertoires ist, würdevoll ab.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Mit Wort und Ton

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Die junge italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini spielt am 28. November 2015 im Bürgerhaus Eching ein Klavierrezital, welches aufhorchen lässt. Sie beginnt mit der hochvirtuosen Fantasie C-Dur Op. 17 von Robert Schumann und lässt die erste Ballade in g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin folgen. Nach der Pause gibt sie eine weitere Fantasie in C-Dur, nämlich die „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760, von Franz Schubert, und der Kreis schließt sich mit „Les cloches de Genève“ und „La Vallée d’Obermann“ aus „Les Années de Pélerinage“ von Franz Liszt, dem die Schumann-Fantasie gewidmet ist.

„Die Suche nach einer neuen Art des Hörens“ nimmt sich Ottavia Maria Maceratini zur Aufgabe, wie sie in ihrem kurzen, sehr inspirierenden Vorwort zu ihrem Rezital im Echinger Bürgerhaus verlautbart. Auf diesem Weg will sie experimentieren und Neues ausprobieren. So macht sie es auch an diesem Abend, wo sie neben der Musik auch die Bühnenatmosphäre stimmig ausgestaltet: Nach hinten ist die Bühne mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet und das Licht im gesamten Saal ist extrem heruntergedimmt, dafür leuchtet oberhalb des Flügels für jedes Stück ein neues Zitat aus dem Mund des jeweiligen Komponisten auf, welches sie sorgfältig dafür ausgewählt hat.

Das Programm macht staunen, gleich zu Beginn fesselt eines der ganz großen Werke von Robert Schumann, seine Fantasie C-Dur Op. 17. Zwischen 1836 und 1838 komponiert, zählt die dreisätzige Fantasie zu den bekanntesten Werken Schumanns und verlangt neben höchster Virtuosität auch ein genauestes Verständnis des musikalischen Verlaufs und ein gewisses untergründiges Gespür für die Musik Beethovens, die er mehrfach zitiert. Ottavia Maria Maceratini beweist eine unglaublich gute Kenntnis aller einzelnen Stimmen in dieser Fantasie, die jede zum Leben erweckt wird und deren keine zur bloßen Begleitfloskel degradiert ist – besonders anschaulich lässt sich dies im Intermezzo „Im Legendenton“ des Kopfsatzes erkennen, welches mit einer überwältigenden Stimmpolyphonie in vollkommen unterschiedlichen Spielweisen aufwartet. Die Pianistin besitzt einen äußerst feinfühligen, gesanglichen Ton und lässt ihre Kantilenen in höchsten Sphären schweben, ist aber auch ebenso in der Lage, machtvoll in die Tasten zu langen und ein markerschütterndes Fortissimo hervorzubringen. Dieses wirkt zu keiner Zeit geschlagen oder gewalttätig akzentuiert, sondern folgt viel eher einer natürlichen Energieübertragung aus dem Körper, was Maceratini wohl ihrem intensiven Training von asiatischen Kampfsportarten zu verdanken hat, wo genau diese Weiterleitung der Kraft aus dem Körperzentrum oberste Priorität besitzt.

Bei dem folgenden Werk, der Ballade Nr. 1 g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin, hatte ich bereits häufiger das große Glück, es mit der dieser Musikerin hören zu dürfen. Auch spielte sie es dieses Jahr in Bild und Ton ein und ließ es auf YouTube erscheinen, womit sie geradezu einen absoluten Maßstab setzte. Nun hat die Darbietung dieses Meisterwerks direkt noch einmal an musikalischer Substanz gewonnen, es wirkt als komplette Einheit in fließender Stringenz ohne einen Moment des Spannungsabfalls. Noch nie habe ich die donnernden Schlussläufe so schreiend wild und gleichzeitig so niederschmetternd erlebt wie jetzt, so fokussiert drängten sie auf ihren Abschluss hin (ein Gestus von vergleichbar starker Wirkung findet sich auch noch in der Etüde Op. 33 Nr. 8 von Sergej Rachmaninoff, die ebenfalls in g-Moll steht). Deutlich wahrnehmbar sind auch die Walzeranklänge, die immer wieder durchbrechen und in so vielen Darbietungen komplett verlorengehen. Obwohl Ottavia Maria Maceratini vermutlich erheblich mit dem schwerfälligen Instrument zu kämpfen hatte, waren keine Einschränkungen zu spüren.

Gleich nach der Pause erklang ein weiterer Gigant der Musikgeschichte, Franz Schuberts so beliebte wie gefürchtete „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760. Es wirkt, als wäre sie nicht aus Schuberts Zeit, so fortschrittlich modern erscheint die Gestaltung und Fortspinnung des Materials. Die Themen und Motive lässt Ottavia Maria Maceratini auch inmitten des dichtesten Notenbildes noch hervorglänzen und gestaltet alles in feinster Manier aus, die virtuosesten Läufe und Figuren kommen perlend brillant und ohne den geringsten Hauch einer vernehmbaren Anstrengung, und stetig bleibt der große Zusammenhang durch diese Gesamtform in mehreren Teilen hindurch gewahrt. Zwar möchte sich auch hier der Flügel wieder wehren gegen das Donnern der mächtigen Akkordpassagen, doch wird er gebändigt und das Maximum an nur erdenklichen Klangfarben herausgezaubert. Nach dem Konzert eröffnet mir die Solistin, sie übe bereits seit einem Jahr an diesem großen Werk, doch sei ihr Weg damit noch lange nicht an einem Ende – auch wenn der heutige Abend nur eine Zwischenstation auf diesem Weg ist, so liegt auf jeden Fall ein größerer Weg bereits hinter ihr, als ihn die meisten Pianisten jemals beschreiten werden.

Zwei Werke des großen Klaviervirtuosen Franz Liszt, des Paganini auf dem Klavier, bilden den letzten Teil des Klavierrezitals. Die Nocturne „Les choches de Genève“ ist ebenso wie die Wanderer-Fanzasie komplett der Zeit voraus und wirkt eher wie ein Werk des französischen Impressionismus. „La Vallée d’Obermann“, ebenfalls aus Les Années de Pélerinage (Die Pilgerjahre), einem dreibändigen Werkzyklus bestehend aus 26 Stücken, bildet den Abschluss. Das letztere ist ein mit circa 15 Minuten Spielzeit auch recht umfangreiches Werk und wird vor allem durch Akkordrepetitionen und später auch Oktavparallelen bestimmt. La Vallée d’Obermann zu verstehen ist keine einfache Aufgabe, denn es ist sehr dicht und in einer nur schwerlich heraushörbaren Form gestaltet. Ottavia Maria Maceratini gelingt es allerdings, für beide Liszt-Stücke ein tiefgehendes Verständnis zu entwickeln und die beiden so grundverschiedenen Konzepte dahinter zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln. Auch wenn mir selber La Vallée d’Obermann noch etwas sehr donnernd und über manche Strecken recht langatmig erschien, so scheint mir das doch hauptsächlich am Stück zu liegen und nicht an der Solistin.

Als Zugabe gibt es noch Aram Khachaturians Toccata in es-Moll von 1932. Auch dieses Bravourstück nahm Ottavia Maria Maceratini vor längerer Zeit bereits auf Video auf und es ist heute auf YouTube zu bewundern. Akzentuierte Rhythmik und ständige Tonrepetitionen treiben diese Toccata einem Motor gleich an, nur unterbrochen von einem konfliktrhythmenreichen kurzen Mittelteil. Das unaufgelöste Ende auf einem stark dissonanten Akkord hinterlässt den Hörer fragend, doch eine Antwort kann es nicht geben. Ottavia Maria Maceratini nimmt die Toccata schwungvoll und fast scherzhaft, ohne zu viel Kraft in die Motorik hineinzugeben, was ihr etwas Leichtes, fast Tänzerisches verleiht. Diese Leichtigkeit verliert sie auch zum Ende hin zu keiner Zeit und lässt unvermittelt in die Schlussakorde hereinbrechen, die sie nicht auskostet, sondern vielmehr den Hörer verdutzt zurücklässt. Diese Art des Zuendekommens habe ich bei dem Stück so noch nie gehört und mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was es so einzigartig machen konnte – doch wie das Stück selber gibt auch diese Frage keine Antwort her.

Am Ende ist wohl jeder Hörer im Bürgerhaus Eching im positiven Sinne überrumpelt, erschöpft und glücklich über einen so intensiven musikalischen Abend mit einer absoluten Ausnahmepianistin, die mit einer so freudigen und hellen Art an die Werke geht und immer voll dabei ist, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde etwas anderes im Kopf zu haben als die Musik. Sie sucht einen neuen Weg des Hörens und diesen beschreitet sie auf ganz eigentümliche, phänomenale Weise. In einem Alter, wo sich die meisten nur an hochvirtuosen Höchstschwierigkeiten abschinden und die Geschwindigkeit ihrer Finger präsentieren, ist Ottavia Maria Maceratini bereits so gereift und ihrer selbst bewusst, dass sie all das nicht nötig hat; sie vertraut der Musik und sie vertraut ihrer Suche, die sie wohl immer weiter führen wird in das Herz der Musik. Da bleibt nur, gespannt zu sein, mit was noch allem sie uns überraschen wird, welche Pläne sie als Nächstes hat und welch einen unverwechselbar unmittelbaren Zugang sie uns noch schenken wird hinein in die wahre Musikalität.

[Oliver Fraenzke, November 2015]