„In der Fremde“

Linn Records CKD 474; ISBN: 6 91062 04742 5

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Zum wiederholten Mal gibt der der englische Tenor James Gilchrist seiner treuen Mitstreiterin an den Tasten, Anna Tilbrook, die Ehre einer neuen Einspielung – nach etlichen Aufnahmen mit Gesängen von Britten, Schubert, Leighton, Berkeley und anderen diesmal mit Liederzyklen des deutschen Romantikers Robert Schumann. Auf die beiden Liederkreise Op. 24 nach Texten von Heinrich Heine und Op. 39 über Gedichte Joseph von Eichendorffs folgt die Vertonung von Heines berühmter Dichterliebe als Op. 48.

Siebenunddreißig Gesänge umfasst die CD mit Robert Schumanns Liederzyklen, die vom Tenor James Gilchrist und der Pianistin Anna Tilbrook vorgetragen werden. Eine erstaunlich hohe Anzahl, wenn man bedenkt, wie vielseitig doch jedes dieser Lieder an sich schon ist – und entsprechend, wie viele unterschiedliche Nuancen in all diesen kleinen Formen entdeckt werden müssen, um der abenteuerlichen Bandbreite menschlicher Emotionen darin gerecht zu werden. Das Zusammenspiel wird teils auf harte Proben gestellt, viele rhythmischen Feinheiten werden verlangt, auseinanderstrebende und parallel verlaufende Melodielinien müssen sanglich abgestimmt werden und auch der Zusammenhang innerhalb der Zyklen ist zu wahren.

Mit James Gilchrist hat Linn Records einen erstklassigen Tenor gefunden, dessen Repertoire sowohl Lieder als auch Opern, Oratorien und Messen verschiedenster Epochen vor allem aus England und dem deutschsprachigen Raum umfasst. Seine Stimme ist unverkennbar markant mit einem recht weiblichen Timbre und einer gewissen Zartheit, die jedoch auch gelegentlich in Furor geraten kann, sofern es das Lied erfordert. Zugegebenermaßen ist sein Klang anfangs wahrlich ungewohnt und wird vermutlich auch einigen Hörern begrenzt angenehm erscheinen, doch wenn man sich einmal an diese unverwechselbare Stimme gewöhnen konnte, lernt man schnell ihre besonderen Qualitäten zu schätzen. Gilchrist vermag es, sich minutiös in alle noch so feingliedrigen Lieder einzufühlen und die idiomatisch herausgearbeiteten Stimmungen nachvollziehbar weiterzuvermitteln. Deutlich aufmerksam wird der Hörer darauf zum Beispiel im „Waldesgespräch“ aus dem Liederkreis Op. 39, wo Gilchrist glaubhaft die beiden Dialogpartner verkörpert und es ihm darüber hinaus auch noch gelingt, den Wandel des unschuldigen Fräuleins in die gleich männlicher und überlegen wirkende Loreley auszugestalten. Erstaunlich ist, wie exakt die Aussprache des englischen Tenors im Deutschen ist, zu keiner Zeit scheint es, als wäre es nicht seine Muttersprache (meine Recherchen, ob irgendein Bezug zu Deutschland besteht, ergab bisher keine bestätigenden Resultate). Manchmal ist bedauerlicherweise sein Atmen unerwarteterweise derart laut und durch die Zähne zischend, dass es fast wie in die Gesangsstimme einbezogen scheint – vor allem in „Ich grolle nicht“ -, wobei dies glücklicherweise nur in den wenigsten Liedern auffällt. Äußerst angenehm ist dafür, dass James Gilchrist komplett auf sonstige künstlichen Manierismen und erkennbar unechte Verstellung verzichtet, sondern lediglich die auch tatsächlich in den Noten befindliche Rolle ohne jegliche störenden Beifügungen verkörpert.

Dem Tenor zur Seite agiert Anna Tilbrook am Klavier, die bereits seit 1997 mit Gilchrist zusammenwirkt, was unzählige Tonträger künstlerisch belegen. Zweifellos lässt sich feststellen, dass die Pianistin eine erfahrene und routinierte Kammermusikerin ist und viel mit Sängern gearbeitet hat. Ihr Spiel ist klar und perlend mit einem großen Maß an Zurückhaltung. Dies hat natürlich zur Folge, dass sie oft in die reine Begleiterrolle abrutscht anstelle eines gleichwertigen Klavierparts und somit die Singstimme teils nicht unterstützend tragen kann – worauf Gilchrist allerdings auch wenig angewiesen ist und sich in der alleinigen Dominanz bestens zurechtfindet. Meist kann sich Tilbrook auch aus der Tiefe heraus den melodiösen Linien ihres Sängers anpassen und einen stimmigen Widerpart bilden. Jedoch, wie so häufig in routinierten Konstellationen, „singt“ das Klavier vielerorts zu wenig, sondern exekutiert, statt melodiöse Aufschwünge zu erleben, eher die Noten. Gerade bei Staccatostellen, die eindeutig zu kurz sind und von keiner Gesangsstimme so schnell weggerissen werden können, holpert das Zusammenwirken dabei etwas. Jedoch hält sich auch Anna Tilbrook genauestens an den Notentext und versteht es in den meisten Fällen, die Gefühlslage in Tönen wiederzugeben und einige Textstellen ohne übertriebenen Effekt abzubilden. Auch den unpianistischsten Passagen wird sie mühelos gerecht und meistert alle rhythmischen Delikatessen im Zusammenspiel mit dem Tenor ohne je zu stocken. Die Tempowahl ist fast durchgehend äußerst angenehm, beide Musiker vertrauen vor allem den ruhigeren und innigeren Tempi ohne die viel zu oft vertretene Angst, der Fluss könne ins Stauen geraten – was sich hier als eine gute Wahl erweist, denn gerade den langsamen Liedern wohnt eine große Spannung inne, die erst durch zurückgenommenere Geschwindigkeit so greifbar wird.

Abgesehen von den erwähnten Atemgeräuschen ist der vergleichsweise trockene Klang der Aufnahme sehr angenehm zu hören, qualitativ wie wohl die meisten Aufnahmen der letzten Jahre sehr hochwertig. Der CD liegt ein äußerst umfangreiches Booklet auf Englisch bei, das neben allen Texten inklusive Übersetzung ins Englische von Richard Strokes auch einen langen Text aus der Feder von Nicholas Marston bietet, in dem der Autor neben Einführungen in die Liederzyklen auch einige Fragen beantwortet, wie beispielsweise die Definition eines Liederzyklus laute oder was es mit dem Wort-Ton-Verhältnis auf sich habe.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

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