Archiv für den Monat: Oktober 2015

Bekannte und Unbekannte Musikergrößen

Auf dem Programm des großen Festkonzertes zum zehnjährigen Bestehen der Blutenburg Kammerphilharmonie München stehen Haydns finale Symphonie Nr. 104 in D-Dur mit dem Beinamen „London“ sowie die erste Symphonie in C op. 62 von Egon Wellesz. Der Abend des 25. Oktobers 2015 fand in München im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 Nähe Schloss Nymphenburg statt, als Dirigent für das Jubiläum konnte der Leiter der Gründungszeit gewonnen werden, Jörg Birhance.

Für das große Gründungsjubiläum hat sich die Blutenburg Kammerphilharmonie München ein mehr als gewagtes Programm ausgesucht und dies gleich auf mehrere Ebenen. Wird dem Publikum die unbekannte Symphonie gefallen, die an diesem Abend erst zum dritten Male aufgeführt wird? Und wird das Orchester überhaupt diesem musikalischen Schlachtschiff gerecht, dass von einem Laienorchester fordert, woran manche ausschließlich aus Berufsmusikern bestehende Klangkörper lange feilen müssten? Die Symphonie Op. 62, deren Randsätze in c-Moll notiert sind, aber jeweils in C-Dur enden, und deren Mittelsatz in g-Moll vorgezeichnet ist, ist zweifelsohne eine große Herausforderung an die Musiker und den Dirigenten: Der bei oberflächlicher Herangehensweise pompös erscheinende erste Satz mit seinem eingängigen Thema fährt ungeahnt dichte und polyphon eng geführte Unterstimmen auf, die zu verstehen und dann auch noch auszuführen eine Sisyphusarbeit darstellt; der zweite Satz wartet mit durchgehenden Quintolen auf und verlangt größte Virtuosität und Gewandtheit aller Beteiligten; das Finale schließlich, ein scheinbarer Abgesang auf allen Trubel zuvor, in dem aber doch große Kulminationen stattfinden, eröffnet ganz neue Klangsphären – offenkundig an den späten Mahler mag es erinnern oder auch etwas an Bruckners Neunte, jedoch ist er formal viel geschlossener und durch seine Kürze prägnanter als Mahler. Hier schließlich ist einmal das volle Blech gefordert, das mit vier Hörnern, je drei Trompeten und Posaunen sowie Tuba die Bühne gut ausfüllen kann. Warum dieses herausragende Erstlingswerk in Wellesz’ Symphonik sowie der Komponist selber so unbekannt blieben, ist ein wahres Rätsel. Wellesz, der sowohl im Bereich der Musikwissenschaft mit Guido Adler als auch in der Komposition mit Arnold Schönberg ausgezeichnete Lehrer vorzuweisen hat, schuf trotz seines späten Beginns innerhalb des Genres (mit knapp sechzig Jahren) neun Symphonien (wie sollte es anders sein!), konnte aber auch vorher bereits eine große Anzahl an Orchesterwerken und Opern sowie eine Fülle an Kammermusik hervorbringen. Der Stil des Wellesz, der auch auf dem Gebiet der byzantinischen Musik als Experte zu bezeichnen war, ist trotz der Studien bei Schönberg keineswegs der Dodekaphonie verpflichtet, sondern konzentriert sich auf eine höchst interessante und dennoch äußerst ansprechende freie Tonalität, die durch seine außergewöhnliche Gabe im Gebiet der Orchestration in vielfarbigem Licht erstrahlt. Zwei Jahre nach der Komposition wurde die erste Symphonie 1947 von Sergiu Celibidache und den Berliner Philharmonikern aufgeführt, ein Jahr später folgten die Wiener Symphoniker unter Joseph Krips – danach endete die Rezeptionsgeschichte abgesehen von einer sehr schwachen CD-Einspielung, der nicht einmal eine Aufführung und auch keine angemessene Einstudierung vorangingen – bis heute!

Die Blutenburg Kammerphilharmonie München spielt im Großen und Ganzen frappierend souverän. Natürlich ist manch eine Unsauberkeit oder Asynchronität zu hören oder hin und wieder einmal ein Kieksen, doch für die Verhältnisse eines Laienorchesters liegt eine überragende Leistung vor. Der große Mann des Abends allerdings ist Jörg Birhance, der das Orchester 2005 auch gegründet hat und bis 2011 leitete. In jedem Takt ist die Arbeit unverkennbar, die er mit dem Orchester verrichtet hat, so dass die nicht erreichbare technische Perfektion der Instrumentalisten durch die kammermusikalische Bewusstheit wettgemacht wird. Was dieser Dirigent aus dem Klangkörper herausholen kann, ist wahrlich mehr als erstaunlich! Beim großzügig besetzten Haydn lässt er einen sehr klaren Gestus vorherrschen, so dass die Form ganz genau ersichtlich wird und auch die satztechnischen Feinheiten der letzten Symphonie des Meisters der Wiener Klassik bloßliegen. Bei Wellesz legt er großen Wert auf die vielen Unterstimmen, von denen ein beachtlicher Anteil ans Licht treten kann, und auch hier ist die Form kristallklar: Die Fuge in der Mitte des Kopfsatzes beginnt so sprichwörtlich, dass sofort klar ist, dass nun nichts anderes hätte kommen können. Besonders bei diesem Kopfsatz wird die enorme Anstrengung bei den Proben ersichtlich und bringt reiche Ernte ein, denn das Spiel wirkt auch trotz aller Schwierigkeiten noch sauberer als beim einfacher erscheinenden Haydn. Besonders mitreißend und abwechslungsreich gelingt der Mittelsatz, der immer wieder für Überraschungen sorgt. Wenn nicht schon längst vorher, so wäre spätestens hier vor den Musikern der Hut zu ziehen, die Quintolenfiguren verlaufen bestechend sauber und die verqueren, freitonal erscheinenden Stimmen sind auf hohem Niveau mit befreitem Ausdruck ausgestaltet. Nicht zuletzt vor dem Dirigenten sollte man sich nach diesem modernsten und wohl auch eigentümlichsten Satz der Symphonie verneigen, all die rhythmisch fast wahnwitzigen Stimmpolyphonien und Wechsel der Hauptstimme teils taktweise zwischen vier Instrumenten kommen bravourös heraus. Auch die überraschenden Wendungen erscheinen spontan und frisch, unerwartet machen sich neue Klangsphären auf, die genauso plötzlich verschwinden, wie sie begannen. Leider spielt im dritten Satz das Publikum teilweise nicht mehr recht mit und immer wieder sind Störgeräusche zu vernehmen, doch bleiben Dirigent und Kammerphilharmonie konzentriert und bereiten dem großen Werk einen würdevollen Schluss.

Auffallend ist das starke Charisma, mit dem Jörg Birhance vor das Orchester tritt und das ihn von Anfang an zum Konzentrations-Mittelpunkt werden lässt. Nachdem er sich einmal hineingefunden hat in das Geschehen, bleibt er auch ganz eins mit dem Erklingenden und lenkt seine Musikern in suggestiver Weise. Birhance hat eine ausgereifte Dirigiertechnik mit gerader Haltung und ausgefeiltem Schlag, der vor allem aus dem Ellbogengelenk kommt, aber auch den ganzen Arm inklusive Schulter in Anspruch nehmen kann, womit er unweigerlich die Instrumentalisten mitnimmt und sie zur Gemeinschaft führt. Er agiert voll und ganz im Dienste der Musik und seine innige Zuwendung zu den Werken ist in jedem Moment spürbar.

So bleiben am Ende des Abends lediglich zwei Fragen offen: Warum ist Egon Wellesz noch immer so unbekannt angesichts von solch beeindruckendem Schaffen, das trotz freier Tonalität ins Ohr geht und sicherlich viele Menschen unmittelbar anspricht? Und warum ergeht es Jörg Birhance auch nicht anders als dem von ihm so liebevoll favorisierten Meister? Auch Birhance ist nach so vielen Jahren vortrefflicher Arbeit nach wie vor nur Kennern ein Begriff. Er dirigiert kleine Orchester und Laien anstelle von renommierten Orchestern, deren Programmauswahl und Ausdruckspalette er zweifelsohne mehr als nur bereichern würde.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Schönklang mit Mozart

Genuin classics Gen 15371; EAN: 4 260036 253719

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Die Klaviersonaten Nr. 16 in C-Dur KV 545, Nr. 11 in A-Dur KV 331 und Nr. 12 in F-Dur KV 332 von Wolfgang Amadeus Mozart sind auf der Neuerscheinung der koreanisch-kanadischen Pianistin Jennifer Lim beim Leipziger Label Genuin Classics zu hören.

Eine gute Darbietung der Musik Wolfgang Amadeus Mozarts sei eine der höchsten Künste für einen Pianisten, heißt es immer wieder. Und tatsächlich erweist es sich als Herausforderung der Extraklasse, diese so scheinbar leicht überschaubare und technisch zumeist auch für Laien bewältigbare Musik wirklich zu ergründen. Jede Melodie ist mit aufmerksamstem Fingerspitzengefühl in detailliertester Feinheit auszugestalten, die Unterstimmen dürfen dabei trotz oft ostinaten Figurenwerks niemals mechanisch werden, und auch sie bergen fortwährend herrliche Melodieelemente und offenbaren harmonische Finessen, die nach der heute gewohnten Erfahrung chromatisch-dissonant aufgeladener Musik zwar bei Weitem nicht mehr so stark wirken wie damals, aber umso mehr ständig neu entdeckt werden müssen. Und indem all dies klingende Gestalt wird, hat der Pianist die wohl komplexeste Aufgabe wahrzunehmen: Die Bewältigung der Form als zusammenhängendes Erlebnis, als nicht abreißender, atmend artikulierter Spannungsbogen. Wie soll man mit den themeninternen Melodiewiederholungen umgehen, wie sieht dies wiederum in großen Wiederholungen aus, auf welche Art transzendieren die Kontraste dabei und wie soll mit neu auftauchendem Material innerhalb der so oft wiederkehrenden Motive umgegangen werden? Diese und noch viele andere Fragen sind maßgeblich für ein adäquates Mozartspiel.

Jennifer Lim hat für ihre Einspielung drei grundverschiedene Sonaten ausgewählt. Sie beginnt mit der schlichten Sonate C-Dur KV 545, der spätesten der drei vorliegenden Werke, welche von Mozart als kleine Sonate für Anfänger bezeichnet wurde und heute vor allem durch den in der Erstausgabe abgedruckten Titel „Sonata facile“ berühmt ist. Doch wer sie einmal intensiv erarbeitet hat, weiß, dass dieser Titel auch auf den zweiten Blick noch trügt, denn so facile ist es keinesfalls, die Natürlichkeit auch ungekünstelt und frei entstehen zu lassen. Noch populärer ist die Sonate in A-Dur KV 331, vor allem deren Finale „Alla Turca“. Eindrucksvoll gestaltet ist in dieser vor allem der erste Satz, ein circa viertelstündiger Zyklus aus sechs Variationen über ein höchst anmutiges Thema. Ein verschollen geglaubtes umfassendes Teilautograph Mozarts dieser Sonate wurde 2014 in Budapest entdeckt und führte zu einer neuen Ausgabe des Verlags G. Henle, was allerdings auf der vorliegenden Aufnahme noch nicht umgesetzt wurde. Abschluss des CD-Programms bildet die F-Dur-Sonate KV 332, fünf Jahre nach der in A-Dur entstanden. Hier herrschen extreme Kontraste zwischen Dur und Moll, ganz unerwartet braust im Kopfsatz d-Moll auf und verdrängt das zarte Thema. Spannend gibt sich auch das Finale, eine unablässig herrschende Jagd, die im Gestus schon fast an den vierten Satz von Franz Schuberts Sonate c-Moll D 958 anklingen mag, der genau 50 Jahre später geschrieben wurde.

Die Pianistin vertritt ein sehr eindeutiges Bild von Mozart, ihr Spiel ist durchgehend äußerst zart und stets dem geordneten Wohlklang verpflichtet. Jede Stimme wird hörbar durch die präzise Fingerarbeit, die die aufbrausendsten Läufe wie ein leichtes Windspiel erscheinen lassen. So lädt Mozarts Musik unter den Fingern Jennifer Lims direkt zum Träumen ein, so wohl fühlt sich der Hörer in den kristallinen Strukturen. Zwar verzichtet sie dabei auf eine genaue Einhaltung der vorgegebenen Dynamiken und auf die von Mozart minutiös differenzierten Akzentuierungen, doch ist dies dem nur auf diese Art entstehenden Gesamteindruck geschuldet, und da dieser auch sinnvoll überdacht ist, ist ein solcher Eingriff durchaus wohlgefällig. Deutlich spürbar ist die Zuwendung zu dieser Musik, die sich in jeder Note des Spiels von Jennifer Lim manifestiert und den Hörer angenehm berührt. Lediglich zwei Aspekte stören ein wenig das Gesamtbild dieser Aufnahme: Zum einen ist es die Angewohnheit, unreflektiert jede einzelne Wiederholung zu spielen ungeachtet dessen, ob es auch hinsichtlich der Gesamtform Sinn ergibt. Bei Mozart haben zwar die meisten Wiederholungen eine Bedeutung, sofern sie auch mit eben dieser umgesetzt werden, doch ist es meines Erachtens musikalisch redundant, die Wiederholung der Durchführung und Reprise im Sonatenhauptsatz zu exerzieren. Es ist nahezu unmöglich, vom Schluss des Geschehens noch einmal in den Höhepunkt des Satzes zu springen, nur um daraufhin nachvollziehbar zum gleichen Ende zurückzukehren und dabei eine durchgehende Spannung zu erzeugen. Das zweite, was stört, ist die automatische Zurückdrängung aller Unterstimmen unter die Melodie der Oberstimme. Gerade in der A-Dur-Sonate herrscht ein unglaublich vielfältiges Stimmengeflecht, und die tiefen Stimmen dürfen sehr häufig eigenständig in Beziehung treten mit dem Diskant. Wenn dies gut herausgemeißelt wird, können polyphone Passagen entstehen oder auch herzerwärmende Duette ertönen, so wie Liebesarien aus einer Oper. Zwar sind bei Jennifer Lim diese Unterstimmen deutlich wahrzunehmen, doch sich zu Gleichberechtigung aufzuschwingen vermögen sie nicht. Kleinere und nur punktuell spürbare Unstimmigkeiten wie zu spitze statt auf damaligen Klavieren nur mögliche etwas nachhallendere Staccati in der zweiten Variation der KV 331 fallen dagegen weniger ins Gewicht. Die Tempowahl ist größtenteils gut getroffen, besonders die langsamen Sätze erhalten einen soliden, weder eilenden noch stagnierenden Charakter, nur manches Allegro geht ein wenig zu geschwind nach vorne. Was der Pianistin exzellent gelingt, ist die Verwendung des Pedals, das zu keiner Zeit etwas nur ansatzweise verwischen lässt, aber doch präsent und oft eingesetzt ist. So verlieren die Sonaten nichts von ihrer tonlichen Präsenz und unbestechlichen Klarheit, gewinnen jedoch gleichzeitig an Obertönen und Klangraum durch das Pedal. Dazu nötig ist eine Beherrschung des Teilpedals in der oberen Hälfte der möglichen Senkung, die von den meisten Pianisten quasi überhaupt nicht genutzt wird.

Die Aufnahmetechnik im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses Leipzig verleiht dem Klavier einen seidenen Klang, der wie gemacht zu sein scheint für das Spiel Jennifer Lims. Der Booklettext von Michael Juk aufgrund dessen Gespräch mit der Pianistin bietet zwar einmal eine neue Idee, die Werke durch ein subjektiv gefärbtes Licht darzustellen anstatt die so oft genannten Kompositionsdaten und Rezeptionsfakten erneut aufzuzählen, strotzt jedoch vor unnützen Details wie der Beschreibung des vor ihnen platzieren Essens (das zwar den Autoren satt gemacht haben mag, meinen Wissensdurst jedoch nicht stillen kann) und enthält natürlich hervorgehoben die wichtige Produzentenrolle Juks. Doch soll solch selbstverliebtes Getöse nicht ablenken von einer alles in allem durchaus gelungenen Darbietung von drei so herrlichen Sonaten aus der Feder des bis heute populärsten Komponisten weltweit: Wolfgang Amadeus Mozart.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Nimm zwei

Alpha Classics CD 211; Outhere Music ; EAN: 3 7600141 192111

Ulrich2

PATRICIA KOPATCHINSKAJA
TAKE TWO
Duos from a thousand years of
musical history for young people
aged from 0 to 100

Music by
Jorge Sanchez-Chiong (*1969) Heinz Holliger (*1939) Leo Dick (*1976) Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644-1704) Winchester Troper (early 11th century) John Cage (1912-1992) Darius Milhaud (1892-1974) Manuel de Falla (1876- 1946) Mauricio Sotelo (*1961) Orlando Gibbons (1583-1625) Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377) Bohuslav Martinû (1890- 1959) Claude Vivier (1948-1983) Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Performed by
Patricia Kopatchinskaja violin, baroque violin & voice
Jorge Sanchez-Chiong electronics & turntables
Anthony Romaniuk Harpsicord & toy-piano
Reto Bieri clarinet, okarina & violin
Laurence Dreyfus treble viol
Matthias Würsch darbuka
Pablo Marquez Guitar
Ernesto Estrella voice

Alice muse & painting

Suchen Sie für Ihr Kind – falls es schon alt genug dafür ist – einen passenden Adventskalender für dieses Jahr? Hier ist er! Die neue CD der Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist genau das Richtige, 24 Stücke vom 11. Jahrhundert bis heute, am Heiligen Abend dann als Höhepunkt Bachs „Chaconne“ aus der Partita d-moll für Violine solo, improvisierend begleitet am Cembalo vom Australier Anthony Romaniuk, der seine Kunst noch bei drei weiteren Stücken ( Biber, Cage & Martinu) zeigen kann. Natürlich spielt die moldawische Virtuosin all ihre Trümpfe aus, nicht nur musikalisch auf exzellentem Niveau, auch pädagogisch und im wunderhübschen, einfallsreichen Booklet, das schon fast ein richtiges Buch geworden ist, samt Erklärungen zu den einzelnen Komponisten, ihren Stücken, und einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter à la Alice in Wonderland. Der Bogen, den uns diese CD spannt, reicht zurück bis in die Anfänge der Zweistimmigkeit im 11. Jahrhundert, wo ein Alleluja auf Geige und Diskantgambe – gespielt von Laurence Dreyfus, dem Leiter des hervorragenden Gamben-Ensembles „Phantasm“, der noch zwei weitere Male mit seinem Instrument zu Wort kommt – einen wunderbar entspannenden Kontrast zu Leo Dicks Entrée burlesque: Prelude to the music theatre piece «au contraire» bildet. Zu jedem der 24 Stücke hat sich Kopatchinskaja sicher ihre Gedanken gemacht, mit jedem der erwähnten Musiker spielt sie mit größtem Spaß und spürbarer Freude, die jedem aufgeschlossenen Zuhörer und sicher auch den angesprochenen Kindern gefallen wird. Der Schweizer Klarinettist Reto Bieri entzückt mich besonders bei Darius Milhauds «Jeu» (Vif) aus der Suite für Violine, Klarinette und Klavier op. 157B, an anderer Stelle spielt er Okarina oder sogar Geige, es ist eine Überraschung nach der anderen, womit diese CD aufwartet. Sogar Heinz Holliger ist mit drei Stücken mit von der Partie, eines davon nach einer kleinen Geschichte von Patricias Tochter Alice – auch die Rechtschreibfehler sind einkomponiert –, und die Mutter realisiert dieses originelle Werk mit ihrer Stimme und Geige. Am wenigsten gefallen mir persönlich die Stücke ihres Studienkollegen Jorge Sanchez-Chiong, der Elektronisches und Plattenteller mit ins Spiel bringt, aber das mag für andere Ohren anders und aufregender klingen. Auch Melodramatisches für Violine und Poet ad. lib. ist vertreten vom Spanier Mauricio Sotelo, der sich vom Flamenco beeinflussen lässt, dazu rezitiert Ernesto Estrella stimmgewaltig und hochdramatisch sein Poem „noche cerrada“. Ebenso ist Otto Matthäus Zykan – er spielte vor Jahren Schönbergs Klaviermusik ausgezeichnet ein –  dabei mit der Komposition „Das mit der Stimme“ von 2001 für Geige und Stimme.
Natürlich klingen die Stücke von Gibbons und Machaut für einen Renaissance-Liebhaber besonders schön, aber die Abschluss-Chaconne bringt dann doch noch ein ganz besonderes Erlebnis: Ein solch bekanntes Stück mit einem einfühlsamsten Begleiter neu zu entdecken und zu gestalten, das ist der Höhepunkt für den Heiligen Abend dieses musikalischen Advents-Kalenders, auch wenn er vermutlich gar nicht als solcher geplant und gedacht war und ist: Es gibt keine Zufälle, aber Fügungen! Und diese CD ist eine besonders schöne Fügung im Jahr 2015.

[Ulrich Hermann, Oktober 2015]

Grenzgänger

acoustic motion concepts AMC 301-2; GTIN: 4050215095656

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Ein neu aufgestelltes Projektteam begeht den Versuch, Kammermusik von bekannten Komponisten der Moderne und des Übergangs zu dieser zu rekomponieren und mit zeitgenössischen Sampletechniken aus dem Aufnahmematerial eine neue Musik zu schaffen, die die Form einer Symphonie annehmen soll. Mitwirkende Musiker der Originalwerke sind dabei Lutz Bartberger, Felix Benkartek, Esther Bürger, Anna-Doris Capitelli, Toni Ming Geiger, Carolina Große Darrelmann, Theresa Lier, Lara Sophie Schmitt und Lena Wignjosaputro. Für die Rekomposition ist Luis Reichard zuständig, der mit Patrick Leuchter die Produktion leitet und vom Schlagzeuger Moritz Baranczyk unterstützt wird, der für einen Track noch eine später als MIDI exportierte Schlagzeugstimme liefert. Der Titel des Projekts lautet Noch:Schon, ihre erste Veröffentlichung nennt sich „Musik an der Schwelle“.

Mit klassischer Musik zu experimentieren und sie in andere Formen und Dimensionen zu bringen, bringt oft sehr interessante und im positiven Sinne bemerkenswerte Versuche hervor, denn so erhält eine oft als „verstaubt“ diffamierte Musik neues Publikum und vielleicht können auf diese Art gerade junge Leute aufmerksam gemacht werden nicht nur auf die moderne Bearbeitung, sondern auch auf die Originale dahinter, und für eine offene Hörhaltung gegenüber einer solchen Musik gewonnen werden. Noch:Schon bietet exakt diese Möglichkeit: Auf der ersten CD von „Musik an der Schwelle“ befinden sich die Originalwerke, bestehend aus Gustav Mahlers einsätzigem Klavierquartett, Alban Bergs sieben frühen Liedern, Sergei Prokofjews Sonate für zwei Violinen, Samuel Barbers Nuvoletta und Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Viola Solo; die zweite CD hingegen enthält Bearbeitungen dieser Stücke, gegliedert in vier Sätze, die zusammen eine Symphonie bilden sollen mit einem Sonatenhauptsatz (Mahler) zu Beginn, einer Kantate (Berg) in vier Teilen als zweitem Satz, einem Scherzo (Barber) und einem Finale (Zimmermann). Bedauerlicherweise wird der grandiosen Prokofjew-Sonate kein eigener Titel zugesprochen.

Die Musiker spielen allesamt auf einem hohen Niveau. Sehr stimmungsvoll ist das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler dargeboten, jenes einzige vollständig uns erhaltene Kammermusikwerk des großen Symphonikers, das zwar in klassischer Sonatenhauptsatzstruktur komponiert ist, aber sich dennoch hauptsächlich monistisch aus dem Hauptgedanken a-f-e entwickelt, wodurch es im Spiel schnell zu ungewünschten Längen kommen kann. Bei den hier mitwirkenden Musikern werden die Längen erstaunlich gut kaschiert, das Zusammenspiel wirkt im Großen und Ganzen gut abgestimmt, lediglich donnert es manchmal ein wenig zu grob – wobei dies auch an der Tontechnik liegen kann. Carolina Große Darrelmann verleiht den sieben frühen Liedern Alban Bergs einen recht matten und innigen Klang mit einem leicht reibenden Timbre – leider ist der Text dabei manchmal nur schwerlich zu verstehen, was gerade bei so textlich ausdrucksstarken Liedern wünschenswert wäre. Sehr opernhaft erscheint Ester Bürger in Barbers Nuvoletta mit ausschweifenden und brillanten Koloraturen und einer strahlend hellen Stimme, die einen deutlichen Gegenpol zu der kammermusikalisch erscheinenden Sängerin der Berg-Lieder bildet, wenn auch mit der unfreiwilligen Gemeinsamkeit der oft unzureichenden Textdeklamation. Felix Benkartek accompagniert in beiden divergierenden Stilen in trefflichem Gestus am Klavier, ohne dabei sonderlich stark an der Oberfläche neben den Sängerinnen hervorzutreten. Entsprechend ist seine „Stimme“ teils nicht sonderlich sanglich ausgestaltet und wirkt zwar als solider und stimmiger Untergrund, allerdings nicht als vollwertiger Widerpart zu den Partnerinnen, vor allem bei Barber. Dabei könnte er durchaus weiter aus dem Schatten hervortreten, sein Spiel ist angenehm feingliedrig und perlig. Vermutlich ist aber auch hier wieder eher die Abmischung Ursache für die ungleiche Abstimmung als das Spiel des Pianisten, denn das Klavier wirkt im Vergleich zu der Kraft hinter manchen Tönen doch recht gedämpft und als reine Hintergrundsfarbe degradiert. Die überzeugendste Darbietung der ersten CD ist meines Erachtens die von Lara Sophie Schmitt in der Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann, von dessen breitem Œvre die meisten nur die Oper „Die Soldaten“ kennen, die letztes Jahr in der Bayerischen Staatsoper unter Kirill Petrenko einen für ein avantgardistisches Werk unvorstellbaren Erfolg erzielen konnte. Die Violasonate erfordert unzählige minimale Farbnuancen, die ganz exakt dosiert werden müssen – was Schmitt auch zustande bringen und so die düster-depressive und für Zimmermann so typische Stimmung ohne jede aufgesetzte Verstellung vermitteln kann. Zudem findet sich noch die Sonate für zwei Violinen Op. 56 von Sergei Prokofjew auf der ersten CD, welche übrigens den Titel „Noch“ trägt, während die Bearbeitungen als „Schon“ überschrieben werden. Die Sonate, wie wohl fast alle Werke von Prokofjew, verlangt alles an Mechanik von den Musikern ab, was physikalisch irgendwie erreichbar ist. Umso schwieriger gestaltet es sich, auch die Lyrik in diesen vertrackten Sätzen herauszuarbeiten und in all den Dissonanzen und teils derben Klängen zu „singen“. In den langsamen Passagen mag das noch zu einem guten Teil gelingen, aber in den virtuosen und rhythmisch markanten Verläufen sind Lutz Bartberger und Theresa Lier zu sehr mit der rein technischen Bewältigung der komplexen Organisation beschäftigt, um für ein ausgewogenes und abgestimmtes Spiel sorgen zu können. So geht häufig auch die erforderlich akzentuierte Scharfkantigkeit verloren, besonders im zweiten Satz, dem phänomenalen dynamischen Höhepunkt, wo statt dessen entweder die entsprechenden Momente zu „harmlos“ wirken oder aber allzu kratzig rüberkommen. Nichts desto Trotz ist alleine schon die technisch so saubere Bewältigung eine hohe Aufgabe, die es zu würdigen gilt.

Insgesamt ist allerdings zu sagen, dass die Aufnahmetechnik der Stücke nicht gerade ideal getroffen ist, die Werke wirken ein wenig verloren im Raum und büßen somit an Tiefe und Präsenz ein, so dass manch einer der hier genannten Rezensionsaspekte nur nach mehrfachem Hören überhaupt eruierbar war. Zwar erklingen die Stücke besonders stimmungsvoll in dem leicht vernebelten Hall, doch ist dies den Preis nicht wert, zentrale musikalische Aspekte einzubüßen. Das ebenso wie das gesamte Album sehr innovativ gestaltete Booklet (das besondere Anhänger der Musik sogar als Plakat ausgebreitet in ihre Lokalitäten hängen können) gibt zwar weder sonderlich nennenswerte Informationen über die Originale, noch die Texte der Berg-Lieder, bietet aber ein paar interessante Gedanken vor allem über die Bearbeitungen, wobei ich mir auch hier ein wenig ausführlichere Fakten über den Entstehungsprozess und die Gedanken dahinter (die sich beim bloßen Hören schwerlich erschließen mögen) wünschen würde.

„Schon“ folgen die Rekompositionen der Stücke auf der zweiten CD, die laut beigelegtem Text komplett aus dem Aufnahmematerial gebildet wurden (abgesehen vom Schlagzeug auf Track 3). Diese Neuzusammensetzung erfolgte mit Hilfe von etlichen elektronischen Effekten, die die Originalstimmen teilweise in unkenntlich verzerrter Weise wiedergeben, so dass sie teilweise wie rein elektronisch generiert wirken. Auf diese Weise könnte das resultierende Material direkt Teil einer futuristisch anmutenden Ausstellung oder Musik für experimentelle Lokalitäten und Clubs darstellen. Das Ergebnis lässt noch immer das Original in sich erkennen, bildet aber doch etwas vollkommen Neues, und nur kurzzeitig schimmern Passagen vollkommen unverstellt durch die Elektronik durch. Alles in allem sind die Rekompositionen äußerst stimmungsvolle und kurzweilige Stücke, die eine eigene Atmosphäre verströmen und immer wieder für Überraschungen sorgen. Kontinuierlich stellt sich die Frage, was als nächstes folgt und welche Klangkombinationen und vor allem -variationen erscheinen werden. Besonders spannend sind die reinen Instrumentalstücke, so wird beispielsweise die Zimmermann-Sonate von ihrer spröden und fragmenthaften Originalgestalt aus immer weiter verdichtet, bis scheinbar ein ganzes Streichorchester spielt, was schließlich in eine melancholische Klangfläche mit sanfter Kantilene überkippt. Bei Mahler wurde versucht, auch eine Sonatenhauptsatzform zu erschaffen, allerdings mit Atmosphären statt mit Motiven – was allerdings mehr intellektuell zu verstehen als tatsächlich beim spontanen Hören offenkundig ist. So gelungen das Ergebnis auch sein mag, stellt sich nun dennoch die Frage nach dem innermusikalischen Sinn dahinter, denn keine dieser Kompositionen hat das Bedürfnis, auf irgendeine Art rekonstruiert zu werden. So handelt es sich mehr um schön zu hörende experimentelle Spiele denn um einen wahren Dienst im Sinne der Komponisten oder ihrer Werke. Ungeachtet dessen bleibt die Hoffnung, durch so eingängige und kosmische Umformungen kammermusikalischer Werke einmal mehr Besucher auch in den klassischen Konzertsaal zu locken.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Anfang und Ende eines großen Symphonikers

Sony Classical; Deutschlandradio Kultur; ISBN: 8 88751 56972 0

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Die erste und die nur fragmentarisch erhaltene letzte Symphonie, jeweils in D-Dur, des jung verstorbenen Franz Schubert bilden das kurze Programm der neuen CD-Einspielung der Kammerakademie Potsdam unter Leitung ihres Chefdirigenten Antonello Manacorda.

Es klingt eigentlich recht logisch: Die erste Symphonie eines Komponisten ist deutlich beeinflusst von dessen großen Vorbildern und die letzte schließlich ist die absolute Eigenständigkeit und vollendete Individualsprache des Meisters. So zumindest ist es immer und immer wieder zu hören und zu lesen – wie zum Beispiel auch im Booklet der vorliegenden CD, welches Albert Breier verfasst hat. Doch lauscht der Hörer einmal genau in die entsprechende Musik hinein, so dürfte er relativ schnell feststellen, dass dies auch dann nicht der Fall sein muss, wenn sich anscheinend alle darüber einig sind. Zweifelsohne lässt sich die aufgestellte These bei Franz Schubert umgehend als falsch deklarieren (übrigens nicht weniger bei Beethoven, dem in seinem symphonischen Erstlingswerk ebenfalls gelegentlich ein bisschen Haydn-Epigonentum vorgeworfen wird, und bei vielen anderen wie Niels W. Gade, Edvard Grieg, Jean Sibelius, Douglas Lilburn et cetera, denen allen ungerechtfertigterweise der unverkennbar eigene Ton in ihren Frühwerken beziehungsweise bei Lilburn oder Gade von manchem „Experten“ sogar in ihrem Gesamtwerk abgesprochen wird. Bei anderen Komponisten wie Mahler, Mozart, Bach oder Haydn ist von so etwas kaum einmal die Rede, obgleich auch sie natürlich gleichfalls Vorbilder hatten). Selbstverständlich lassen sich Anklänge an die Idole erkennen und werden teils durchaus deutlich, aber davon abgesehen liegt bei Schubert (und auch bei allen anderen genannten Namen) ohne den leisesten Verdacht eines Zweifels schon sehr früh eine große Eigenleistung vor, die sich deutlich von Vorherigem abhebt und bereits in jungem Alter einen eigenen Ton schafft. Die Behandlung des Orchesterapparats in relativ großer Besetzung ist trotz der für Schuberts bekanntere Werke ungewohnt freudig-festlichen Stimmung eine vollkommen andere als bei Haydn oder Mozart. Ironischerweise widerspricht sich bei der Aufzählung der angeblichen Vorbildwerke sogar der Booklettextautor, der den Hauptsatz gerne auf Beethovens Eroica errichtet sehen würde, aber gleichzeitig schreibt, von Beethoven seien um die Zeit allerdings nur die ersten zwei Symphonien im Repertoire des Konviktsorchesters für Schubert zu hören gewesen. Bei dem von Brian Newbould ergänzten Fragment des Andantes, welches vermutlich einer zehnten Symphonie angehören sollte, haben alle Klischeeliebenden dafür ihre Freude, es gehört tatsächlich zu den handwerklich und stilistisch vollendeten und innigen Manfestationen des unumstößlich erkennbaren Spätstils von Franz Schubert.

Die Kammerakademie Potsdam unter Antonello Manaconda nimmt die Werke insgesamt ziemlich schwungvoll und akzentuiert mit einem vollen Orchesterklang. Abgesehen von der frechen Verspieltheit im Finale der ersten Symphonie erzeugt das Spiel meist eine pathetisch-aufgeladene Wirkung mit gewissem Drang nach vorne. Im Symphoniefragment nimmt Manacorda die Scharfkantigkeit mehr heraus und vertraut eher dem lyrischen Moment, was dem Satz einen überlegenen Vorteil gegenüber dem Andante des Erstlingswerkes verschafft. All das Pompöse und Heroische ist auch nicht immer vorteilhaft für diese Musik, gerade die Adagio-Introduktion des Kopfsatzes ist dadurch ein wenig zu mächtig für die an sich erwünschte Wirkung eines durchsichtigen und beweglichen Orchesterklangs. Anstelle dessen erhält der Hörer eine durch ungebändigte Tuttischläge aufwühlende und in unglaubhaftem Pathos badende Musik, was zwar durchaus auch einen gewissen Reiz haben kann, aber hier doch ziemlich überzogen ist. Wie man eine gute Synthese zwischen diesen Gesten erhalten kann, präsentiert Manacorda selbst, und zwar im gleichen Werk: Der Finalsatz ist wesentlich stimmiger und auch alle Scharfkantigkeit der Fortepassagen wirkt mehr in den sinnvollen Kontext eingebunden. Das Finale zeichnet eine besondere Stringenz aus, die einen vom ersten bis zum letzten Ton im Bann hält – was sich vom Kopfsatz nicht behaupten lässt, da die Wiederholung zudem die ganze Angelegenheit unendlich lang erscheinen lässt, denn viel zu weit hat sich das dramatische Geschehen bereits vom Ausgangspunkt entfernt, als dass es noch einmal von Beginn an sinnträchtig abgespult werden könnte. Interessant gestaltet sich die Ausdifferenzierung des Menuetts mit seinem kontrastierenden Trio-Mittelteil. Durch eine leichte Temporücknahme gelingt es Manacorda hier, einen deutlichen Kontrast zwischen den beiden Abschnitten herzustellen, der sehr weibliche Elemente im Trio hervorkehrt und äußerst männliche im Menuett. Das ist natürlich hier etwas romantisierend übertrieben.

Eine vollkommen neue Welt kann sich schließlich in der spät entdeckten und als solche identifizierten Symphonie Nr. 10 D 936A öffnen. Solch eine Schönheit zeigt sich in diesen Orchesterklängen und betört dazu mit fabelhaften Orchesterwirkungen, so dass der von Brian Newbould rekonstruierte und orchestrierte Satz fast zum Träumen einladen würde, wäre da nicht diese Doppelbödigkeit, die Schubert so ausmacht und einen doch aufs Neue schlucken lässt angesichts dessen, was sich hinter der Fassade verbergen mag.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Musikalischer Geigenherbst

Onyx classics – ONYX4142

Mullovabild

Victoria Mullova spielt, mit Begleitung des HR-Sinfonieorchesters Frankfurt unter Paavo Järvi, das Violinkonzert Nr. 2 in G-Dur op.63 von Sergej Prokofieff, gefolgt von dessen Sonate für zwei Violinen in C-Dur op. 56 (mit Tedi Papavrami als Duopartner) sowie dessen Sonate für unbegleitete Violine in D-Dur op. 115.

Seit Beginn ihrer Karriere zählt Viktoria Mullova zu den führenden russischen Geigern in der internationalen Konzertszene und ist als bodenständige Künstlerin sich und ihrem Charakter stets treu geblieben. Umso mehr erfreut es, dass sie mit über fünfzig Jahren nicht müde wird zu musizieren, mehr noch, dass sie jegliches, für ihre Altersgruppe nicht unübliche, divenhafte Äußere nicht nötig hat.

Natürlich verändert sich jeder ernsthafte Musiker im Laufe der Zeit und reift bestenfalls als solcher. Dies kann deutlich im Violinkonzert Nr.2 in G-Dur op. 63 wahrgenommen werden, welches Mullova schon vor Jahren mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter André Previn einspielte. Hier nun, in der Wiedergabe mit dem HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi, offenbart die Geigerin schon in dem eröffnenden Allegro moderato einerseits ein wärmeres, leicht dunkleres Timbre, als man es von ihrem eher schlanken, betont unsentimentalen Spiel gewohnt ist. Andererseits scheut sie gerade in den zahlreichen schnellen Passagen keinerlei Risiken und stampfende Direktheit in den Akkorden, um wiederum an den langsamen Stellen eher zurückhaltend und lyrisch zu klingen. Sehr sicher übernimmt sie das Thema des Satzes, bestehend aus einem aufsteigenden g-Moll-Grundtonakkord, von den Bässen, mit denen sie hierauf in einen Dialog tritt. Überhaupt ist es das Zusammenspiel mit dem Frankfurter Klangkörper, welches zu den Stärken dieser Einspielung gehört. Sei es nun in den schnellen oder in den langsamen Abschnitten, worin das Thema und dessen Varianten mal im Orchester, mal in der Violine wiedererklingen. Ebenso tritt der eher herbstliche Charakter des Konzerts trotz der zerklüfteten Satzstruktur doch gut hervor, ohne dass die Gestaltung in völliger Melancholie versinkt, was sicher nicht Prokofieffs Absicht entsprochen hätte.

Einen objektiven Kontrast bietet das Andante assai. Dieser Mittelteil, der ja grundsätzlich von seinem lyrischen Serenadenton lebt, besticht durch die zuvor erwähnte schlanke Linie und die Neigung zu melodischer Schlichtheit, die Mullova in ihren Geigenton und ihr dezentes Vibrato legt. Dieser Gestus ändert sich auch nicht im folgenden B-Teil, da die Solistin auch hier kontrollierte Ruhe über ihre Tremololäufe bewahrt. Überhaupt ist die Ausgewogenheit zwischen Orchester und Violine hier am gelungensten, vor allem in den teils fein verästelten Nebenstimmen. Erst nach der Hälfte des Satzes wird der Ton für kurze Zeit etwas burschikoser und verweist auf den ungestümen Schlusssatz voraus. Dennoch halten sich die Musiker an die auskomponierte Symmetrie des Andante, lassen dieses ähnlich schlicht und ruhig ausklingen, wie es begonnen hat.

Bezeichnenderweise eröffnet das Allegro, ben marcato einen schmissigen Kehraus, dessen Beginn die Solovioline mit Tanzschritten auszeichnet, deren Charakter fast an Mahler gemahnen: „Etwas täppisch und sehr derb“. Dieses klassische Rondofinale, in dem sich der junggebliebene Prokofieff offenbart, ist keineswegs auf eine solche Bezeichnung reduziert; gerade die ruhigeren Zwischentöne, an denen die Musiker dezent das Tempo zurücknehmen, verleihen dem Satz Tiefe und Abwechslung. Dennoch überwiegen die burlesk-rustikalen Seiten des Satzes, den das Orchester zusammen mit Mullova in unterschwelliger Steigerung zu einem brillanten Ende führt.

Zusammenfassend kann man über diese mindestens sehr gelungene Einspielung noch sagen, dass sich das Orchester als würdiger Begleiter der Mullova erweist, die, ohne zu sehr ihren Stempel aufzudrücken, niemals einen Zweifel an ihrer Position als prima inter pares gegenüber den Musikern zulässt. Gerade bei dem heterogenen Charakter der Ecksätze fällt doch auf, wie sehr alle Beteiligten um eine möglichst gute musikalische Detailzeichnung bemüht sind und das forte mancher Stimmen zu laut gegenüber anderen erscheint. Mit anderen Worten, es zeigt sich speziell bei diesem späteren Werk Prokofieffs einmal wieder, dass die SACD einfach nicht jeder Nuance gerecht werden kann. So, wie sich dieser Live-Mitschnitt anhört, hätte man als Konzertbesucher immer noch mehr vom Ganzen.

In der darauf erklingenden Sonate für zwei Violinen in C-Dur op. 56 von 1932 tritt diese Diskrepanz natürlich weniger auf. Obgleich Mullova hier mit ihrem vollkommen gleichwertigen Partner Tedi Papavrami schon das Andante cantabile stets mit Bedacht auf gleichmäßigen Fluss, auf natürliche Phrasierung und mit tief empfundener Musikalität intoniert, muss es doch mal gesagt sein: Ein kleines bisschen weniger Vibrato hätte dem Klangbild auch gut getan. Auch im Allegro, einer furiosen Toccata, wo sich die beiden Künstler am Rande der Spielsicherheit bewegen, könnte weniger mehr sein, was die Risikobereitschaft angeht, trotz der überwiegenden spielerischen Brillanz. Im darauffolgenden Commodo (quasi Allegretto) scheint es endlich keinen Makel mehr zu geben; eher geisterhaft als gemütlich (so die Satzbezeichnung wortwörtlich) schwebt der dritte Abschnitt der Sonate vorüber und lebt vollständig von der zarten Phrasierung beider Künstler. Auch perfekt durchdacht ist das Allegro con brio, worin Mullova und Papavrami zum genau richtigen Tempo-Klang-Verhältnis ein Finale präsentieren, das bei allem Feuer nie zu schnell und fast schon zu kontrolliert klingt. Das gilt auch für die Episode mit ihren heiklen Arpeggienläufen in der Mitte des Satzes, wo gerade Papavrami sich als exzellenter Musiker erweist.

Der Lebensabschnitt Prokofieffs zwischen dieser Sonate und dem späten Solo-Geschwisterwerk im Jahre 1947 wird von der Musikwissenschaft gern als derjenige seines „monumentalen Spätwerks“ (aufgrund seiner KPdSU-Auftragswerke, Filmmusiken etc.) bezeichnet. Nichts dergleichen weist der letzte CD-Beitrag, ebenjene neobarocke Sonate für unbegleitete Violine in D-Dur op. 115, auf. Es ist fast schon selbstverständlich anzunehmen, dass Victoria Mullova auch dieses Werk zu meistern problemlos imstande sei. Jedenfalls bewegt sie sich weit weg von Darbietungen bloßen Zugabecharakters: Mit ungebrochener intonatorischer wie musikalischer Sicherheit spielt sie alle Facetten des eröffnenden Moderato aus und behält so eine logische Linie mit einem völlig unplakativen D-Dur bei. Bemerkenswert ist auch hier der Wechsel zwischen lyrisch-melodischen und tänzerisch-perkussiven Phasen. Im Andante dolce/Tema con variazioni offenbart die Geigerin Parallelen zwischen den Solopartiten Bachs und dem Werk Prokofieffs. Bei der Dauer von 2´37 erstaunt es doch, wie viele Variationen sich auf kleinsten Raum entfalten können; nichts wirkt oberflächlich noch überladen. Der sogleich folgende Schlusssatz con brio unterscheidet sich deutlich von einem typischen Kehraus (trotz der Steigerung zu einer Musette), ein letztes Mal kostet Mullova die melodisch-kontrapunktischen Schichten des Werkes aus. Vor allem jedoch zollt sie der darin versteckten Tanzsuite ihren Tribut: Graziös und nachdrücklich erklingt das Menuett im ersten Viertel, das Bourrée kapriziös.

Insgesamt zeigt Prokofieff sowohl in seinem 2. Violinkonzert als auch in seiner Kammermusik, dass er selbst als reifer Komponist niemals an Einfallsreichtum und Energie eingebüßt hat. Auch Victoria Mullova, zum Zeitpunkt der Aufnahmen 53 bzw. 55 Jahre alt, steht als konzertierende Künstlerin noch im Zenit ihres Könnens, wie sie hier über weite Strecken beweist. Somit garantiert diese CD reife Ernte aus dem musikalischen Geigenherbst Sergej Prokofieffs.

[Peter Fröhlich, Oktober 2015]

„In der Fremde“

Linn Records CKD 474; ISBN: 6 91062 04742 5

8

Zum wiederholten Mal gibt der der englische Tenor James Gilchrist seiner treuen Mitstreiterin an den Tasten, Anna Tilbrook, die Ehre einer neuen Einspielung – nach etlichen Aufnahmen mit Gesängen von Britten, Schubert, Leighton, Berkeley und anderen diesmal mit Liederzyklen des deutschen Romantikers Robert Schumann. Auf die beiden Liederkreise Op. 24 nach Texten von Heinrich Heine und Op. 39 über Gedichte Joseph von Eichendorffs folgt die Vertonung von Heines berühmter Dichterliebe als Op. 48.

Siebenunddreißig Gesänge umfasst die CD mit Robert Schumanns Liederzyklen, die vom Tenor James Gilchrist und der Pianistin Anna Tilbrook vorgetragen werden. Eine erstaunlich hohe Anzahl, wenn man bedenkt, wie vielseitig doch jedes dieser Lieder an sich schon ist – und entsprechend, wie viele unterschiedliche Nuancen in all diesen kleinen Formen entdeckt werden müssen, um der abenteuerlichen Bandbreite menschlicher Emotionen darin gerecht zu werden. Das Zusammenspiel wird teils auf harte Proben gestellt, viele rhythmischen Feinheiten werden verlangt, auseinanderstrebende und parallel verlaufende Melodielinien müssen sanglich abgestimmt werden und auch der Zusammenhang innerhalb der Zyklen ist zu wahren.

Mit James Gilchrist hat Linn Records einen erstklassigen Tenor gefunden, dessen Repertoire sowohl Lieder als auch Opern, Oratorien und Messen verschiedenster Epochen vor allem aus England und dem deutschsprachigen Raum umfasst. Seine Stimme ist unverkennbar markant mit einem recht weiblichen Timbre und einer gewissen Zartheit, die jedoch auch gelegentlich in Furor geraten kann, sofern es das Lied erfordert. Zugegebenermaßen ist sein Klang anfangs wahrlich ungewohnt und wird vermutlich auch einigen Hörern begrenzt angenehm erscheinen, doch wenn man sich einmal an diese unverwechselbare Stimme gewöhnen konnte, lernt man schnell ihre besonderen Qualitäten zu schätzen. Gilchrist vermag es, sich minutiös in alle noch so feingliedrigen Lieder einzufühlen und die idiomatisch herausgearbeiteten Stimmungen nachvollziehbar weiterzuvermitteln. Deutlich aufmerksam wird der Hörer darauf zum Beispiel im „Waldesgespräch“ aus dem Liederkreis Op. 39, wo Gilchrist glaubhaft die beiden Dialogpartner verkörpert und es ihm darüber hinaus auch noch gelingt, den Wandel des unschuldigen Fräuleins in die gleich männlicher und überlegen wirkende Loreley auszugestalten. Erstaunlich ist, wie exakt die Aussprache des englischen Tenors im Deutschen ist, zu keiner Zeit scheint es, als wäre es nicht seine Muttersprache (meine Recherchen, ob irgendein Bezug zu Deutschland besteht, ergab bisher keine bestätigenden Resultate). Manchmal ist bedauerlicherweise sein Atmen unerwarteterweise derart laut und durch die Zähne zischend, dass es fast wie in die Gesangsstimme einbezogen scheint – vor allem in „Ich grolle nicht“ -, wobei dies glücklicherweise nur in den wenigsten Liedern auffällt. Äußerst angenehm ist dafür, dass James Gilchrist komplett auf sonstige künstlichen Manierismen und erkennbar unechte Verstellung verzichtet, sondern lediglich die auch tatsächlich in den Noten befindliche Rolle ohne jegliche störenden Beifügungen verkörpert.

Dem Tenor zur Seite agiert Anna Tilbrook am Klavier, die bereits seit 1997 mit Gilchrist zusammenwirkt, was unzählige Tonträger künstlerisch belegen. Zweifellos lässt sich feststellen, dass die Pianistin eine erfahrene und routinierte Kammermusikerin ist und viel mit Sängern gearbeitet hat. Ihr Spiel ist klar und perlend mit einem großen Maß an Zurückhaltung. Dies hat natürlich zur Folge, dass sie oft in die reine Begleiterrolle abrutscht anstelle eines gleichwertigen Klavierparts und somit die Singstimme teils nicht unterstützend tragen kann – worauf Gilchrist allerdings auch wenig angewiesen ist und sich in der alleinigen Dominanz bestens zurechtfindet. Meist kann sich Tilbrook auch aus der Tiefe heraus den melodiösen Linien ihres Sängers anpassen und einen stimmigen Widerpart bilden. Jedoch, wie so häufig in routinierten Konstellationen, „singt“ das Klavier vielerorts zu wenig, sondern exekutiert, statt melodiöse Aufschwünge zu erleben, eher die Noten. Gerade bei Staccatostellen, die eindeutig zu kurz sind und von keiner Gesangsstimme so schnell weggerissen werden können, holpert das Zusammenwirken dabei etwas. Jedoch hält sich auch Anna Tilbrook genauestens an den Notentext und versteht es in den meisten Fällen, die Gefühlslage in Tönen wiederzugeben und einige Textstellen ohne übertriebenen Effekt abzubilden. Auch den unpianistischsten Passagen wird sie mühelos gerecht und meistert alle rhythmischen Delikatessen im Zusammenspiel mit dem Tenor ohne je zu stocken. Die Tempowahl ist fast durchgehend äußerst angenehm, beide Musiker vertrauen vor allem den ruhigeren und innigeren Tempi ohne die viel zu oft vertretene Angst, der Fluss könne ins Stauen geraten – was sich hier als eine gute Wahl erweist, denn gerade den langsamen Liedern wohnt eine große Spannung inne, die erst durch zurückgenommenere Geschwindigkeit so greifbar wird.

Abgesehen von den erwähnten Atemgeräuschen ist der vergleichsweise trockene Klang der Aufnahme sehr angenehm zu hören, qualitativ wie wohl die meisten Aufnahmen der letzten Jahre sehr hochwertig. Der CD liegt ein äußerst umfangreiches Booklet auf Englisch bei, das neben allen Texten inklusive Übersetzung ins Englische von Richard Strokes auch einen langen Text aus der Feder von Nicholas Marston bietet, in dem der Autor neben Einführungen in die Liederzyklen auch einige Fragen beantwortet, wie beispielsweise die Definition eines Liederzyklus laute oder was es mit dem Wort-Ton-Verhältnis auf sich habe.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Jünger einer Sondergeneration

cpo 777 672-2, ISBN: 7 61203 76722 9

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Das Symphonieorchester Helsingborg unter Andrew Manze spielt Orchesterwerke von Lars-Erik Larsson, Volume 2

Nach der vielgelobten ersten Einspielung der Orchesterwerke des Schweden Lars-Erik Larsson schien es im Jahr 2011, als seien die Helsingborger Musiker mit ihrem Chefdirigenten dem Wunsch der Fachwelt nach einer Fortsetzung nachgekommen und haben diesen vom ersten Höreindruck her betrachtet auch tadellos erfüllt. Doch auch beim zweiten Mal dürfte jeder unvoreingenommene und zugleich anspruchsvolle Hörer seine Befriedigung erfahren, hat man es, wie der engagierte Booklettext der vorliegenden CD aussagt, doch mit einem gewichtigen Vertreter der sogenannten klassischen Moderne Schwedens in zweiter Generation (Jahrgänge 1900er Jahre) zu tun; einer Generation, die zugleich ästhetisch in sich geschlossen stand und daher, wie weiterhin zu lesen ist, als „Zwischengeneration“ wahrgenommen wurde. Wie nun Larsson in seinem langen und produktiven Leben dazu stand, ist nicht weiter relevant – bis auf die Tatsache, dass er als Symphoniker sowohl verkannt als auch extrem selbstkritisch war. Zu Unrecht, wenn man schon in seine zweite Symphonie hineinhört, die von Anfang zur Aufmerksamkeit zwingt.

Diese Symphonie Nr. 2 op. 17, gleich zu Beginn in entschiedenem e-Moll, lässt in ihrem Ausdruck nahezu selbstverständlich an Sibelius, in ihrem Temperament an Nielsen denken – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie sehr Larsson beide Komponisten verehrte. Erfreulicherweise entfernt sich der Schwede dennoch von jeglichem Epigonentum, wenn man die Einfälle, die Satzabschnitte und die Art der Themen und Motivverarbeitung durchhört, die sich deutlich von der Arbeit mit elementaren Motivpartikeln in sibelianischer Art abgrenzen. Neben der Tatsache kompositorischer Eigenständigkeit, die man gerade in dieser Musik erst mal erkennen muss, ist es zudem die angemessene Art der Darbietung, die hier positiv auffällt. Andrew Manze, der für seine lebendige, zuweilen radikale Geigerpraxis bekannt ist, hält sich grundsätzlich an den Tempocharakter des ersten der drei Symphoniesätze, Allegro con moto, ohne ein sklavisches Metronommaß durchzupeitschen: unter seiner Stabführung spielen die Helsingborger in zügigem Fluss, der jedoch niemals gehetzt wirkt, trotz der oftmals affirmativen Paukenschläge. Stattdessen gelingt dem Orchester das Kunststück, dass ohne jegliche Rubati viele Zwischentöne der reichen Themen und Farblandschaft zu hören sind, sowie eine durchfühlte Agogik in den Einzelstimmen. Sei es etwa das aufschwingende Hauptthema, welches die Klarinette gleich zu Beginn leicht, aber durchdacht artikuliert, wobei es weder oberflächlich noch sentimentalisierend klingt. Oder die Bydgedans-Begleitung der Bässe zu Beginn des D-Dur-Themas, die sich pointiert und voll, aber nicht zu behäbig geben. Da die SACD zudem den Vorteil hat, auf einem Standardplayer spielbar zu sein, bedarf es zum Erfahren der totalen Tonreichhaltigkeit nicht unbedingt einer Dolby Surround Anlage, um musikalischen Genuss und Anspruch zu auszukosten. Der wohl einzige Wehrmutstropfen liegt am Ende des Satzes: Da in der Coda das Allegro molto vivace-Tempo doch sehr buchstäblich genommen wird, kommt das Ende so abrupt, dass die Vielschichtigkeit dieser stimmungsvollen Musik etwas geschmälert wird.

Nicht einfach zu werten ist auch der zweite Satz, worin Larsson ein Andante und ein Scherzo miteinander verquickt. Dabei bietet das Andante zunächst einen wunderbaren Kontrast, dessen kammermusikalische Linien (die in ihrer Motivik an die 2. Symphonie Brahms´ erinnern) die Helsingborger fein nachzeichnen. Überhaupt ist es das Orchester, welches dann durch seine Klangfreudigkeit im kritischen Scherzo überzeugt. Kritisch deshalb, da die nahezu unablässige Wiederholung desselben musikalischen Inhalts leicht redundant werden kann. Wobei man gerechtigkeitshalber hinzufügen muss, dass Larsson es auch hier versteht, seiner Partitur durch abwechslungsreiche und gekonnte Instrumentierung Steigerung und Entwicklung zu verleihen.

Derlei Einwände dürften im darauffolgenden Finale vergessen sein: Der Ostinato betitelte Kehraus rundet nicht nur die Symphonie dank Bezugnahme auf die Kopfsatzmelodie logisch ab, sondern ist auch für sich betrachtet einfach ein Glanzstück des selbstkritischen Larsson: Wie sich die Thematik aus der Tiefe der Streicherbässe entfaltet und zunächst eine Passacaglia aufbaut, um schließlich in einen immer dramatischeren Strudel à la Schostakowitsch zu geraten, ist einfach ohnegleichen! Auch hier leistet wieder das Orchester makellose Arbeit, stets mit Hingabe und mit konsequenter Beherrschung des Tempos, auch in der riskanten Presto-Mitte. Und immer, selbst in den entfesselten Passagen, herrscht kultivierte Balance zwischen den Instrumentengruppen, trotz der eher mäßigen Orchestergröße von 61 Musikern.

Allein die Sinfonie also lohnt somit bereits den Kauf dieses Tonträgers. Doch würde man Lars-Erik Larsson nicht gerecht, wenn den ebenfalls hier eingespielten Werken keine entsprechende Aufmerksamkeit gezollt wäre. In den Variationen für Orchester op. 50 beweist der Komponist, dass er auch fernab betont dramatischer Symphonik schreiben kann. Eine dezente Dodekaphonie bestimmt das Thema der Klarinette, das die daraufhin folgenden Varianten bestimmt. Im überaus schwierigen Gebiet der Zwölftonmusik bieten sich allein in formalpsychologischer Hinsicht oftmals wenige Lösungen, die vollends überzeugen. Larsson geht das Problem jedoch recht klug an, indem er zum einen sehr aparte Instrumentierungen für seine huschende Motivik wählt, zum anderen seinen „Variationen“ die Möglichkeit zur freien Entfaltung gibt, sowohl im Aufbau als auch im eher polytonalen denn wirklich dodekaphonischen Tonsatz. Der Streichersatz etwa in der Mitte dieses Opus 50 überrascht aufgrund seiner Ruhe und seines jähen Melos, das gegen Ende des Stückes nochmals eine Referenz erfährt, bevor statt eines Tuttifinales ein bedächtig-ironischer Blechchoral das Werk abschließt. Das Orchester wird dem geistreichen Charakter der Variationen durchaus gerecht, indem Manze auch hier auf die stete Balance in Klang und Tempo achtet. Gleichzeitig jedoch wirkt dieses Orchesterstück in seinem gänzlichen unemotionalen Charakter auch etwas unbeteiligt neutral, was aber vielleicht weniger am Werk selbst als an der Reihenfolge Symphonie-Variationen liegen dürfte.

Nichts von diesen Mankos gilt für die Barococo-Suite für Orchester op. 64. Weder Altersknappheit noch sonstige Spätstil-Topoi prägen dieses Werk des 65-jährigen Komponisten, vielmehr burleske Heiterkeit und pfiffiger Humor. Allein schon in der Entrata, die ihren Bezug zu Strawinsky nicht verleugnet, gleitet das Orchester niemals in bloß stilisierende Belanglosigkeit ab, sondern wird mit seiner längst bewiesenen Spielfreude dieser burschikosen Eröffnung musikalisch gerecht. Auch die nur scheinbar bedächtigere Gavott offenbart einen bissigen Charakter, den die Helsingborger jedoch niemals überziehen, sondern durch ihr konsequent musikalisches Gestalten eher bestärken. Dies gilt auch für die Stellen, wo sich Larsson verfremdende Zitate (so aus dem Thema der Gavotte von Bachs dritter Partita für Violine Solo in E-Dur) in noch fremderen Orchesterfarben erlaubt (Posaune, Fagotte sowie Streicherbässe): man darf hier Persiflage nicht mit lustlosem Imitat verwechseln. Speziell ehemalige Suzuki-Geigenschüler werden sich beim Soloviolin-Zitat des Gavottthemas von Francois-Joseph Gossec ein Prusten oder Schmunzeln nicht verkneifen können. Von welchem Zusammenhalt die Violingruppe der Helsingborger ist, zeigt allein deren Solo in der Serenata, das bestechend klar und zugleich wie aus dem Hintergrund erklingt. Gleiches gilt für die Holzbläser, vor allem Klarinetten und Fagotte, im darauffolgenden Menuett, die sich hier einen augenzwinkernden, mitunter temperamentvollen Dialog mit dem übrigen Orchester leisten. Dass diese Suite auch ruhigere Seiten hat, zeigt sich in der darauffolgenden Barkarol, deren pastoralen Charakter die Helsingborger durch klangliche Schlichtheit betonen, nicht ohne die Doppelbödigkeit dieses Tanzes zu unterstreichen. Schließlich beweist das Orchester in der Kadrilj & Galop ein letztes Mal, dass es dem quirligen Humor der Suite genauso gewachsen ist wie den Charakteristika aller Stücke und Werke davor auch.

Insgesamt also haben die Helsingborger mit dieser CD nicht nur ihre eigene Klasse und ihr Profil als ein nordisches Referenzorchester bewiesen. Auch Andrew Manze ist, obgleich die Aufnahme schon vier Jahre alt ist, als Dirigent immer noch eine Neuentdeckung, die sich keineswegs vor kommerziell etablierteren Größen wie Simon Rattle oder Mariss Jansons zu verstecken braucht. Außerdem vermag diese Aufnahme dem Hörer ein vielfältiges Bild von Larsson und seinen Schöpfungen zu vermitteln, unabhängig davon, ob man selbst Experte oder Liebhaber ist. Das Gesamtresultat sind somit gute Voraussetzungen, um Lars-Erik Larsson und allgemein seine „Sondergeneration“, zu der auch Dag Wirén und Allan Pettersson gehören, in ein noch helleres Licht zu rücken, als sie es in Schweden vielleicht schon sind.

[Peter Fröhlich, Oktober 2015]

Ein Heimspiel

EuroArts; Unitel Classica; DVD 2072758; ISBN: 8 80242 72758 9

6

Im Prager Smetanasaal des Gemeindehauses dirigiert Jiří Bělohlávek die Tschechische Philharmonie im Rahmen des traditionsreichen Prager Frühlings mit dem wohl bekanntesten Werk des Namenpatrons Bedřich Smetana: Má Vlast, Mein Vaterland. Aufgenommen wurde das Eröffnungskonzerts des Festivals von 2014 unter der Leitung des Videodirektors Tomáš Šimerda.

Die tschechische Musikszene wird hierzulande nach wie vor recht marginal wahrgenommen, lediglich die Namen Bedřich Smetana, Antonin Dvořak, Leoš Janáček und vielleicht noch Josef Suk und Bohuslav Martinů, Ervin Schulhoff sowie ganz am Rande Zdeněk Fibich sind international ein Begriff. Während Dvořak immerhin mit seinen späten Symphonien sieben bis neun und dem Cellokonzert omnipräsent ist und von Janáček gelegentlich einmal eine Oper oder ein Kammermusikwerk aufgeführt wird, haben es die anderen Komponisten nach wie vor recht schwer, sich außerhalb Böhmens durchzusetzen. Smetana konnte nur zwei Orchesterwerke beitragen, die heute immer und immer wieder von sämtlichen Orchestern dieser Welt präsentiert werden und zu Dauerrennern avancierten: Vltava, zu deutsch die Moldau, sowie die Ouvertüre zur Oper ‚Die verkaufte Braut’. Vernachlässigt hingegen sind die fünf anderen Stücke des circa 75-minütigen Zyklus ‚Ma Vlást’, dessen zweite Nummer die Moldau ist, und die einen nicht minder wertvollen Beitrag zur tscheschischen Nationalromantik bilden als diese: Die epochale Burg Vyšehrad, die männerhassende Rebellin Šárka, das Naturschauspiel ‚Aus Böhmens Hain und Flur’ (Z českých luhů a hájů) sowie das Hussitenlager Tábor und der Hussiten letzter Rückzugsort Blaník sind die Besungenen, die so zentral sind für Smetanas tönende Verherrlichung seines Vaterlandes.

Es ist offenkundig, dass Jiří Bělohlávek und die Tschechische Philharmonie hier ein absolutes Heimspiel haben, jedes Stück ist bis ins Kleinste genauestens bekannt und sämtliche Charaktere sind minutiös idiomatisch erfasst. Von der zartesten Kantilene bis zum überwältigendsten Brausen, vom Naturlaut bis zum geschwinden Bauerntanz kann der Dirigent dem Orchester jede Nuance in Vollendung entlocken. Zu nennen ist hier beispielsweise der trübe Klarinettengesang vor dem finalen Aufruhr in Šárka, bei welchem durch die tremolierenden Streicher eine derartig gewaltige Spannung aufgebaut wird, dass sich der Hörer kaum auf dem Stuhl halten kann. Der Orchesterklang ist dabei durchgehend sehr durchsichtig und klar, auch in polyphonen Passagen wie den die belebte Natur darstellenden Fugati und Fugenbruchstücken aus Z českých luhů a hájů bleibt jede Stimme deutlich und eigenständig. Das verleiht dem Musikerapparat etwas sehr Plastisches und Bewegliches, der Klang scheint alles andere als zweidimensional zu sein. Bělohlávek verzichtet trotz der Transparenz weder auf einen vollen Klang noch auf herbe Timbres, die auch das eine oder andere Mal dämonischer herüberklingen können. Der Klang wird freilich auch beeinflusst durch die interessante Aufstellung des Orchesters mit dem Schlagwerk von der Publikumsseite aus rechts vor den Posaunen und etwas seitlich der Trompeten sowie den sechs (!) Harfen hinten links neben den acht Kontrabässen, die hinter den Posaunen die letzte Reihe bilden. Somit erhalten die tiefen Instrumente von unten eine solide Klangbasis durch die Bässe, und den hohen Streicher wird der Rücken gestärkt durch die positionsbedingt gut hörbaren Harfen. Das Schlagwerk fällt von rechts überfallmäßig ein. Durch das visuelle Medium lässt sich bei dieser Aufnahme zudem etwas über das Dirigierverhalten von Jiří Bělohlávek sagen, was bei rein akustischer Dokumentation im Verborgenen bleiben würde. Die Bewegungen des Orchesterleiters sind größtenteils auf Brust- und Kopfhöhe, er vermeidet unnötig ausladende Gesten. Für die Musiker ist seine Führung sehr verständlich und offen, sie lädt zur aktiv kontrollierten Klanggestaltung ein und strukturiert die volle Bühne spielerisch.

Die DVD zeigt eine unglaubliche Vielfalt an Kameraperspektiven; Gesamt- und Teilaufnahmen der Musiker und des Dirigenten wechseln mit Kameraflügen über die Halle oder Ansichten von hinten oder gar von oben. Sogar die Triangel hat eine eigene Einstellung, wobei diese nicht so grell herausscheppert und das Klangbild dominiert wie in der mittlerweile wohl bekanntesten Aufnahme des ganzen Zyklus von Rafael Kubelik und den Wiener Philharmonikern aus dem Jahr 1959, wo dieses kleine Instrument durch die ungewohnte Präsenz eine außergewöhnliche und angenehme Klangfarbe beisteuern kann. Interessanterweise stören trotz so vieler Einstellungen zu keiner Zeit andere Kameras, die normalerweise in Filmproduktionen irgendwo klobig herumstehen oder durch den Raum geschoben werden. Meist sieht man nur bei ganz genauem Hinschauen die Videoaufnahmegeräte. Ruhig stehen die Kameras hier üblicherweise nicht, durch leichte Fahrten bleibt das Bild stetig im Fluss. Erstaunlich oft sind die Kamerafahrten und Schnitte sogar der Musik angepasst, an dramatischen Höhepunkten bewegen sich vielerorts die Kameras schneller und es werden außergewöhnlichere Positionen wie diejenige senkrecht von oben gewählt, außerdem gibt es dann mehr Schnitte. Auch die Audiowiedergabe ist auf einem durchwegs hohen Niveau und kann glaubhaft die Fülle an einzeln ausgearbeiteten Stimmen vermitteln.

Auch der äußere Eindruck der DVD ist sehr ansprechend mit dem stimmungsvollen Bild einer vernebelten Mooslandschaft und schlicht gehaltener Aufschrift. Das Booklet gibt auf Französisch, Deutsch und Englisch (nicht jedoch auf Tschechisch!) ausführlich Auskunft über Smetana, seinen Zyklus und die einzelnen Stücke, wodurch der Leser alles erfährt, um sich ein Bild zu machen über die Hintergründe der doch sehr programmgesteuerten Musik von Má Vlast. Über das Orchester lässt sich das Booklet allerdings nur auf Englisch aus, Informationen über den großartigen Dirigenten fehlen vollständig, was mehr als bedauerlich ist. Nichts desto Trotz liegt hier wohl eine der besten Musikfilmproduktionen dieses Jahres vor, die sowohl künstlerisch als auch akustisch und optisch wahrhaft hochkarätig ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Eine kluge Wahl

CPO 777 740-2
EAN: 761203774029

5

August Klughardt (1847-1902)

Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 57
Drei Stücke für Orchester op. 87

Anhaltische Philharmonie Dessau
Antony Hermus

Dass durch die CD der musikalische Kosmos sich enorm erweitert und vergrößert hat, gehört zu den Segnungen diese Mediums (auch wenn die Vinyl-LP bei einigen Enthusiasten wieder auf dem Vormarsch ist).
Zu diesen unzähligen Neuentdeckungen zählt auch die Produktion von CPO mit zwei Werken des Dessauer Komponisten August Klughardt (1847-1902). Das wieder einmal lobenswert umfassende, von Ronald Müller kenntnisreich verfasste Booklet verdeutlicht den Werdegang und das musikalische Umfeld des heute bis auf sein spätes Bläserquintett nahezu unbekannten Komponisten, der immerhin Anhaltischer Hofkapellmeister war und als glühender Wagner-Verehrer 1893 eine erste zyklische Aufführung des „Ring der Nibelungen“ in Dessau auf die Bühne brachte.
Sogar in New York erklang seine Vierte Symphonie 1893 drei Monate vor der Neunten von Antonín Dvorák!

Die Kritik bescheinigte Klughardt erstaunliches kontrapunktisches Geschick, was man beim Mitlesen der Partitur – sie ist bei IMSLP einzusehen – auch sehr gut nachvollziehen kann. Überhaupt hinterlässt Klughardts Werk einen durchaus überzeugenden Eindruck. Die Melodik des zweiten Satzes (Andante cantabile) ist von reicher Erfindung, wie auch die Kritik nach der Uraufführung bescheinigte. Seine Instrumentation ist natürlich von seinen Vorbildern nicht unbeeinflusst, die intensive Verwendung der Blechbläser und der poetisch bewegliche Einsatz der Holzbläser erinnern an Dvorák, stellen aber mitnichten eine Kopie dar. Klughardt ist ein konservativer Meister der Generation zwischen Brahms und Bruch einerseits, Strauss und Mahler andererseits, mit offenem Geist zwischen den Zeiten tätig.

Was immer wieder erstaunt, ist und bleibt die Verwirklichung der Partitur – zu einer Zeit, als es weder Notendruckprogramme noch Computer gab, alles musste also händisch zu  (Noten)Papier gebracht werden – in klingende Strukturen, in mitnehmende und ansprechende Musik. All das wieder aufleben zu lassen, ist bei dieser Aufnahme mit dem holländischen Dirigenten Antony Hermus und der Anhaltischen Philharmonie dem Label CPO wieder einmal sehr gut gelungen, das Klangbild ist wunderbar eingefangen, der Reichtum des Orchesterklangs und die transparente Vielschichtigkeit des Satzbildes machen die bislang ziemlich vergessene Musik von August Klughardt zu einer bemerkenswerten Neu- und Wiederentdeckung.

Die drei Orchesterstücke op. 87 – einer Gönnerin des Orchesters gewidmet – sind leichtere Kost, die jedoch Klughardts Kunst auch ansprechend widerspiegelt. Besonders die Harfe im ersten Stück bringt eine aparte, bei diesem Komponisten selten anzutreffende Farbe ein, der er viel Raum gibt. Das zweite Stück, eine Gavotte, haucht der vorklassischen Tanzform neues Leben ein, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen, doch auch da verdient die brillante Instrumentation Erwähnung. Ausnehmend gut gelaunt kommt die abschließende Tarantella daher, leichtfüßig und schwungvoll beschließt sie diese Orchester-Suite.

[Ulrich Hermann; Oktober 2015]

David und Goliath: Préludes und Sonate

Challenge Classics CC72684; ISBN: 608917268423

4

Der aus Philadelphia stammende Peter Orth ist zu hören mit russischer Klaviermusik um die Wende zum 20. Jahrhundert. Kurze Miniaturen aus der Feder des jungen Alexander Scriabin, seine 24 Préludes op. 11, stehen der großformatig-dreisätzigen ersten Sonate op. 28 des ein Jahr später geborenen, gereiften und auf dem Weltparkett etablierten Sergei Rachmaninov gegenüber.

Zwei Herausforderungen, wie sie konträrer kaum sein können, bietet das Album des mittlerweile in Deutschland lebenden Pianisten Peter Orth. Das eine Werk, ein 24-teiliger Préludes-Zyklus durch alle Tonarten, feingeschliffene und detaillierte Kristalle mit einer deutlichen Anlehnung an Chopins Préludes op. 28, setzt sich vollständig ab von dem knapp 20 Jahre später entstandenen anderen Stück, einer über 40 Minuten langen Sonate höchster Virtuosität, die eher noch im Zeichen Tschaikowskis steht. Technisch bieten beide Komponisten ein gewaltiges Spektrum an Hürden auf, doch von der Art der musikalischen Ausgestaltung ist es etwas vollkommen anderes, eine kaum eine Minute lange Miniatur detailgetreu zu formen und eine ganze Welt in ihr entstehen zu lassen, als einen viertelstündigen Mammutsatz in all seiner Zersplitterung und Gegensätzlichkeit zusammenzuhalten. Hier wird beides verlangt.

Den ersten Programmpunkt bilden Alexander Scriabins 24 Préludes op. 11, die in einem achtjährigen Kompositionszeitraum zu seinem umfangreichsten Préludes-Zyklus avancierten. Der junge Scriabin, später als großer Neuerer hervorgetreten (vor allem durch seine Quartharmonik, die sich unter anderem im berühmt gewordenen Prometheusakkord äußert), ist hier vor allem noch von Chopin beeinflusst und ahmt dessen Gattungen nach, so, wie er auch seinen Stil aufgreift und fortführt. Doch ist Chopin bei weitem nicht die einzige schöpferische Kraft hinter dem Opus 11, wie viele so gerne behaupten mögen: Scriabin zeigt hier schon eine enorm moderne Seite seiner Musik auf, die sich absetzt von allen bisherigen Einflüssen. Wie subtil schafft es das zweite der Préludes, die kleine Septime durch stetige Verwendung ohne Auflösung in die Oktave (sondern mit Weiterführung in die Sexte) als Konsonanz zu etablieren; welch dämonische Kräfte herrschen in der sechsten Miniatur, die uns in einem Atemzug packt und durch all die schmetternden Oktaven reißt, nur um uns verstört in voller Akkordik zurückzulassen; und wie neuartig ist der Gebrauch des linken Pedals in der geheimnisvoll-vernebelten Nummer 16, das dezidiert als eigene Klangfarbe vorgegeben wird und wohl erstmalig in der Musikgeschichte für ein Fortissimo hinzugenommen wird.

Als Folgepaket gibt es die nach wie vor im Schatten der zweiten stehende erste Sonate von Sergei Rachmaninov, dessen Schaffen im Gegensatz zu Scriabin sein Leben lang der Romantik verpflichtet war. Dieses doch recht langatmige Werk begann der Komponist bei einem Aufenthalt in Dresden, inspiriert vor allem von Goethes Faust, was fast eine Art der programmatischen Anlehnung für die Sonate bietet. Davon ist allerdings im Notentext recht wenig zu erkennen, es sei denn, man will die ostinaten Begleittriolen des zweiten Satzes mit dem ebenfalls in d-Moll stehenden „Gretchen am Spinnrade“ op. 2 von Franz Schubert vergleichen. Insgesamt ist die Sonate ziemlich zerspalten in viele kleine Einzelabschnitte, die auch vom Tempo immer wieder auseinanderdriften, und einen sinnvollen Zusammenhalt entstehen zu lassen kompliziert machen.

Makellos angenehm ist die Tonqualität der Einspielung, die fein ausgewogen alle Details des Spiels zum Hörer hinüberträgt. Das ausschließlich englischsprachige Booklet ist mit Witz und Hintergrundwissen von Jens F. Laurson verfasst, wobei leider auch er übersieht, dass Scriabins Frühwerk neben Chopins Einfluss auch etwas Eigenes und Neues darstellt. Im Spiel von Peter Orth gibt es immer wieder einige Angewohnheiten, die irritierend wirken. Vor allem sei hier genannt der asynchrone Anschlag beider Hände, teils an Stellen, wo sie so offensichtlich zusammen die Mechanik betätigen müssen – sogar in den Schlussakkorden der Sonate ist die linke Hand der rechten einfach voraus. Bei Scriabin sollten zudem die unwillkürlichen Temposchwankungen hervorgehoben werden, durch die der Hörer immer wieder aus der eigentlich unermesslichen Spannung dieser Miniaturen gerissen wird – gerade in dem diabolischen sechsten Prélude wirkt plötzliche Zurückhaltung sehr dem gehetzten Charakter entgegen. Insgesamt ist jedoch eher die Tendenz zu beobachten, dass die langsamen Tempi deutlich zu schnell genommen werden, wodurch gerade bei Scriabin viele wichtigen Details nicht mehr ans Licht treten können und sich nicht alle Stimmen voll zu entfalten vermögen. So überzeugen nicht alle der Préludes wirklich durch die eigentliche Klarheit und Durchsichtigkeit, die ihnen trotz aller polyphonen Wendungen und konfliktiven Rhythmik innewohnt. Dennoch gibt es einige Nummern, die bei Orth durch exakt überdachten Gestus bestechen, allen voran die Nummer 16, die mit unruhigem Geist und logischer Steigerung auftrumpft. Auch die Miniaturen 11-14, 17 und 21 wurden sehr genau erfasst, und insgesamt ist die zweite Hälfte ausgewogener und konzentrierter als die erste. Äußerst positiv fällt auf, dass Peter Orth vielen pianistischen Klischees widerspricht, was die sangliche Phrasierung der Melodie betrifft – der Pianist hat ein gutes, natürliches Gespür für energetische Verläufe und akzentuiert nicht wie so viele anderen ausgerechnet die Auflösungen oder mechanisch die schweren Taktzeiten, sondern die spannungsintensiven Momente innerhalb der Linien. Deutlich reflektierter als Scriabin gelingt ihm die hochvirtuose Sonate op. 28 von Rachmaninov in d-Moll. Die grundverschiedenen Charaktere der einzelnen Abschnitte vermag Peter Orth erstaunlich gut zusammenzuhalten, ohne die große Form übermäßig bröckeln zu lassen – soweit es das Werk überhaupt zulässt, nicht in all den vielen Episoden und Verwinklungen verloren zu gehen. Zwar kann man mancherorts durchaus auf den Gedanken kommen, der mechanisch-technische Effekt überwiege das eigentlich musikalische Geschehen, doch wird das immer wieder schnell widerlegt durch ausgefeilte Melodieelemente in all dem virtuosen Gewühl, durch die einen doch ein wenig danach verlangt, die so selten zu hörende Sonate neben der zweiten öfter einmal vernehmen zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Auftragswerke von sehr unterschiedlichem Niveau

Métier, msv28554, EAN: 809730855429

Grete1

Diese interessante CD des US-amerikanischen Labels métier zeigt, wie unterschiedlich das Niveau im Bereich der neotonalen Musik heute ist. Mit der „Etruria“ betitelten zweiten Symphonie des Schweizers Thomas Fortmann, dem „Capriccio“ für Violine und Orchester von Robert Nelson und „Astral Blue“ von dem US-Komponisten Pieter Lieuwen haben wir hier immerhin drei groß angelegte Werke von lebenden Komponisten auf dem Album. Als „Wiedergutmachung“ für so viel Zeitgenössisches bekommt der Hörer dann noch eine Transkription Merlin Pattersons von Percy Graingers zauberhaftem Zyklus „Lincolnshire Posy“ zu hören.

Als wären wie noch in den Zeiten der guten alten Schallplatte, könnte man diese CD getrost in eine A- und eine B-Seite unterteilen. Die A-Seite enthielte dann die offen gesagt relativ uninspirierten Werke Thomas Fortmanns und Robert Nelsons. Fortmann ist ein Komponist, der (man muss es leider so sagen) nicht auf höchstem Niveau schreibt, was man vor allem an der Orchestrierung seiner zweiten Symphonie merkt. Sein Stil ist für einen Mitteleuropäer recht ungewöhnlich, erinnert eigentlich eher an die Musik von US-Komponisten wie William Schuman oder Roy Harris. Nur ist sie viel weniger überzeugend gemacht. Seine Orchestrierung hat Lücken so groß, dass man einen Hut durchwerfen könnte und der Einsatz des großen Bestands an Perkussionsinstrumenten in seiner „Etruria“-Symphonie wirkt behäbig und schwerfällig. Das ganze Stück wirkt wie ein tanzender Zirkuselefant: Trotz aller Mühe nicht grazil, sondern behäbig und auch etwas plump.

Das „Capriccio“ von Robert Nelson ist leider das mit Abstand schwächste Stück auf dem Album. Es ist zwar handwerklich viel viel besser gemacht als Fortmanns Symphonie und weiß mit kluger, effektvoller Orchestration vordergründigen Glanz zu versprühen, aber in seiner ganzen Art und Weise ist das Stück unglaublich antiquiert. Hätte man mich gefragt, wer dieses Stück wohl komponiert haben könnte, hätte ich womöglich auf einen weniger inspirierten Moment von Arnold Bax getippt. Die sperrige Chromatik, die Nelson allein zu dem Zweck ins Stück eingebaut zu haben scheint, damit der Violinsolist (das Stück wird auf diesem Album vom Widmungsträger des Werks Andrzej Grabiec gespielt) etwas zum Brillieren hat. Musikalisch macht das hingegen kaum Sinn und wirkt in der ansonsten extrem konservativen Musiksprache Nelsons auch eher deplatziert.

Nun kann man sich fragen, warum ich dieses Album überhaupt rezensiere, und das liegt eben an der „B-Seite“, die mit dem Stück „Astral Blue“ von Pieter Lieuwen beginnt. Lieuwen ist einer der leider selbst in seinem Heimatland nur wenig beachteten Komponisten. Trotzdem ist Lieuwen einer, auf den man hinweisen muss, denn er hat alles, was ein guter neotonaler Komponist haben muss: Makelloses Handwerk, eine eigene, persönliche „Stimme“, die unmittelbar wiedererkennbar ist und vor allem schreibt er wunderbar inspirierte, wirklich gute Musik, die im besten Sinne modern ist obwohl sich Lieuwen konzeptionell weitgehend in einem kompositorischen Rahmen bewegt, der auch im 19. Jahrhundert schon voll gültig war. Seine Musik erinnert in Teilen an John Luther Adams, ist aber viel besser und hat zudem wie gesagt eine ganz eigene „Note“, die ein Stück von Lieuwen eben unverwechselbar zu einem Stück von Lieuwen macht. Leider leider gibt es derzeit neben dem hier zu hörenden wunderbaren Stück „Astral Blue“ nur noch zwei andere CDs, die Musik von Pieter Lieuwen für uns Deutsche (die wir realistisch betrachtet wahrscheinlich live nie in den Genuss kommen werden, jemals ein Stück Lieuwens in einer deutschen Konzertveranstaltung hören zu können) greifbar machen (eine bei Albany Records und eine bei Naxos). Ansonsten herrscht hier an einer Stelle Ebbe, wo ich persönlich mir eine Flut wünschen würde, zumal Lieuwens Musik auch ein durchaus großes Publikum ansprechen müsste, weil sie unmittelbar zugänglich ist.

Abschließend möchte ich noch auf Merlin Pattersons Transkription zu Graingers „Licolnshire Posy“ hinweisen. Patterson gilt als Profi auf dem Gebiet des gediegenen Arrangements, und das stellt er auch hier wieder unter Beweis. Graingers Komposition kann man sich kaum entziehen. Sie ist einfach zauberhaft, wenn sie auch keine „große Musik“ im engeren Sinne darstellen mag. Aber sie zählt andererseits auch zur besten „leichten“ Musik, die ich mir vorstellen kann.
„Lincolnshire Posy“ ist von Grainger im Original für Blechblasorchester geschrieben worden. Patterson ergänzt in seiner Fassung nicht nur Streicher und etwas „Tschingderassa“, sondern er hat das Stück wirklich grundlegend neu orchestriert und erreicht ein sehr ansprechendes Ergebnis. In dieser Fassung möchte man dieses schöne Stück gern möglichst vielen Sinfonieorchestern anempfehlen.

Und da wären wir beim letzten Punkt: Bei den Interpreten. Das Moores Symphony Orchestra ist das Orchester der Moores School of Music aus Houston. Und dafür dass es sich hier offenbar um ein reines Studentenorchester handelt, erreicht das Ensemble ein erstaunlich hohes Niveau, das vielen professionellen Orchestern das Wasser reichen kann, wenn auch nicht allen. Leichte Schwächen gibt es manchmal in der Rhythmik der Streicher zu beklagen, aber solche kleinen Mängel kennt man auch von manchem Orchester, das einen „größeren“ Namen trägt. Dirigent Franz Anton Krager macht seine Sache sehr gut und scheint ein Fan davon zu sein, effektvolle Orchestrierungen auch deftig auszukosten, was für den Hörer natürlich eine Menge Spaß beim Hören bedeutet.
Kurz gesagt ist dieses Album eine nur halb prächtige Angelegenheit, aber die Hälfte, die man „prächtig“ nennen darf, ist so toll, dass ich den Kauf der CD eigentlich nur empfehlen kann. Und vom Moores Symphony Orchestra würde ich bald gern mehr hören. Das ist ein wirklich tolles Ensemble!

[Grete Catus, September 2015]