Archiv für den Monat: August 2015

Authentische Mannigfaltigkeit

Heinrich Aerni: Zwischen USA und Deutschem Reich. Hermann Hans Wetzler (1870-1943). Dirigent und Komponist

Monographie, erschienen bei Bärenreiter (ISBN 978-3-7618-2358-3)

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Dieses Buch habe ich mit großer Spannung erwartet, nachdem wir in der Studienpartitur-Reihe Repertoire Explorer (www.musikmph.de) vier Orchesterwerke Hermann Hans Wetzlers erstmals nach langer Zeit wieder verfügbar gemacht hatten und Heinrich Aerni bei der Abfassung der Vorworte eine selbstlose Hilfe war. Hermann Hans Wetzler war in den 20er Jahren in Deutschland und auch – wenn auch in geringerem Maße – in den USA ein großer Name konservativer Couleur. Er ist einer der Meister jener mit maximaler äußeren Wirkung geschriebenen Musik fürs große Orchester, die wir als ‚Kapellmeistermusik’ kennen (dies ohne jeden abfälligen Beigeschmack!), also Musik, die mit immenser Beherrschung der instrumentalen Mittel im großen Maßstab verfasst wurde. Die heute prominentesten Komponisten dieser Sorte, die vor allem im deutschen Sprachraum erblühte, waren natürlich – in der Nachfolge von Wagner, Liszt und Bülow – Richard Strauss, Gustav Mahler, Hans Pfitzner, Alexander Zemlinsky, der späte Max Reger, Franz Schreker und schließlich als einer, der ganz andere Wege einschlug, Anton Webern, aber auch Paul Büttner, Hermann Suter, Emil Nikolaus von Reznicek, Max von Schillings, Siegmund von Hausegger, Wilhelm Furtwängler, Felix Weingartner, Max Fiedler, Georg Schumann, und gewiss Wetzler müssen hier, stellvertretend für viele weitere, genannt werden. Fast war es so, dass ein Dirigent, wollte er beweisen, wie tief sein musikalisches Verständnis gereichte, dies zu zeigen hatte, indem er eigene Kompositionen in die Öffentlichkeit brachte, und wer sollte schon mehr vom Orchester verstehen als er? (Auch wenn dem geringere Wirkung beschieden war wie bei Arthur Nikisch, Leopold Damrosch, Frederick Stock, Bruno Walter, Otto Klemperer, Robert Heger oder Leo Blech.)

Wetzlers Leben spielte sich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ab, mit einem späten, durch seine jüdische Herkunft erzwungenen Intermezzo in der Schweiz. 2006 gelangte sein umfangreicher und höchst geschichtsrelevanter Nachlass in die Zürcher Zentralbibliothek, wo Heinrich Aerni die Gelegenheit beim Schopf ergriff und sich der Sache intensiv annahm, was letztlich zur vorliegenden Buchveröffentlichung führte. Wie sehr wäre zu wünschen, dass eine derart fundiert informierende Publikation auch anderen Komponisten zugute käme! Wie schön wäre es z. B., ein Dresdner Bibliothekar nähme sich in vergleichbarer Weise Paul Büttners an, oder ein Basler Bibliothekar Friedrich Kloses oder Felix Weingartners – wenn man schon an der Quelle sitzt!

Am 8. September 1870 in Frankfurt am Main geboren, wuchs Wetzler zunächst in Chicago, dann in Cincinnati auf, wo er Violine, Klavier, Orgel und alle musiktheoretischen Fächer studierte und bald zusammen mit seiner Schwester auftrat. 1884 zog die Familie weiter nach New York, im Jahr darauf zurück nach Frankfurt. 1892 wurde Wetzlers Symphonie in Es dort am Hoch’schen Konservatorium uraufgeführt, und noch im selben Jahr übersiedelte er wieder nach New York und heiratete 1896 die Schwester eines Freundes, mit welchem er jahrelang zusammen an der Konstruktion eines ‚Luftschiffes’ arbeitete. 1898 dirigierte er sein erstes eigenes Konzert in New York, und 1902 gelang es ihm, mit geballtem Mäzenatentum im Rücken das Wetzler Symphony Orchestra zu gründen, welches zwei Spielzeiten lang für großes Aufsehen sorgte und u. a. 1904 die Uraufführung von Richard Strauss’ Sinfonia domestica spielte. Doch dann entglitt ihm das Glück. Er zog 1905 zurück nach Deutschland und trat nacheinander Kapellmeisterstellen in Hamburg, Elberfeld (ab 1929 Teil der neugegründeten Stadt Wuppertal), Riga und Halle an, bevor er 1915 in Lübeck Nachfolger Wilhelm Furtwänglers wurde und seine erfolgreichste Ära als Dirigent erleben durfte. In diese Zeit fiel auch 1917 der durchschlagende Erfolg seiner Ouvertüre (und Schauspielmusik) zu Shakespeares ‚Wie es euch gefällt’. 1919 wurde er neben Otto Klemperer erster Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Köln, seine Symphonische Phantasie op. 10 kam zur Uraufführung, doch 1923 verlor er nach Zerwürfnissen seine Anstellung und fand auch keine andere mehr. Sein aufsehenerregendster Erfolg als Komponist gelang ihm 1923 mit den ‚Visionen’ (eigentlich ‚Silhouetten’) für großes Orchester, die ein Intermezzo ironico enthalten, in welchem in massiv grotesker Weise moderne Klischees verspottet werden. Höhepunkt seines Schaffens ist meines Erachtens freilich die symphonische Legende ‚Assisi’ op. 13, mit welcher er 1925 den 1. Preis im Kompositionswettbewerb des North Shore Festival in Michigan gewann. 1928 kam in Leipzig seine Oper ‚Die baskische Venus’ zur Uraufführung, die sehr gespaltene Reaktionen hervorrief. 1931 übersiedelte Wetzler in die Schweiz, 1932 spielte Gustav Havemann in Berlin erstmals seine Symphonie concertante für Violine und Orchester, 1933 starb Wetzlers Frau Lini in Wiesbaden, und 1935 zog Wetzler nach Ascona zu seiner Freundin Doris Oehmigen. 1937 wurde in Salzburg sein Magnificat aus der Taufe gehoben, und 1940 emigrierte er in die USA, wo er sein Streichquartett op. 18 vollendete, bei Paul Hindemith Unterricht in modernem Tonsatz in erweiterter Tonalität nahm, den ersten Satz einer American Rhapsody für Orchester schrieb und am 29. Mai 1943 in New York starb.

Als Komponist schwamm Wetzler im Fahrwasser seiner Vorgänger, mit einer immensen lyrischen und dramatischen Begabung versehen, und mit ungeheurem Ehrgeiz und Fleiß. Wagner, Strauss, vieles weitere, später auch Einflüsse jüngerer Provenienz sind omnipräsent, doch in seinen stärksten Werken, in den gelungensten Passagen gerade in ‚Assisi’, findet Wetzler zu einem magisch fesselnden Ton, der nicht nur mit grandioser Könnerschaft imponiert, sondern auch in einer Neigung zu versponnener Naturmystik fasziniert. Großartiger kann ein Orchester nicht klingen! Bei cpo ist vor sechs Jahren eine CD mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz unter Frank Beermann erschienen, mit den ‚Visionen’ und ‚Assisi’, die an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen sei (natürlich stammt der fundierte Begleittext aus der Feder von Aerni).

Heinrich Aerni gibt in seinem Buch nicht nur einen höchst schattierungsreichen und spannenden Überblick über Leben und Schaffen Wetzlers, der vor allem mit seiner scharf beobachtenden, zitatenreichen Zeitzeugenschaft fesselt; er liefert zudem im zweiten Teil eine Fülle statistisch aufgeführter Fakten, die als solide Grundlage jeder weiteren Beschäftigung mit diesem vergessenen Komponisten und Dirigenten dienen werden: auf eine knappe Zeittafel folgt ein Werkverzeichnis mit allen relevanten Angaben (auch zu Wetzlers zeittypischen Bach-Bearbeitungen); ein Schriftenverzeichnis (darunter einiges Unveröffentlichte; hier dürfte noch manche wertvolle Entdeckung für die Öffentlichkeit gemacht werden, worauf auch zwei diesbezügliche Briefe Thomas Manns hinweisen); ein umfassendes Repertoireverzeichnis des Dirigenten, Pianisten und Organisten mit exakten Datierungen; eine Auflistung der Aufführungen von Wetzlers Werken zu seinen Lebzeiten (60 Aufführungen allein der Ouvertüre zu ‚Wie es euch gefällt zwischen 1917 und 1923, und 42 Aufführungen von ‚Assisi’ bis 1942); ein umfangreicher Anhang mit Notenbeispielen; drei ausgewählte Texte von Lini Wetzler und, wie erwähnt, Thomas Mann; und ein ziemlich ergiebiges Quellen- und Literaturverzeichnis.

Aerni versteht es, so zu schreiben, dass man alles mit Genuss und Gewinn liest. Gerne unterstreicht er Einzelfakten mit tabellarischen Mitteln, was sehr anschaulich ist. Auch das Bildmaterial ist bemerkenswert vielfältig. Wenn Wetzler damals als Dirigent umstritten war, so möchte ich dem einzig einen Gesichtspunkt anfügen, der bei Aerni nicht angesprochen wird. Damals war das technische Niveau der Orchester natürlich viel dürftiger als heute (jedes heutige deutsche B-Orchester wäre in dieser Hinsicht damals ein Spitzenensemble gewesen); bei den Dirigenten jedoch verhielt es sich umgekehrt: sie waren viel substanziellere Musikerpersönlichkeiten, und wir dürfen sicher sein, dass ein Mann von der Kompetenz, den Fähigkeiten und der unbändigen Energie Wetzlers heute in der allerersten Riege der Dirigenten zuhause wäre. Dies, um die Relationen über die Zeiten hinweg zurechtzurücken.

Fazit: ein exzellentes Buch, das uns nicht nur Hermann Hans Wetzler, sondern seine ganze Zeit und Zunft in einem Maße und einer authentischen Mannigfaltigkeit näherbringt, wie dies sehr selten ist.

Christoph Schlüren, August 2015

Potpourri voller Überraschungen

Musiques Suisses MGB CD 6284

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Die jungen Geigentalente Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann bringen, zusammen mit ihrem Klavierpartner Benyamin Nuss, lang in Vergessenheit geratene Kammermusik-Kostbarkeiten von Paul Juon zum Erklingen

Rechtzeitig zum 75. Todesjahr des Russischen Brahms mit Schweizer Wurzeln, Paul Juon, hat Musiques Suisses eine CD herausgebracht, die das breite Spektrum des Geigers und Professors für Komposition und Kammermusik unter Beweis stellen. Die talentierten Geigerinnen Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann, letztere bereits weithin bekannt als Konzertsolistin, erarbeiteten mit Benyamin Nuss als vorzüglichem Klavierpartner zwei Werkgruppen – den Silhouettes-Zyklen, genannt Bücher, und die sieben kleinen Tondichtungen –, in denen Juon ausschließlich mit der seltenen Besetzung für zwei Violinen und Klavier agiert und beweist, dass diese dem klassischen Klaviertrio in nichts nachsteht.

Das erste Buch der Silhouettes erklingt unter den Händen der jungen Musiker mit gekonnter Balance zwischen Klangsinnlichkeit (manchmal an der Grenze zum Schmalz) und formalem Einfühlungsvermögen. Halten sich die Idylle und der Douleur noch eher im Rahmen anspruchsvoller Salonstücke, so bietet die Bizarrerie – so lang wie beide Sätze davor zusammen – schon deutlich symphonischere Züge. Allein das innere Wesen dieses Schlussstückes strotzt nur so von einer für Juon charakteristischen Polarität, sprich zwischen ausgelassener Vitalität als Beginn und Ende und versonnener Melancholie in der Mitte.

Deutlich andere, ja nahezu mulmige Töne schlägt der Anfang des zweiten Buches an. Tatsächlich fühlt man sich wie am Ende von Schuberts Winterreise, sobald der Conte mysterieux, sprich der unheimliche Graf erklingt, zumal die gedämpften Geigen und das in der Begleitung reduzierte Klavier deutlich an den Leiermann erinnern. Doch Juon wäre nicht er, wenn auch nicht dieser Satz eine für seinen Stil charakteristische Abwechslung beinhaltete. Lichter wird der Satz, lebendiger die Klavierbegleitung – um dann wieder in die gedämpfte Stimmung des Beginns zurückzufallen. Dabei ging es Juon offensichtlich nicht um bloße Schauerromantik, vielmehr huldigte er wie so viele seiner Kollegen seinerzeit alten Formen und Tänzen, wie die Musette miniature, Danse ancienne beweist. Spätestens hier kommt die Stärke des Trios Sosnowski-Hartmann-Nuss zum Tragen: eine ernste, aber unbeschwerte und neugierige Herangehensweise an jeden einzelnen Satz. Klingt der Conte zwar deutlich düster, aber nicht zu schwer, so überzeugt aufgrund dieser Fähigkeiten zur Differenzierung nicht weniger die Musette, die sich leicht und semibarock, aber nicht oberflächlich anhört. Die Parallele zu Grieg und dessen Huldigung an Holberg ist unüberhörbar. Daraufhin ist es der Schlusssatz, der die Musiker vor besondere inhaltliche Herausforderungen stellt: Nach einem wuchtigen und fast etwas zu groben Klavierbasssolo zu Beginn der Obstination entspinnt sich eine bloße Kontrapunktik, die bezeichnenderweise auf einem Basso ostinato, dem Motto dieses Finales, basiert. Die Bewertung dieses Kontrastes fällt nicht leicht angesichts der vorhergehenden Charakterstücke: Paul Juon beweist spätestens hier, viel mehr als ein bloßer Unterhaltungsmusiker zu sein, da er all seinen spieltechnischen und innermusikalischen Anspruch gerade auf diesen Schluss der ersten Silhouettes-Serie konzentriert. Gleichzeitig hat es den Anschein, als gerate er damit an seine Grenzen, da die Obstination in ihrem heterogenen Aufbau etwas überladen wirkt, was auch die klangfreudige und souveräne Aufführung nicht ganz vergessen machen kann.

Dessen ungeachtet kann man dieser wie der darauffolgenden zweiten Serie (drittes Buch) entnehmen, dass Juon seine Ziele beharrlich verfolgte und sich weiterentwickelte. Erfreulich ist beim eröffnenden Prélude, wie der Anspruch nach mehr Komplexität sich mit gekonnter Knappheit verbindet. Der Komponist, der hier seiner Verehrung sowohl für Tschaikowsky als auch für Brahms Ausdruck verleiht, zeigt außerdem gerade in dieser Eröffnung – wie könnte es anders sein! – eine Nähe zu J. S. Bach, ohne dabei je epigonal zu klingen. Ruppige Geigenkaskaden und eine herbere Harmonik sprechen ihre eigene Sprache.

Aber wie so oft ist Juon mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten in Personalunion für Überraschungen gut. Auf das Prélude, dem man eine gewisse Neigung zum Handwerk anhört, folgt als deutlicher Kontrast ein Chant d´amour. Mittlerweile haben die Silhouettes sich jedoch von ihrem schlicht-schönen Anstrich als romantische Charakterstücke entfernt – der Chant d´Amour erinnert mit seiner weithin verschachtelten Harmonik gleichermaßen an Szymanowskis Kammermusik und Alban Bergs frühe Lieder. Demgemäß erklingt hier kein zartes Ständchen, vielmehr gestalten Leidenschaft, der die Musiker freien Lauf lassen, und Dramatik im Wesentlichen die Liebesszene, die dennoch versöhnlich verklingt.

Anstatt darauf einen wohlfeilen Kehraus folgen zu lassen, bricht Juon mit seinen eigenen Konventionen und erweitert die zweite Serie nun um ein vielfaches, da er aus dem nächsten Satz gleich drei macht: Ein kurzes erstes Intermezzo klimpert in den Geigen und dem Klavier vorbei. Als wolle er mit den Hörern seinen Spaß treiben, schiebt Juon eine kurze Walzerepisode ein, die so rasch verklingt, wie sie daherkam. Sosnowski, Hartmann und Nuss finden selbst in diesem Epigramm den Ausgleich, indem sie weder sich noch das Stück zu wichtig nehmen, aber auch nicht in lieblose Routine verfallen. Im zweiten, gesanglichen Intermezzo Tranquillo erklingt zunächst ein Lied ganz im Stile des Wiegenliedes Opus 49/4 von Brahms, nur um langsam umzuschlagen und sich zu einem Tanz mit Bordun aufzuschwingen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb kürzester Zeit und offenbart, wie viel der Komponist auf kleinsten Raum zum Ausdruck bringen konnte.

Ähnlich gestaltet, aber deutlich russischer erklingt das dritte Intermezzo. Reizvoll ist hier vor allem die Stimmgleichberechtigung der zwei Violinen neben dem Klavier, mit der diese kurzen Stimmungsbilder abschließen. Deutlich erklingt nun die Melancolie, deren Intimität auf motivischen Kombinationen und konzentriertem Ausdruck beruht. Ein gelösterer Mittelteil in H-Dur verläuft sich in Seufzern der ersten Violine und fällt wieder zurück in die unbeantwortete Frage des Anfangs. Wie um den nun fälligen Bogen zum Anfang zu spannen, beschließt diese zweite Serie ein Danse grotesque. Wieder ist es die Neigung zum Makabren und Ausgelassenen am Ende eines Zyklus, die Juon hier sehr beherrscht hervorkehrt.

So bilden allein die Silhouetten einen Kosmos, der Paul Juon als sehr begabten Komponisten, als Russen und Weltbürger zugleich vorstellt. Mit den anschließend dargebotenen Sieben kleinen Tondichtungen op. 81 gelangt seine sehr ausgewogene Tonsprache zu größeren Dimensionen, wie sich dies schon im ersten Gedicht, der Pastorale, offenbart. Erscheinen die Silhoutten noch wie spielerische Experimentierfelder, so findet Juon hier zu einer abgeklärten und formal ausgereiften Sprache, welche die Eröffnung schon als Einzelwerk gelten lassen könnte. Auch das darauffolgende Intermezzo hat im Vergleich zu seinen Silhouetten-Geschwistern deutlich an Eigenständigkeit gewonnen. Wie man den fünf restlichen Nummern entnehmen kann, ist der Komponist seinem Prinzip, eingängige Charakterstücke mit gemischten kompositorischen Stilen zu schmücken, ohne dabei nachahmend zu wirken, insgesamt treu geblieben. Dies beweisen das ausgelassene Impromptu, das abermals an Grieg, diesmal dessen norwegische Springtänze, erinnert, die Barcarole, in welcher die Jahreszeiten von Tschaikowsky anklingen, sowie das spritzige Capriccietto, das zwischendrin mit ruhigen Tönen besticht. Originell, ja von archaischer Erhabenheit ist das vorletzte Tongedicht, die Ciaconna. Ätherisch schlängelt sich deren Soggetto durch die Geigen, dann durch das harfenartige Klavier, nur um sich zu temperamentvoller Entfaltung aufzuschwingen. Wie schon im Prélude der Silhouetten belässt es Juon auch hier nicht bei bloßer Handwerksübung, sondern entwickelt die Chaconne im kurzen, aber nicht allzu knappen Rahmen eigenständig weiter und schafft Kontraste, indem er sie im brachen d-Moll verklingen lässt. Dafür beschert er uns dann einen heiteren Schluss der Tondichtungsgruppe in Form der Burletta, welche ein letztes Mal seine Vorliebe für brillante Kehraus-Stücke unter Beweis stellt.

Als Fazit für dieses Potpourri voller Überraschungen gilt durchaus, was der Präsident der Internationalen Juon-Gesellschaft, Ueli Falett, im Booklet der vorliegenden Erscheinung schreibt: Es kommt dem Komponisten vor allem auf Ausdrucks- und weniger auf Formalmusik an. Obgleich Juon, wie man bei genauem Hinhören erfährt, auch der Form die Chance zur Entfaltung gibt, reduziert er sie im Großen und Ganzen auf einen soliden, meist dreiteiligen Rahmen und widmet sich ganz seiner vielfältigen Klangsinnlichkeit. Herausgekommen ist eine CD, die zur Entdeckung eines völlig zu Unrecht vergessenen, konservativen Meisters der Zeit des Umbruchs zur Moderne einlädt und jeden Hörer ohne musikideologische Vorurteile ansprechen sollte.

 [Peter Fröhlich, August 2015]

Genie und Wahnsinn

Triton TRI331195, ISBN: 3 760229 161957

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Olivier Greif spielt live auf zwei CDs zwei seiner letzten Werke für Klavier Solo, „Les Plaisirs de Chérence“ und „Portraits et apparitions“. Zudem gibt er zu letzterem eine französischsprachige Einführung.

Zu kaum einem Komponisten und Pianisten zugleich passt die an sich viel zu häufig verwendete Phrase von „Genie und Wahnsinn“ so trefflich wie zu Olivier Greif. Der Stil des zu früh verstorbenen Musikers ist vollkommen frei von jeglichem Denken in Schubladen oder Schulen und absolut unverkennbar eigentümlich. Seine Inspirationen holt er sich aus der gesamten Musikgeschichte, auch jenseits geographischer Begrenzungen, neben Chorälen und Namen wie Beethoven oder Schumann finden sich auch Anleihen aus dem HipHop oder von Lou Reeds „Take a walk on the wild side“. Jedes seiner Werke ist dabei höchst komplex und vielschichtig, Greif beherrscht die kontrapunktische Überlagerung verschiedenster Motive und Rhythmen in überwältigender Weise und nutzt dabei die Möglichkeiten des Klaviers bis ins Letzte und auch ins Abgelegenste aus. Nicht selten sind seine Kompositionen auf mehr als zwei Systemen notiert und nutzen parallel sämtliche Register der Klaviatur vollständig aus. Harmonisch ist das Schaffen Greifs schier unergründbar, in voller Akkordik durchbricht er die Grenzen des tonalen Denkens und schafft sich somit vollkommen unergründete Klangsphären. Trotz dessen bleibt seine Basis das Denken in Grunddreiklängen, die jedoch durch Aufspaltung in große Lagen und Hinzunahme greller Dissonanzen verfremdet und in der Kombination neuartig erscheinen. Die Wiedererkennbarkeit der einzelnen Sätze liegt vor allem an der prägnanten Rhythmik, die diese als roter Faden durchzieht und zusammen mit wiederkehrenden Motiven trotz aller Fremdartigkeit der Musik im Gedächtnis bleiben. Als zentrales Erkennungsmerkmal der Musik Greifs ist jedoch noch zu nennen die geballte, explosive Gewalt, die jedem seiner großen Werke innewohnt und durch extreme Dynamik und wie erwähnt dissonant verschärfte Harmonik in weitgespreizten Lagen deutlich zum Ausdruck kommt. Die resultierende Wirkung ist phänomenal, die Musik hämmert sich sprichwörtlich in den Kopf der Zuhörer ein – wie hier auch sehr schön mit dem Albumcover eines jungen, erstarrten Kopfes mit vielfarbiger Schädeldecke – ein Bezug auf „Mein junges Leben hat ein End‘ – Portrait de l’artiste en jeune crâne“ –, dargestellt.

Beim Hören wird augenblicklich der Eindruck erweckt, Greifs Musik sei nur auf ihn selbst zugeschnitten und kein anderer könne es nur ansatzweise so spielen. Mit größter Passion und innerer Ergriffenheit passt er sich jedem Stückcharakter exakt an und bleibt doch immer er selbst – stetig in mitreißender Obsession, bei der sich kein Zuhörer unangesprochen fühlen kann. Sehr gewaltig und bewusst gewalttätig knallen die Akkorde in die Tastatur und er tobt über die Klaviatur, als wäre es ein Schlachtfeld; und plötzlich, ganz unvermittelt, bricht es ab und er scheint nur mehr zu flüstern, wenngleich mit unverminderter Intensität und Empfindung. Auch scheint es, als habe er die Stücke besser im Kopf, als sie je auf dem Notenblatt niedergeschrieben sein können. Vielmals fügt Greif neue Dynamikabstufungen und unvermittelte Akzente ein, wie sie so überhaupt nicht im Notentext zu finden sind. Auch mit dem Tempo agiert Greif vielerorts frei, doch immer in einem den Zusammenhang gewährleistenden Maße. Es ist wahrlich erstaunlich, wie exakt er all diese höchstkomplexen und unglaublich wilden Werke live darbietet. Jede einzelne Stimme ist einzeln ausgestaltet und gar die einzelnen Akkordtöne perfekt ausgewogen und aufeinander abgestimmt. Die Fehlerquote ist in Anbetracht dessen weniger als marginal, und auch wenn vielleicht einmal ein kaum vernehmliches Stocken auftreten sollte, so lässt einen die schwindelerregende Intensität, strahlende Kraft und alles überwindende Musikalität gar nicht dazu kommen, dessen gewahr zu werden. So gerät der Hörer immer wieder ins Staunen, wie mitreißend und effektgeladen doch ein derart scharfkantiger und heftiger Anschlag sein kann.

„Les Plaisirs de Chérence“ nannte Olivier Greif seine 1997 komponierte 22. Klaviersonate, die an sich eher eine fünfsätzige Suite denn eine Sonate ist, jedoch wie fast jeder Klavierzyklus seiner letzten Schaffensphase als Sonate betitelt ist. Die Sonate erhielt die Opuszahl 319, was den gewaltigen Werkumfang Greifs schauernd erahnen lässt. Wie fast immer betitelte Greif jeden seiner Sätze in individueller Weise, hier lauten sie: „Hallali de Gommecourt“, „Tombeau de Monsieur de Clachaloze“, „Égarements de La Roche-Guyon“, „Fantômes d’Haunte-Isle“ und „Le Carillon de Chérence“. Sehr eingängig ist vor allem der erste Satz durch seine pointierte Melodik, die durch stetig wechselnde Situationen den Satz durchzieht. Ziemlich amüsant ist die Grundidee des dritten Satzes, der den Rhythmus inklusive entsprechender Melodik von Lou Reeds „Take a Walk on the Wild Side“ als Grundmuster verwendet und freitonal ausarbeitet sowie kontrapunktisch mit fremden Motiven kombiniert. Die Aufnahme Greifs von 1998 zeigt ihn in gewohnt unergründlicher Stärke, Brillanz und packender Emotionalität.

Nach der Sonate befindet sich auf der ersten CD noch eine Präsentation über die ersten neun der „Portraits et apparitions“ vom Datum der Uraufführung am 31. Mai 1999. Bedauerlicherweise ist es für jemanden mit nicht überragenden Französischkenntnissen nur sehr schwer zu verstehen, und es liegt keine Übersetzung oder auch nur Zusammenfassung bei. Die Einführung ist sehr humorvoll gestaltet und Greif erzählt unter anderem über die Entstehungsgeschichte, darüber, dass er zuerst ein Stück für die Mutter und den Dackel einer Familie schrieb und dann beschloss, eine ganze Reihe von elf Stücken zu komponieren, welche ganz leicht sein sollen – was ihm allerdings nicht gelingt, und wo er sogar den Eindruck hat, dass, wenn er es spielt, der Komponist den Pianisten verflucht.

Diesen Eindruck erhält man sogar dann, wenn man es bloß anhört. Der über 60-minütige Zyklus aus elf Stücken ist durchzogen von technischen Höchstleistungen und maximalen strukturellen Schwierigkeiten, wobei die Musik immer unmittelbar ergreift und von unausweichlicher Ausrichtung bestimmt ist. Greif selber hat es vor seinem Tod drei Mal aufgenommen, wobei hier die letzte dieser Aufnahmen zu hören ist, wie der Booklettext von Brigitte François-Sappey erläutert. Die erste war die der Uraufführung, mit der zweiten war er nicht zufrieden, und die dritte und hier dokumentierte ist diejenige, die auch ihn selbst am meisten verzauberte – obgleich es nur zufällig von einem Freund mit nichtprofessioneller Ausrüstung spontan aufgenommen wurde, Flügel und Akustik suboptimal und gelegentliche Hintergrundgeräusche bemerkbar sind. Greif nannte den Zyklus den Höhepunkt seines Schaffens, auf welchen alle seine Werke zusteuerten. Was vorliegt, ist eine bunte Mischung aus verschieden langen Stücken, von denen bis auf das kürzeste Mittelstück „I mon waxe mod (Jouir: les larmes du corps)“ jedes einem seiner Freunde gewidmet ist. Immer wieder werden Werke der klassischen Literatur aufgegriffen, Choräle wie „Allein Gott in der Höh'“ und „Wir glauben all‘ an einen Gott“ werden Namen wie Beethoven, Schumann, Britten und Kurtág gegenübergestellt. Gerade die beiden Choräle verbindet Olivier Greif mit modernster Musik, und zwar HipHop und Rap. Den 63-minütigen Klaviermarathon meistert der Komponist in atemberaubender Genauigkeit und sowohl technischer als auch musikalischer Perfektion in höchstem Maße. Am Ende bleibt wohl keiner unberührt von der einmaligen, sowohl genialen als auch wahnsinnigen Musik von Olivier Greif.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Ein musikalisches Panorama von den Hängen des Ararat

Farao Classics B 108086, ISBN: 4 025438 080864

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An der Violine begibt sich Rebekka Hartmann zusammen mit der Pianistin Margarita Oganesjan auf eine Entdeckungstour rund um den Ararat mit Werken von Ahmed Adnan Saygun, Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Eine Gegenüberstellung von türkischer und armenischer Musik erscheint gewagt, wenn man die Vorgeschichte dieser beiden Länder in Augenschein nimmt. Doch über alle politischen Abgründe hinweg betrachten Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan Komponisten beider Länder von einem geographisch zentralen und scheinbar unberührten Standpunkt, dem Ararat. Von hier aus können die beiden jungen Musikerinnen den türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun auf zwei CDs Seite an Seite stellen mit den Armeniern Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Beide Solistinnen profilieren sich in dieser Einspielung als herausragende Interpreten. Rebekka Hartmann kann ihrer frühen Stradivari aus dem Jahre 1675 eine phänomenale Bandbreite an verschiedensten Farbnuancen entlocken, die sich geschmeidig den jeweiligen musikalischen Situationen anpassen. Ihr Klang ist klar, feingliedrig und brillant, er kann sich mühelos an alle volksmusikalischen Momente anschmiegen, nur um plötzlich davon abzureißen und ganz ungehörte und faszinierende Wege zu beschreiten. Erwähnenswert ist vor allem auch Rebekka Hartmanns geschickter Umgang mit Vibrato, welches bis ins kleinste Details überdacht und zudem äußerst sparsam eingesetzt wird, so dass es immer einen Zweck erfüllt anstatt wie heute gewohnt jeden lang gehaltenen Ton in etwas Ungewisses aufzuweichen. An den Tasten steht ihr mit Margarita Oganesjan ein würdiger Widerpart zur Seite. Die Pianistin hat einen recht robusten und voluminösen Ton inne, der mit großem Nachdruck gesetzt ist. Selten wirkt es ein wenig hart und gleichförmig an manchen Stellen, bei denen eine etwas einfühlsamere und gebundenere Gestaltung wünschenswert wäre anstelle eines ein wenig uniformen Staccatos und Portatos, doch kommen die Stücke Margarita Oganesjan merklich entgegen, so dass diese gelegentliche Unausgewogenheit nicht wirklich ins Gewicht fällt – sogar sehr reizvoll macht die Werkauswahl den kräftigen Tonfall der gebürtigen Armenierin. Wahrlich zaubern kann Oganesjan bei der intelligent erfassten Ausgestaltung von Strukturen und Zusammenhängen, wodurch sie jeden noch so komplexen Satz gut verständlich darbietet. Bei allem Verständnis für das verbindende Element vernachlässigt sie auch zu keiner Zeit die pointierten Feinheiten, welche sie einfühlsam und treffend herausarbeitet. Bewundernswert ist das Zusammenwirken der beiden Musikerinnen, das deutlich spüren lässt, wie lange und intensiv Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan bereits zusammen spielen, dass ihre gemeinsame Arbeit eben nicht alleine auf diese Einspielung beschränkt ist. Durchgehend lässt sich eine perfekte Synchronizität der Darstellung feststellen, die Stimmen sind so exakt aufeinander abgehört, dass sie dynamisch und artikulatorisch genau abgestimmt erklingen. Es gibt einen unbeschreiblichen Effekt bei einem langen Decrescendo, wenn tatsächlich alle Stimmen im selben Maße abnehmen und scheinbar das gleiche Empfinden haben, so als wären sie unzertrennbar verbunden. Margarita Oganesjan versteht es neben der Rolle der gleichberechtigten Stimme auch, an entsprechenden Passagen in den Untergrund abzutauchen und eine gut ausgestaltete Begleitung für die improvisatorisch anmutenden Violinkantilenen abzugeben – diese Kunst sollte definitiv weiter verbreitet sein.

Eine wirklich große Entdeckung auf der vorliegenden Doppel-CD ist der Türke Ahmed Adnan Saygun, der gleich mit zwei Werken vertreten ist. Der d’Indy-Student war einer der wichtigsten Sammler türkischer Volksmusik und Gestalter einer modernen türkischen Kunstmusik, die einen Weg findet zwischen westlichen Vorbildern und regionaler Couleur. Sehr interessant ist beispielsweise seine erste Symphonie Op. 29 für kleines Orchester, die eine Synthese zwischen westlichen Formidealen und eindeutig türkischer Klanglichkeit bietet. Diese Eigenschaften weisen auch die beiden einzigen Werke Sayguns für Violine und Klavier auf, die Suite Op. 33 und die Sonate Op. 20. Streng pentatonische Themen und additive Rhythmen verschmelzen in klassischen Formmodellen und freitonal avancierter Harmonik, und resultieren in einer einmaligen Stilfusion. Davon abgesehen lässt sich auch Sayguns aktive Tätigkeit als Musikethnologe in seiner Musik entdecken, so erklingt – vor allem in der Suite Op. 33 deutlich – mal ein fast irisch anmutendes Thema, mal eine deutlich asiatisch angehauchte Melodie, doch immer derart, dass es rückbezüglich auf die türkische Volksmusik ist. In all diesen differenzierten nationalen und internationalen grazilen Komponenten findet sich Rebekka Hartmann, in deren Part sich die meisten dieser Elemente befinden, bestens zurecht und kann sie stets wachsam ins rechte Licht rücken. Margarita Oganesjan beeindruckt hier durch die abgestufte Ausarbeitung eines trockenen Klangs, der so nachvollziehbar ein östliches Lebensgefühl verbreitet und einen spannenden, divergierenden Gegenpart zu der melancholisch schwebenden Violine bildet. Sie beweist ein unbestechliches Einfühlungsvermögen für diese Musik und beherrscht sowohl das Herausmeißeln der mehr als ungewohnten Tongebilde als auch selbst die beziehungsreich komplexe Strukturanlage der Sonate mühelos und mit großer Natürlichkeit. Anders als die kommenden anderen Texte ist die schlicht gehaltene Einführung des türkischen Komponisten Hasan Uçarsu zu Ahmed Adnan Saygun durchaus informativ und steckt tief in der Materie der türkischen Folklore, die sich so vielgestaltig in den Werken des Komponisten spiegelt (die vier Sätze der Suite sind gar verschiedenen Regionen der Türkei gewidmet, deren Volksmusik sie entweder direkt zitieren oder ununterscheidbar vom Original imitieren).

Ebenfalls eine Musik, die unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient und eine intensive Auseinandersetzung damit wert ist, ist die von Arno Babadschanjan, dessen Violinsonate aus dem Jahre 1959 mit 28 Minuten das großformatigste Werk dieser Einspielung ist. Das effektgeladene Werk verbindet hohe Komplexität mit eingängigen Melodien, wobei insbesondere der dritte Satz, in welchem die apotheotisch für den Widmungsträger Dmitri Schostakowitsch stehende Symbolphrase heraushörbar ist, mit spürbarer Prägnanz im Ohr bleibt. Trotz dessen wird der Hörer immer wieder überrascht von plötzlichen neuen Einfällen, die einen unerwartet überrollen und die gesamte Struktur aufbrechen. Die schlagartigen Wechsel werden von beiden Musikerinnen mit überwältigender Genauigkeit ausgeführt, sofort fühlen sie sich wohl in jedem neuen Terrain, ohne dass ein noch so geringer Nachhall von Vorherigem vernehmbar wäre. In dieser Sonate demonstriert Magarita Oganesjan mancherorts auch einmal ihre weiche und lyrische Seite – umso intensiver wirkt es, wenn sie dann wieder mehr Härte dominiert.

Beschlossen wird die Einspielung von einem Werk, das ein Jahr vor der Sonate Babadschanjans entstand, der Rhapsodie für Violine und Klavier von Edward Baghdassarian, der auch Margarita Oganesjan als kleines Mädchen in Komposition unterrichtete. Nach den vorangehenden Geniestreichen fällt die Rhapsodie kompositorisch etwas ab. So schöne Momente sie auch haben mag, so weist sie auch etliche musikalisch flache und voraussehbare Passagen auf, wenngleich letztlich auch hier das Zauberhafte überwiegt. Nichts desto Trotz ist es ein besonderer Tribut an den ehemaligen Lehrer von Margarita Oganesjan und verdient somit durchaus einen Platz auf dieser mehr als empfehlenswerten musikalischen, exemplarischen Rundreise durch die Gebiete rund um den Ararat.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Ein Anschlag, der aufhorchen lässt

Alpha CD 203, Outhere Music, ISBN: 3 760014 192036

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Anna Vinnitskaya ist Solistin in den Klavierkonzerten von Dmitri Schostakowitsch, zusammen mit der Kremerata Baltica. Im ersten Konzert wird sie flankiert vom Solotrompeter Tobias Willner und im zweiten sekundiert von den Bläsern der Staatskapelle Dresden sowie dem Dirigenten Omer Meir Wellber. Gemeinsam mit Ivan Rudin folgen das Concertino Op. 94 sowie die Tarantella für zwei Klaviere.

Das vierte Album der jungen Pianistin Anna Vinnitskaya ist vollständig der Musik von Dmitri Schostakowitsch gewidmet, die den pianistischen Werdegang der Russin von Anfang an prägte. Die beiden mit großem Abstand voneinander komponierten Klavierkonzerte sowie zwei Werke für zwei Klaviere bilden das mit unter 50 Minuten recht knappe, dabei durchaus prägnante Programm. Gerade bei den Klavierkonzerten liegen die Ansprüche an eine Aufnahme extrem hoch, spielte doch schließlich der Komponist beide vortrefflich selber ein. So findet sich vom Konzert Op. 35 eine Aufnahme unter Samuil Samosud mit dem Moscow Philharmonic Orchestra und dem Trompeter Josif Volovnik, sowie vom F-Dur-Konzert Op. 102 mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter Leitung des belgisch-deutschen Dirigenten André Cluytens. Diese genannten Platten sind absolut maßstabsetzend, kein Wunsch bleibt offen bei dem harten, präzisen und vor allem kernigen Anschlag Schostakowitschs, der es genau versteht, einen fülligen und vielschichtigen Klang zu erzeugen frei von jeder unnötigen Gewalt und Versteifung, und der jenes unablässige Precipitando-Grundgefühl erzeugt, ohne tatsächlich davonzueilen. Natürlich gilt es nicht, dieses absolut einmalige und unverwechselbare Spiel des Komponisten blind nachzuahmen, doch sollte es einen gewissen Anhaltspunkt geben im Bezug auf den Charakter, die Klanglichkeit der Klavierstimme sowie auf die stimmige Zusammenarbeit mit dem Orchester.

Eben diese Faktoren berücksichtigt Anna Vinnitskaya bei ihrem Spiel, das als höchste Grundprinzipien Klarheit, Präzision und Durchhörbarkeit zu haben scheint. Dennoch findet sie ihren eigenen Stil, nimmt den Konzerten somit an Härte und lässt stattdessen mancherorts einen leichten romantisch angehauchten Schleier über die Melodielinien sinken. Die Kremerata Baltica und die Bläser der Staatskapelle Dresden passen sich der Solistin an und lassen sogar in engen tiefen Lagen jede einzelne Stimme heraushören, was in zahlreichen anderen Interpretationen in ein undurchsichtiges Gebräu abgleitet. Besonders erstaunlich ist das gute Zusammenspiel beim ersten Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, welches die Solistin vom Klavier aus dirigiert, was üblicherweise zu weit größeren Auffassungsdifferenzen und Asynchronitäten führt, hier jedoch eine detailgetreu abgestimmte Ausgestaltung des Orchestersatzes nicht verhindert.

So gut das Konzept ihres ausgefeilten Anschlags auch aufgehen mag, so fällt im Vergleich zu den Aufnahmen des Komponisten selbst doch teilweise auf, dass der oft eher weiche und vornehmlich zurückhaltende Tastendruck manche Kulminationen verharmlost und bei Weitem friedlicher, gezähmter dastehen lässt. Auch geht ihr die Fülligkeit des Schostakowitsch’schen Anschlags ab, weshalb passagenweise ein recht dünner Klang entsteht, was allerdings auch zum anpassungsfähigen und somit ebenso Zurückhaltung übenden Orchester passt. Diese Feingliedrigkeit und sanfte Präzision birgt jedoch auch zweifelsfrei einen ganz eigenen Charme und eröffnet neue Räume zur Entfaltung. Und dass sie auch harte Klänge mit nur geringem Maß an Gewaltanwendung beherrscht, beweist Anna Vinnitskaya mehr als einmal, vor allem im vierten Satz des ersten Konzerts. Ein wenig scheint ihr in diesem Satz dennoch der Witz zu fehlen, der der Musik eigentlich so spürbar innewohnt, da hier die Lockerheit im Rausch der Perfektion auf der Strecke bleibt. Der Stil bleibt dabei jedoch durchgehend konstant und so verliert das Konzert nicht den großen Bogen, der alle vier Sätze des Op. 35 zusammenschweißt und ein einheitliches, aus einem einzigen Guss entstehendes Ganzes sich entfalten lässt.

Tobias Willner an der Solotrompete erweist sich als sehr vielseitig und klangfarbenreich, etliche Nuancen kann er seinem Instrument entlocken. Auch er dämpft meist lieber etwas ab, als allzu extrovertiert herauszuspielen, weiß dafür auch die dunklen Klangspektren auszukosten. Auch Omer Meir Wellber als Dirigent im zweiten Klavierkonzert stellt sich als eine vortreffliche Wahl heraus, sehr auf die energetische Spannung fixiert arbeitet er kleinste Orchestermelodien vielgesichtig heraus und schafft eine deckende Fülle, die den Bezug zum Klavier zu keiner Zeit verliert. Bei solch einem Zusammenspiel ist besonders der Eröffnungssatz des Konzerts Op. 102 von farbenprächtiger Differenziertheit und auch der berühmt gewordene Mittelsatz hebt sich deutlich durch das Wahrnehmbarmachen aller Einzelstimmen in dieser Aufnahme ab. Lediglich der Finalsatz erscheint ein wenig eintönig im Vergleich zu dem Rest, was bei den gleichförmig durchgehenden Sechzehntelläufen und den stetig wiederkehrenden Motiven auch schwerlich zu vermeiden ist und fast nur von Schostakowitsch selbst wirklich überzeugend gelöst wurde. Durch ausgeklügelte ausgefeiltes Spiel lenkt Vinnitskaya allerdings die Aufmerksamkeit recht erfolgreich von diesem nicht allzu erheblichen Mangel ab.

Es folgen noch zwei Werke für zwei Klaviere, die Anna Vinnitskaya zusammen mit Ivan Rudin darbietet. Es handelt sich um das häufig in Kombination mit den Klavierkonzerten eingespielte Concertino Op. 94 sowie die fast nie zu hörende Tarantella, die Schostakowitschs letztes Klavierwerk sein sollte. Über beide Werke lassen sich verschiedene Sekundärquellen nur wenig aus, und auch der kurze, aber informative und konzentrierte Bookletttext von Tobias Niederschlag kann außer den Interpreten der ersten Aufführung des Conertinos (Maxim Schostakowitsch, Sohn des Komponisten, und seine Mitschülerin Alla Maloletkowa) keine nennenswerten Informationen bieten. Ebenso wenig allerdings auch die lesenswerte Monographie von Krzysztof Meyer. Beide Werke gehören nicht zu den herausragenden Schöpfungen Schostakowitschs, doch rundet gerade die kurze und virtuose Tarantella die CD gelungen ab, als wäre sie die Zugabe nach einem Konzert. Die beiden Pianisten können sich auch gut aufeinander einstellen und ihr Spiel wirkt zu keiner Zeit stilistisch divergierend. In perfekter Synchronizität sind sie bestens aufeinander eingespielt. Wie auch in den Konzerten findet der Hörer bei weitem weniger Härte als in anderen historischen Aufnahmen wie jenen des Komponisten und auch ein geringeres Maß an Trockenheit, doch gewöhnt man sich schnell an diesen etwas weicher gezeichneten Anschlag, mit dem beide Pianisten trefflich zusammenwirken.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Maßlose Freiheit

Atma Classique ACD2 2696, ISBN: 7 22056 26962 9

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Die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska mit einer Auswahl der Lyrischen Stücke von Edvard Grieg.

Nach zahlreichen CD-Erscheinungen mit Werken von Chopin, Liszt, Mozart und Schubert wendet sich die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska nun dem hohen Norden zu. Einige wohlvertraute Klänge sind zu hören auf ihrem neuen Album, das komplett den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg gewidmet ist und eine bunte Auswahl aus allen zehn Heften dieser berühmten Miniaturensammlung bietet. Von den bekannten Stücken sind etliche wiederzufinden, doch auch ein paar der eher vernachlässigten Klavierminiaturen wie Salong (Salon) oder Bådnlåt (An der Wiege) sind in der Einspielung enthalten.

Der äußere Schein des sehr düster und geheimnisvoll anmutenden Covers trügt, die gewählten Stücke sind im Großen und Ganzen eher die freundlichen und helleren, doch wirkt das Erscheinungsbild dennoch äußerst ansprechend. Dieses allerdings nun doch eher zum Leidwesen der Hörer, die bei schlechtem Licht die Titelauswahl auf der Rückseite in schwarzer Schrift auf dunklem Untergrund tendenziell nur schwerlich zu lesen vermögen. Der Booklettext ist oberflächlich und gibt lediglich stichpunktartig Auskunft über das gewaltige Schaffensspektrum, welches in dem mehr als dreistündigen Zyklus ausgebreitet ist. Wer sich ein wenig intensiver mit den 66 Miniaturen beschäftigen will, dem sei als Einführung der Beitrag „Nordisch gehört: das Lyrische. Zum Charakteristikum schlechthin in Edvard Griegs Klavierschaffen“ von Joachim Dorfmüller empfohlen, der 2005 im von Ulrich Tadday herausgegebenen Band „Musik-Konzepte 127. Edvard Grieg“ erschienen ist.

Janina Fialkowskas Spiel erweist sich als klangfarbenreich und im positiven Sinne naiv, was wohl die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Aufführung von Edvard Griegs Musik darstellt. Die Musik muss ganz natürlich und möglichst wenig künstlich wirken, fast eingebungshaft improvisatorisch und aus vollem Herzen echtes Gefühl verströmend. Diese Art des unmittelbaren Ausdrucks kann Fialkowska vielerorts verströmen, nur manches wirkt zu übertrieben und lässt die Unverfälschtheit kurzzeitig bröckeln.

An die Angaben im Notentext hält sich die Pianistin kaum, gerade im Bereich der Dynamik interpretiert Janina Fialkowska nach ihrem eigenen Gutdünken, so ist oft genug ein Piano in gleicher Dynamikstufe wie ein Forte – oder gar lauter – zu hören und Akzente werden passagenweise vollständig vergessen. Dies ist sehr bedauerlich, wenn man bedenkt, wie groß das Lautstärkenspektrum Janina Fialkowskas ist, das von aufbrausendem Donnern frei von jedem gefühllosen Schlagen bis hin zum dezentesten Hauchen reicht, doch bei zahlreichen Gelegenheiten bei Weitem nicht voll ausgeschöpft wird. Ebenfalls fragwürdig frei agiert Fialkowska mit dem Tempo: Nicht nur, dass manche Tempoangaben alles andere als ernst genommen werden und interne Tempowechsel viel zu extrem kontrastierend verstanden sind, sondern auch in den Melodielinien selber spielt die Pianistin ungehalten mit der Geschwindigkeit. Phrasenenden werden gerne um ein bis zwei Schläge länger und spontane kurze Notenwerte brechen sofort haltlos abrupt nach vorne aus. Betrachtet man die historischen Aufnahmen von Edvard Grieg, der einige Stücke selbst einspielte (unter anderem den hier auch vorliegenden Fommerfugl/Schmetterling), so sticht natürlich umgehend ins Auge, dass auch er das freie Rubato präferierte, doch sollte bei modernen Aufnahmen wenigstens eine gewisse Zügelung weg von den willkürlichen Erscheinungen erkennbar sein – in dem Sinne, dass das Rubato nicht von der Takteinteilung bestimmt ist, sondern sich sinnfällig wie von selbst aus der energetischen Aufladung der Linie ergibt. Die Kombination der Dynamik- und Tempofreiheiten geht hier zudem nicht selten auf Kosten der Gesanglichkeit der Melodie, die durchaus mehr als einmal ins Stocken gerät oder von unvermittelten Akzenten aus anderen Stimmen unterminiert wird. Besonders deutlich sind beide Aspekte direkt im zweiten Stück der CD, der Folkevise (Volksweise), einem an den Springdans (Springtanz) angelehnten Volkstanz im 3/4-Takt. Dieser gerät hier vollkommen untanzbar, denn schon im ersten Takt zieht das Tempo direkt an, nur um gegen Phrasenende wieder abzubremsen. Der zweite Abschnitt im Mezzoforte ist von dem Pianoteil eigentlich überhaupt nicht zu unterscheiden, bei der Wiederholung ist gar das Mezzoforte leiser als das Piano. Auch ist etwa das einleitende Allegretto in Aften på höyfjellet (Abend im Hochgebirge) keineswegs schneller als das folgende Andante espressivo.

Jedoch sind nicht alle Stücke gleichermaßen von solchen kontraproduktiven Elementen durchzogen, an vielen Passagen eröffnen sich auch sehr reine und magisch anmutende Momente. Gerade die schnelleren Miniaturen erhalten ein wahres Rauschen in absoluter Lockerheit und Präzision, wie beispielsweise im Bekken (Bächlein) oder im Småtroll (Kobold) feinsinnig und nachdrücklich unter Beweis gestellt.

Manchen Aspekt meistert Fialkowska auch mit komplett unterschiedlichen Ergebnissen wie den imitierenden Umgang mit Unterstimmen, denn während sie im Kanon noch rein auf die Oberstimme fixiert ist und die gleichwertige Partnerstimme ziemlich untergeordnet darstellt, ist bei Gade ein lebendiges Wechselspiel der beiden oft kanonisch laufenden Stimmen zu hören. Im berühmten Trolltog (Zug der Trolle) kann sie sich gar überhaupt nicht zwischen den beiden Alternativen entscheiden, spielt die akzentuierten Oktaven in der linken Hand als eigenständige Linie und die folgenden ebenso zu akzentuierenden Einzeltöne der Motivwiederholung lässt sie eher untergehen.

Der Rahmen des gesamten Zyklus’, bestehend aus Arietta und Efterklang (Nachklänge), denen ein und dieselbe Melodie zugrunde liegt, zerfällt bedauerlicherweise ein wenig, weil die Verwandtschaft zu sehr im Verborgenen bleibt und die Gemeinsamkeit der Stücke zugunsten der Unterschiedlichkeit vom 2/4- zum 3/4-Takt verloren geht.

Darstellerische Höhepunkte der CD sind neben dem oft als Herzstück der Lyrischen Stücke angesehenen Bryllupsdag på Troldhaugen (Hochzeitstag auf Troldhaugen) auch For dine fötter (Zu deinen Füßen) mit seiner vielgesichtigen Darstellung der simplen Melodie, Sylfide (Sylphe) mit luftig hellem und durchsichtigem Ton, Det var engang (Es war einmal) durch die starken Kontraste sowie das folgende Stück Sommeraften (Sommerabend).

Das vielseitige Können von Janina Fialkowska ist keineswegs in Frage zu stellen, ganz leicht aus der Hand geschüttelt wirken die schwierigsten der Lyrischen Stücke mit dennoch erstaunlicher Ausgestaltung. Lediglich zu wünschen wäre, sie würde es mit der interpretatorischen Freiheit gelegentlich nicht allzu sehr übertreiben und mehr den Notentext beachten – die vorgeschriebenen Feinheiten hat der selbstkritische Edvard Grieg sicherlich nicht aus Versehen so in den Notentext hineingeschrieben.

[Oliver Fraenzke, Juli 2015]