Archiv für den Monat: Juli 2015

Sternstunde für Foulds und Maceratini

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Ottavia Maria Maceratini

In mehrfacher Hinsicht ein Ereignis besonderen Ranges war das Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin in der Reihe ‚DeutschlandRadio Debüt’ am 24. Februar. Unter Leitung des einstigen Concertgebouw-Schlagzeugers und Abbado-Assistenten Gustavo Gimeno, der im Herbst die Leitung des Philharmonischen Orchesters Luxemburg übernehmen wird, spielten nicht nur zwei junge Solisten erstmals in der Philharmonie, es erklangen auch gleich drei unbekannte Werke, darunter – 86 Jahre nach der Vollendung – das Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’ von John Foulds in deutscher Erstaufführung.
Den Auftakt bildete die so kurze wie turbulent richtungslos tobende Ouvertüre zur Oper ‚The Tempest’ von Thomas Adès, der in diesem fünfminütigen Stück nun doch ziemlich enttäuschte, wenn man bedenkt, welches Potenzial er in einigen anderen Werken längst bewiesen hat. ‚Viel Lärm um nichts’, vielleicht noch am ehesten als „gut gemacht“ zu rechtfertigen, aber auch dazu angetan, für das Folgende zu desensibilieren. Zum Schluss erklang Prokofieffs geniale ‚Symphonie classique’, die auch nach einem knappen Jahrhundert kein Körnchen Staub angesetzt hat, bei der allerdings auch zu beobachten war, dass mehr Proben auch für ein delikates Standardwerk kein Fehler wären, und dass einige überflüssige Showgesten eines jungen Dirigenten nichts zum besseren Verständnis beitragen.
Nach der Pause erklang jedoch zunächst Mieczyslaw Weinbergs aus schwermütig jiddischer Volkstümlichkeit erwachsendes und zum Ende zyklisch dieses Beginnen wieder aufgreifendes Cellokonzert op. 43 von 1948. Weinbergs Musik scheint sich seit der durch die Bregenzer Aufführung seiner Oper ‚Die Passagierin’ schnell angelaufenen Entdeckung tatsächlich nachhaltig in unseren Konzertsälen zu etablieren, was sicher sowohl mit der Aufarbeitung der Geschichte der Judenverfolgung als auch mit der ungeheuren Popularität seines Freundes Dmitrij Schostakowitsch zu tun hat, der Weinberg nach seiner Flucht von Polen in die Sowjetunion nach allen Möglichkeiten vor staatlichem Zugriff, ja letzten Endes sogar vor der Deportation nach Sibirien schützte. Weinbergs Musik ist in weiten Strecken eng mit jener Schostakowitschs verwandt, aber doch stets stark, vital und interessant genug, um nicht als epigonal abgetan zu werden. Allerdings verdienten auch andere Komponisten der ehemaligen Sowjetunion wie die Ukrainer Liatoschinsky und Stankovich, die Russen Tishchenko oder Slonimsky ähnliche Ehren, wäre Weinbergs Entdeckung tatsächlich mit dem Gedanken historischer Gerechtigkeit verbunden. Weinbergs Stil spricht im Hörer unmittelbar das Vertraute an, in der Faktur, in der einfachen Ausdrucksgeladenheit der Linie, die je nach Darstellung eher sentimental, karg und nüchtern oder auch wirklich weitausschwingend daherkommen kann. In seinem Cellokonzert hat Weinberg eine kleine Orchesterbesetzung mit 3 Flöten, 3 Klarinetten, 4 Hörnern, 2 Trompeten, Bassposaune, Pauken und Streichern gewählt, was Betonung der tiefen, weichen Farben und weitestgehende Durchhörbarkeit zugunsten des Solisten zur Folge hat, aber auch in den rhythmisch markanteren, wilderen Passagen des Scherzos und auch Finales eine echt charakteristische Zuspitzung nur dann erlaubt, wenn die Trompeten im Einsatz sind. Solist Valentin Radutiu spielte mit Hingabe und Intensität. Wer seine grandiose Aufnahme der Cellosonaten von Enescu kennt und ihn von daher für den führenden Cellisten der jungen Generation hält, durfte aber auch etwas ernüchtert sein, denn so einfühlsam und innig er einerseits gestaltete, so nivellierend wirkte auf seinen Ausdruck das fortwährende Vibrato mit fast durchgehend zu weiter Amplitude und insbesondere in den hohen Lagen intonationstrübenden Auswirkungen. Hier spielt ohne jeden Zweifel ein hochbegabter Künstler, der die Musik im Blut hat und auch intellektuell und intuitiv vieles treffsicher erfasst, doch sei ihm geraten, diesen Makel umgehend zu korrigieren und kontinuierliche Bewusstheit über das Vibrato zu entwickeln, auf dass sich keine unnötigen mechanischen Elemente dauerhaft  in sein Spiel einschleichen. Als Zugabe spielte er Casals’ ‚Gesang der Vögel’ und setzte damit die elegische Kantilene des Cellokonzerts sinnfällig fort.
Höhepunkt des Konzert war vor der Pause die deutsche Première des 1929 in Paris vollendeten Klavierkonzerts ‚Dynamic Triptych’ von John Foulds (1880-1939) durch Ottavia Maria Maceratini. Natürlich ist es bei der mächtigen Klangentfaltung der Tutti des großen Orchesters eine extreme Herausforderung für den Solisten, sich stellenweise überhaupt noch Gehör zu verschaffen. Doch wäre es zuvorderst Aufgabe des Dirigenten, die Blechbläser insoweit im Zaum zu halten, dass das Klavier sich behaupten kann. Vielleicht waren es dafür auch zu wenige Proben, doch steht außer Zweifel, dass Gimeno, selbst sehr angeregt, im Fortissimo eher noch zu mehr animierte. Seine Gestik ist zwar exakt, doch atmet er nicht, und auch sein Gespür für die harmonischen Wirkungen und Richtungen ist noch sehr entwicklungsbedürftig, wodurch sich in allen Stücken des Abends eine gewisse Gleichförmigkeit des Ausdrucks ergab. Ottavia Maria Maceratini erwies sich in den brillant bewegten Ecksätzen des unerhört genialen Konzerts von Foulds, das tatsächlich auf einer Höhe mit den später entstandenen Konzerten von Ravel steht, und auch mit Bartók und Prokofieff, als meisterhaft gelassen groovende Naturbegabung von imponierender Kraft, lebendiger Präzision und explosiver Freude. Gleichwohl war auch ihr Spiel gerade im ersten Satz nicht völlig frei von automatischen Betonungen. Der langsame Satz, ein zeitloses Juwel der neueren Klavierliteratur, geriet insgesamt zu flüchtig und unruhig, um seine ganze Magie zu entfalten, hinterließ jedoch ungeachtet dessen einen überwältigenden Eindruck. Am großartigsten freilich war Maceratinis Spiel in der Zugabe, einem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, den sie mit sorgfältigster Vollendung zusammenhängender Gestaltung und so innig erfühlter und raffiniert zelebrierter wie unsentimental empfundener Tongebung zu einem Moment der Ewigkeit im Hier und Jetzt werden ließ. Möge sie noch mehr vertrauen auf die Magie dessen, was ihr zur Verfügung steht, und ohne einen Anflug von Eile oder Unsicherheit den Hörer mitnehmen, mit dem Mut zum vollendeten Nonkonformismus. Nach diesem Auftritt hoffen wir, künftig mehr von John Foulds zu hören, und erwarten höchste Qualität von der jungen italienischen Pianistin, die sich ohne jegliche Mätzchen dem Dienst an der zeitlosen Sache hingeben kann.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, 2015]

Divergierende Werke des 21. Jahrhunderts

Das Streichquartett der Akademie St. Blasius debütiert am 9. Juni 2015 mit Werken von Anders Eliasson, Christian Gamper und Thomas Larcher in der Reihe „Musik im Studio“ des ORF in Innsbruck.

„Die Akademie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, aufgeschlossene Zuhörer einzuladen, sich auf die Suche nach Neuem zu begeben.“ Dieser Satz aus dem Programmhefttext gilt exemplarisch für den Konzertabend am 09. Juni im Studio 3 des ORF in Innsbruck. Auf dem Programm stehen drei zeitgenössische Komponisten mit Werken für Streichtrio und -quartett, wie man sie viel zu selten zu hören bekommt. Den Beginn macht das Trio d’Archi mit dem Untertitel Ahnungen des 2013 verstorbenen Anders Eliasson aus dem Jahre 2012, nach der Pause erklingt erstmals das erste Streichquartett in fis-Moll des 1971 geborenen Tirolers Christian Gamper und schließlich wird der Abend von Thomas Larchers IXXU für letztere Besetzung abgerundet. Die Interpreten sind das erstmals sich öffentlich präsentierende Streichquartett der Akademie St. Blasius, bestehend aus Monika Grabowska, Anja Schaller, Andreas Ticozzi und Barbara Riccabona.

Das wahrlich hürdenreiche Programm meistern die Musiker mit Bravour, sie behalten auch in den zerklüftetsten Passagen Durchsichtigkeit und Glanz. Besonders hervorgehoben sei Anja Schaller an der zweiten Violine, die durch ihre Fähigkeit des Zuhörens und Anpassens an ihre Kollegen als ideale Kammermusikerin erscheint. Sie ist es, die als energetisches Zentrum des Quartetts fungiert und die Kräfte der Musiker unaufdringlich, quasi aus dem Hintergrund, zu lenken und bündeln vermag, was dem geschlossenen Ausdruck sehr zu Gute kommt. Das gilt gerade auch hinsichtlich der Balance in den beiden Streichquartetten, die wesentlich stimmiger ist als im Trio, wo Anja Schaller nicht mitwirkt. Insgesamt gesehen haben wir es hier auch mit drei weiteren exzellenten Künstlern zu tun: Monika Grabowska ist eine äußerst präzise und dominante Konzertmeisterin mit strahlendem Klang, Andreas Ticozzi ein eher zurückhaltender und lauschender Bratschist mit feinsinnigem Spiel, und Barbara Riccabona gibt am Violoncello eine exzellente Klangbasis, auf die das ganze Geflecht der Stimmen sich gut stützen und aufbauen kann.

Gleich zwei große Kenner und Freunde von Anders Eliasson sind im Auditorium vertreten, und einer von ihnen, Dr. Peter Kislinger, gibt sogar in einer kompakten Einführung bisher unveröffentlichte Informationen rund um das zu hörende Trio preis. Besser als in jeglicher Lektüre darstellbar spricht er über die Namensfindung und die Reaktionen des schwerkranken Komponisten auf sein letztes Werk, welches er einen Monat vor seinem Ableben noch in digitaler Form zu hören bekam. Durchzogen von höchster Komplexität im Bereich der Rhythmik, Harmonik und auch der Melodik ist das dem Trio ZilliacusPerssonRaitinen gewidmete Werk eine extreme Herausforderung für alle Beteiligten, da sie zu keiner Zeit den polyphonen Kontext in diesem einheitlichen und nur sporadisch in drei satzähnliche Tempozonen geteilten Trio aus dem Bewusstsein verlieren dürfen. Nebst all dem sind auch die ständig im Wandel befindlichen Motive zu beachten, die das gesamte Werk über 520 Takte durchziehen. Alles befindet sich im Fluss – oder, wie Eliasson sagte, alle wahre Musik sei wie H2O –, ständig fortgehend und sich entwickelnd ohne einen Moment der Stagnation oder der leeren Mechanik. Auch im Hinblick auf seine eigene musikalische Entwicklung trifft diese Aussage zu, denn obgleich sich in diesem letzten Werk des Schweden einige für seine Musik typische Elemente sowie der ihm ganz eigene und unverwechselbare Streicherklang finden, hat es doch eine ganz eigene Prägung, und er selbst meinte dazu: „Da ist mir doch noch ‚was ganz Neues eingefallen!“ Bei den Musikern ist eine erstaunlich gute Auseinandersetzung mit diesem beziehungsreichen Streichtrio bemerkbar, die Stimmen sind gut aufeinander eingespielt und finden sich stets zurecht in der rhythmischen Vielgliedrigkeit, die nuancenreich ausgespielt wird. Lediglich einmal, kurz vor Ende des zweiten Satzes bröckelt das Zusammenspielt aufgrund eines Zögerns der Violine, wodurch das Pulsieren für einen Moment unklar wird, doch schnell findet man wieder zusammen. Ein wenig zu leise und zurückhaltend erklingt die Bratsche und droht immer wieder hinter den beiden Außenstimmen zu verschwinden, was sich allerdings in den beiden folgenden Quartetten nicht wiederholt. Bedauerlich ist, dass das Trio nach dem ersten Satz eine zu lange Pause einlegt und die Instrumente absetzt, anstatt die Spannung über die Fermatepause zu halten und das Werk in energetischer Gesamtheit erstehen zu lassen.

Nach der Pause erklingt die Uraufführung des 1. Streichquartetts von Christian Gamper, das auf das „Tumpfer Klasele“, frei übersetzt stumpfsinniges Kläuschen, Bezug nimmt – einen zur Bauernlegende gewordenen Einwohner des Heimatortes des Komponisten. In diesem Werk besteht zwischen den Sätzen absolut kein musikalischer Zusammenhang. Wie auch das Quartett an sich ist der erste Satz betitelt, der den Klasele auf avancierte Weise unter Vermeidung von übermäßig vielen Tönen darzustellen versucht. „Schworz aufgwondlt“ heißt der zweite Satz, in welchem der Klasele als Pastor bei einer Hostienverwandlung schwarz sah. Doch anstelle eines dramatischen Bogens hin zu einem Finale erfährt der Zuhörer lediglich durchgehendes Gequietsche und andere dissonante Geräusche ohne jede Art der Spannungsentwicklung, wodurch dieser Satz eindeutig zum Tiefpunkt des Abends wird. Ein unerwarteter Wechsel ereignet sich im dritten Satz, erstmals sind wirklich Harmonie und Melodie erkennbar sowie die vorgezeichnete Grundtonart annähernderweise vorhanden – es geht hier um einen seltsam vorgeführten „Landler“ des tumpfen Klasele. Sogar von Gamper selbst als stärksten Satz eingestuft zeigt sich das Finale „Pfiat enk“ als größte Inspiration dieses Quartetts und schafft durch Aufgreifen des bisher eher verfremdet wirkenden Volksliedthemas in authentischerer Form auch einen gewissen Zusammenhang über die stilistischen Differenzen hinweg. Dieser Satz illustriert am spürbarsten den Ideenreichtum des Tiroler Komponisten, der sich ab dem Landler deutlich entfalten kann. Trotz des ungleichen musikalischen Gehalts bleibt das Streichquartett der Akademie St. Blasius durchgehend konzentriert und mitreißend bei der Sache und es gelingt ihm, auch den gesichtsloseren Sätzen klanglichen Reiz abzugewinnen, was ihm gerade aus Sicht des Komponisten sehr hoch angerechnet werden dürfte. Allerdings setzen auch hier die Musiker zwischen den einzelnen Abschnitten der Sätze wieder teilweise irritierend lange ab, so dass der erste Satz gar wie zweigeteilt erscheint, was für die Zuhörer erst bei Beginn des Landlers bemerkbar wird.

Zum Schluss erklingt von einem der bekannteren zeitgenössischen Komponisten, Thomas Larcher, IXXU für Streichquartett. In prägnanter Formung zeigt der Komponist eine dichte und konzentrierte Technik, im Gegensatz zu Gamper fast vollständig unter Verzicht auf äußerliche Effekte. Das 2005 uraufgeführte Werk verfolgt durch seine dreisätzige Form (flüchtig, nervös – sehr schnell, präzise – ruhig) eine klare Linie von rasenden Polyphoniegebilden hin zu träumerischen Sphären. Gerade letztere strömen eine unglaubliche Magie aus und verzaubern mit einem fantastischen Farbenspektrum. Die schnelleren Passagen demonstrieren hohes technisches Können und Ausdrucksgehalt, auch wenn sie im Vergleich zu den losgelösten ruhigen Phasen noch ein wenig „gemacht“ wirken und nicht diese Freiheit und Weite verströmen. Wie zuvor brillieren die Streicher in diesem sehr anspruchsvollen Stück und werden sowohl den unruhigen als auch den sanften und magischen Momenten mehr als gerecht.

Es ist wahrlich erstaunlich, was die Stimmführer der Akademie St. Blasius, obwohl nicht einmal erstes Orchester der Stadt, hier zustande bringen, vor allem in Anbetracht dessen, dass dies ihr erster öffentlicher Auftritt als Kammermusikformation ist. Das Konzert ist von einem hervorragenden Niveau, wie man es von wesentlich bekannteren Institutionen für zeitgenössische Musik aus bedeutend größeren Metropolen auch nicht überzeugender erwarten kann.

[Oliver Fraenzke, Juni 2015]